Das politische System der Zweiten Republik Österreich war durch einen ausgeprägten Parteienstaat und einen ebenso ausgeprägten Verbändestaat gekennzeichnet. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen jedoch, daß die Wählerschaft zunehmend auf Distanz zu den Parteien, und vor allem zu den Großparteien, geht. Hinzu kommt eine wachsende Infragestellung sowohl der Kammern als auch der Gewerkschaften, die sich in wachsender Kritik an der Pflichtmitgliedschaft in den Kammern und in abnehmenden Mitgliederzahlen der Gewerkschaften zeigt. Diese Beobachtungen werden gestützt durch eine Entflechtung des Parlaments von den Verbänden. Ursache dieser Entwicklung ist die Auflösung der traditionellen politisch-weltanschaulichen Lager und der sie konstituierenden sozialen Milieus. Durch dieses Aufbrechen verlieren Parteien-und Verbändestaat ihre gesellschaftlichen Grundlagen. Dies bedeutet, daß Österreich „verwestlicht“ -seine politische Kultur und sein politisches System gleichen sich dem Durchschnitt westeuropäischer Demokratien an.
Das sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildende politische System Österreichs war durch extreme Parteienstaatlichkeit und ebenso extreme Verbändestaatlichkeit gekennzeichnet. Diese beiden Merkmale unterschieden bisher Österreich signifikant von anderen westlichen Demokratien Europas. Sie machten das spezifisch Österreichische aus, das dieses Land und seine politische Struktur von anderen Staaten unterschied.
Parteienstaatlichkeit: Die Republik Österreich war 1918 (Ausrufung der Republik) bzw. 1920 (Verabschiedung der immer noch gültigen Bundesverfassung) eine Gründung der Parteien. Dies wiederholte sich 1945: Die Parteien riefen die Unabhängigkeit Österreichs aus und entschieden über die grundlegenden Regeln des politischen Entscheidungsprozesses
Abbildung 5
Tabelle 5: Mitgliederentwicklung des ÖGB Quellen: Wirtschafts-und sozialstatistisches Taschenbuch 1991, hrsg. vom österreichischen Arbeiterkammertag; Tätigkeitsbericht des ÖGB 1991; Ferdinand Karlhofer, unveröffentlichtes Forschungspapier, erstellt im Rahmen des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck; eigene Berechnungen.
Tabelle 5: Mitgliederentwicklung des ÖGB Quellen: Wirtschafts-und sozialstatistisches Taschenbuch 1991, hrsg. vom österreichischen Arbeiterkammertag; Tätigkeitsbericht des ÖGB 1991; Ferdinand Karlhofer, unveröffentlichtes Forschungspapier, erstellt im Rahmen des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck; eigene Berechnungen.
Verbändestaatlichkeit: Ab 1945 entwickelte sich -neben den Verfassungsorganen (Parlament, Bundesregierung, Bundespräsident) -ein gewichtiges zweites Entscheidungszentrum, die Sozialpartnerschaft. Ihre Träger waren stark zentralistisch strukturierte Wirtschaftsverbände, die nahezu das gesamte gesellschaftliche (insbesondere wirtschaftliche) Leben Österreichs erfaßten
Abbildung 6
Tabelle 6: Haupt-und nebenamtliche Funktionäre wirtschaftlicher Verbände im österreichischen Nationalrat Quelle: F. Karlhofer (vgl. Tabelle 5).
Tabelle 6: Haupt-und nebenamtliche Funktionäre wirtschaftlicher Verbände im österreichischen Nationalrat Quelle: F. Karlhofer (vgl. Tabelle 5).
Diese für das Verständnis Österreichs wichtigen Merkmale verlieren zunehmend an Bedeutung; in den letzten Jahren ist der Stellenwert der Parteien-staatlichkeit ebenso rückläufig wie der Stellenwert der Verbändestaatlichkeit. Dies bedeutet einen Verlust an österreichischer Besonderheit -und gleichzeitig eine Anpassung an die in anderen westeuropäischen Demokratien vorherrschenden Standards.
II. Parteienstaat
Abbildung 1
Tabelle 1: Stimmenanteile der Großparteien (in Prozent) Quelle: Erstellt nach offiziellen Angaben.
Tabelle 1: Stimmenanteile der Großparteien (in Prozent) Quelle: Erstellt nach offiziellen Angaben.
In Österreich sind die Parteien älter als der Staat. Sowohl die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) als auch die Österreichische Volkspartei (ÖVP) sowie die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) stehen in der direkten Nachfolge von Parteien, die sich vor mehr als hundert Jahren unter den Rahmenbedingungen der österreichischen Reichshälfte der Habsburger Monarchie etablieren und entwickeln konnten. Unter diesen Rahmenbedingungen, zu denen insbesondere eine (nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts) fehlende Nationalstaatlichkeit gehörte, kam den Parteien vor 1914 die Funktion eines Heimatersatzes zu: Politische Loyalitäten entwickelten sich in Österreich vorwiegend im Rahmen der drei politisch-weltanschaulichen „Lager“ d. h., statt eines auf den Staat bezogenen Patriotismus entstanden feste Bindungen an die Lager: -das sozialistische Lager, fest mit der Arbeiterbewegung verbunden und an einem marxistischen Gesellschaftsverständnis (Austromarxismus)
Abbildung 7
Tabelle 7: Motive für die Wahl Klestils (in Prozent der Klestil-Wähler; Mehrfachnennungen möglich) Quelle: Fritz Plasser, Unveröffentlichtes Forschungspapier. Plasserstützt sich aufeinen „exit poll", durchgeführt von Dr. Fessel + GFK, N = 2000.
Tabelle 7: Motive für die Wahl Klestils (in Prozent der Klestil-Wähler; Mehrfachnennungen möglich) Quelle: Fritz Plasser, Unveröffentlichtes Forschungspapier. Plasserstützt sich aufeinen „exit poll", durchgeführt von Dr. Fessel + GFK, N = 2000.
orientiert;
-das christlich-konservative Lager, eng mit der Katholischen Kirche verflochten und einem Politischen Katholizismus verpflichtet;
-das deutschnationale Lager, auf eine enge Verbindung Österreichs mit Deutschland hin ausgerichtet.
Die besonderen, auf der Lagerbindung aufbauenden Loyalitäten überdauerten Bürgerkrieg und autoritären Ständestaat, nationalsozialistische Diktatur und Zweiten Weltkrieg. 1945 freilich war das deutschnationale Lager durch den Nationalsozialismus diskreditiert, und die Zweite Republik war Parteienstaat im Sinne eines von ÖVP und SPÖ bestimmten Staats-und Politikverständnisses. Die historisch verständlichen Loyalitäten bewirk-ten eine im europäischen Vergleich extreme politische Organisationsdichte -nahezu ein Drittel der österreichischen Wählerinnen und Wähler gehörte einer der beiden Großparteien an.
Die ausgeprägte Parteienstaatlichkeit begünstigte zunächst ganz eindeutig ÖVP und SPÖ, die bis 1966 in Form einer Großen Koalition gemeinsam regierten. Doch auch in der Phase der Alleinregierungen (ÖVP: 1966-1970; SPÖ: 1970-1983) setzte sich zunächst der Trend zugunsten der Großparteien fort. Erst in den achtziger Jahren kam es zu einer zunächst langsamen, dann raschen gegenteiligen Entwicklung Die Großparteien, die noch 1975 über 93 Prozent der gültigen Stimmen erhalten hatten, konnten bei der Nationalratswahl 1990 kaum noch 75 Prozent auf sich vereinen (vgl. Tabelle 1).
Hinzu kam der Rückgang der -ursprünglich ungewöhnlich hohen -Wahlbeteiligung, die zwar noch immer über dem europäischen Durchschnitt liegt, aber nicht mehr als Extremwert aufzufassen ist (vgl. Tabelle 2).
Nutznießer dieser Entwicklung sind einerseits die FPÖ, die -obwohl ebenfalls für eines der traditionellen Lager stehend -aus dem ursprünglichen Nachteil der mangelnden Einbindung in den Parteienstaat nun einen Vorteil zu ziehen versteht, und andererseits die Grünen, die 1986 erstmals in den Nationalrat einziehen konnten (vgl. Tabelle 3). i Diese Entwicklung muß vor dem Hintergrund der Erneuerung der Großen Koalition gesehen werden. Nach einem relativ kurzen Zwischenspiel einer SPÖ-FPÖ-Koalition etablierte sich nach der Nationalratswahl 1986 abermals das Regierungsbündnis zwischen SPÖ und ÖVP. Wuchsen jedoch während der Zeit der ersten Koalition, 1945 (zunächst, bis 1947, noch unter Einschluß der kleinen KPÖ), die Wähleranteile der Großparteien an, mußte die erneuerte Große Koalition nun das Gegenteil erfahren: Die Große Koalition nützt der Opposition, nicht (mehr) der Regierung.
Diese von den Großparteien wegführende Entwicklung machte sich auch bei den Mitgliederzahlen bemerkbar. Sie sind bei SPÖ und ÖVP rückläufig -ohne daß die entsprechenden Zahlen der FPÖ entscheidend im Steigen begriffen wären (vgl. Tabelle 4).
Es wird deutlich, daß die jüngsten Entwicklungen im österreichischen Parteiensystem nicht nur eine Umschichtung innerhalb des bestehenden Systems sind, sondern einen grundsätzlichen Wandel darstellen. Die Wahlbeteiligung geht zurück, und ebenso geht die Zahl derer zurück, die Mitglied einer Partei werden wollen. Diese Entwicklungen sind somit ein „dealignment" (Auflösung von Parteibindungen) und nicht ein „realignment" (Neuformierung von Parteibindungen) : Das traditionelle Parteiensystem verliert seine typischen Merkmale, ohne daß ein neues, ähnlich klar strukturiertes Parteiensystem erkennbar wäre. Die Wählerinnen und Wähler wenden sich von Parteien generell ab -sie orientieren sich nicht einfach von einer Partei zu einer anderen um.
Die abnehmende Bindungskraft des Parteiensystems geht Hand in Hand mit einer abnehmenden Kontrollfähigkeit der Parteien gegenüber Staat und Gesellschaft. Die österreichische Parteien-staatlichkeit war u. a. dadurch gekennzeichnet, daß die in allen westlichen Demokratien existierende „Schleusenwärter-Funktion“ der Parteien extrem ausgeprägt war. In Österreich entschieden die Parteien nach 1945 nicht nur -entsprechend einer westlichen Normalität -über die Zusammen-Setzung der Parlamente und Regierungen. Sie kontrollierten darüber hinaus die Zugänge zu entscheidenden Positionen im Wirtschafts-und Bildungssystem.
Im Wirtschaftssystem kam den Parteien (d. h. ÖVP und SPÖ) zugute, daß aus historischen Gründen weite Teile der österreichischen Wirtschaft durch die beiden Verstaatlichungsgesetze 1946 und 1947 direkt oder indirekt in das Eigentum der Republik übertragen wurden Die wichtigsten der größeren Industriebetriebe und der größeren Banken waren (und sind) auf diese Weise direkt oder indirekt verstaatlicht.
Durch diese wechselseitige Durchdringung von Staat und Wirtschaft etablierten die Großparteien feste Proporzregeln für die Besetzung der Vorstandsetagen dieser Staatswirtschaft. Vergleichbares gilt für den Bereich des Schulwesens: ÖVP und SPÖ regelten und regeln, gestützt auf entsprechende Schulgesetze aus dem Jahre 1962, die Karrieren im gesamten Schulbereich
Diese wechselseitige Durchdringung von Staat (d. h. Parteien) und Gesellschaft (vor allem Wirtschaft und Bildung) widerspricht immer stärker der öffentlichen Befindlichkeit. Das nahm auch die Große Koalition zur Kenntnis: In den beiden Arbeitsübereinkommen, die SPÖ und ÖVP jeweils nach den Nationalratswahlen von 1986 und 1990 unterzeichneten, verpflichteten sich die Regierungsparteien zur Verminderung des Parteieneinflusses insbesondere im Bereich der Wirtschaft Deutlichster Ausdruck dieses Trends ist, daß SPÖ und ÖVP sich auf eine weitgehende Privatisierung der verstaatlichten Wirtschaft festgelegt haben.
III. Verbändestaat
Abbildung 2
Tabelle 2: Wahlbeteiligung (in Prozent) Quelle: Erstellt nach offiziellen Angaben.
Tabelle 2: Wahlbeteiligung (in Prozent) Quelle: Erstellt nach offiziellen Angaben.
Der österreichische Verbändestaat baut auf folgenden Wirtschaftsverbänden auf: -Kammern: In einer ganz spezifisch österreichischen Weise sind nahezu alle berufstätigen Menschen in Österreich (wichtigste Ausnahme: öffentlich Bedienstete) in eine Kammerorganisation mit Pflichtmitgliedschaft eingebunden. Für den Verbändestaat kommt dabei den Kammern für Arbeiter und Angestellte (bundesweite Dachorganisation: Bundesarbeiterkammer), den Handelskammern (bundesweite Dachorganisation: Bundeswirtschaftskammer) und den Landwirtschaftskammern (bundesweite Dachorganisation: Präsidentenkonferenz) besondere Bedeutung zu. -österreichischer Gewerkschaftsbund (ÖGB): Dieser besitzt -abermals eine europäische Einmaligkeit -ein faktisches Monopol; es gibt keine Gewerkschaft außerhalb des ÖGB. Überdies ist der ÖGB ungewöhnlich zentralistisch strukturiert, das Entscheidungsübergewicht des Gewerkschaftsbundes über die 14 ihm angehörenden Einzelgewerkschaften ist stark ausgeprägt.
Der ÖGB wurde von den Parteien 1945 neu gegründet. Dadurch sollte eine überparteiliche, wenn auch mit den Parteien eng verbundene, zentralistische gewerkschaftliche Organisation geschaffen werden. Um gegenüber dem ÖGB ein Gegengewicht auf der Arbeitgeberseite zu schaffen, wurde 1946 die Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft (Bundeswirtschaftskammer) gegründet. Die Bundeswirtschaftskammer und der ÖGB sind die eigentlichen Träger des Verbände-staates.
Das Wesen des Verbändestaates ist die Übernahme von Entscheidungskompetenzen, die dadurch dem Parteienwettbewerb entzogen und von parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen unabhängig sind. Dazu bedienen sich die Verbände verschiedener, von ihnen mitgetragener und kontrollierter Einrichtungen -insbesondere der Paritätischen Kommission für Lohn-und Preisfragen
Die ausgeprägte Form des österreichischen Verbändestaates wurde in der Vergangenheit als Spitzenwert im europäischen Korporatismus bewertet Viele Merkmale der gesellschaftlichen Entwicklung Österreichs wurden auf diese Verbändestaatlichkeit zurückgeführt, z. B.der soziale Frieden, ausgedrückt in einer extrem geringen Streikhäufigkeit, und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, ausgedrückt in überdurchschnittlichen Wachstumsraten. Doch in den achtziger Jahren begann auch der Verbändestaat zu bröckeln, und zu Beginn der neunziger Jahre sieht sich der „Sozialpartnerschaft“ genannte Korporatismus österreichischer Prägung neuen Problemen ausgesetzt.
Dazu zählt die Hinterfragung des Kammersystems. Die dort praktizierte Pflichtmitgliedschaft widerspricht dem Zeitgeist. Insbesondere die FPÖ, aber auch die Grünen kritisieren, daß diese große Zahl von Menschen -ohne die Möglichkeit des Austrittes zu haben -in ein Kammersystem gesetzlich hineingezwungen wird Die Debatte über die Pflichtmitgliedschaft rührt an eine Voraussetzung der Sozialpartnerschaft: Wenn die Mitglieder insbesondere der drei großen Kammerorganisationen die Möglichkeit zum Austritt haben, werden die Spitzen der Verbände stärker bemüht sein müssen, sich den Bedürfnissen und Wünschen ihrer Mitglieder zu widmen. Dies aber würde ihre Kompromißfähigkeit gegenüber der jeweils „anderen“ sozialpartnerschaftlichen Seite beeinträchtigen.
Analogen Problemen ist der ÖGB ausgesetzt. Zwar hat er noch immer eine überdurchschnittliche Organisationsdichte, aber die Zahl der Mitglieder ist rückläufig (vgl. Tabelle 5).
Die schwindende Prägekraft des Verbändestaates zeigt sich auch in der Abnahme der Verbändefunk-tionäre im österreichischen Parlament (vgl. Tabelle 6). Typisch für die Zweite Republik war (und ist), daß ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz der Abgeordneten zum Nationalrat Funktionäre der großen Wirtschaftsverbände sind. Dies stellt eine unmittelbare Konsequenz der engen Verflechtung zwischen Parteien-und Verbändestaat dar. Die Verbände entsenden ihre Vertreter, auf dem Umweg über die mit ihnen verbundenen Parteien, direkt in das Parlament. Sie ersparen sich durch diesen „eingebauten“ Lobbyismus den für westliche Demokratien sonst üblichen Lobbyismus von außen.
Innerhalb weniger Jahre ging der Anteil der den Verbändestaat repräsentierenden Abgeordneten von 44 auf 34 Prozent zurück -ein ungewöhnlicher, sogar signifikanter Bedeutungsverlust. Dies entspricht (noch) nicht einem Bedeutungsverlust der Sozialpartnerschaft in der öffentlichen Wahrnehmung. Noch immer wird Sozialpartnerschaft in Österreich von einer großen Mehrheit der Bevölkerung positiv bewertet Daß allerdings die Vor-aussetzungen der Sozialpartnerschaft -etwa die Pflichtmitgliedschaft und die hohe Organisationsdichte des Gewerkschaftsbundes -zunehmend in Frage gestellt werden, muß sich langfristig auf die Sozialpartnerschaft und damit auf den Verbände-staat auswirken.
IV. Eine neue Logik
Abbildung 3
Tabelle 3: Ergebnisse der Nationalratswahlen 1986 und 1990 Quelle: Erstellt nach offiziellen Angaben.
Tabelle 3: Ergebnisse der Nationalratswahlen 1986 und 1990 Quelle: Erstellt nach offiziellen Angaben.
Die Entwicklung, die vom Parteienstaat und vom Verbändestaat wegführt, bringt in das politische System eine neue Logik. Bis in die achtziger Jahre war das politische System Österreichs vom Nebeneinander einer parlamentarischen und einer sozialpartnerschaftlichen Logik charakterisiert. Im Rahmen des Parlamentarismus agierten politische Parteien gegeneinander nach den Grundregeln der Konkurrenzdemokratie. Im Rahmen der Sozial-partnerschaft agierten wirtschaftliche Verbände miteinander nach dem Muster der Konkordanzdemokratie Diese beiden Logiken wurden durch die Verflechtung von Parteien und Verbänden verklammert: Die Großparteien waren, repräsentiert durch entsprechende Teil-und Vorfeldorganisationen, in den großen Kammern und im ÖGB vertreten; die Kammern und der ÖGB wiederum hatten, z. B. in Form von Repräsentanten im Parlament, ihre Vertreter in den Parteien.
Parteienstaat und Verbändestaat waren eins; die Wettbewerbslogik des Parlamentarismus und die Kooperationslogik der Sozialpartnerschaft ergänzten einander. Dadurch erhielt das politische System einerseits ein hohes Maß an Berechenbarkeit; Österreich galt als eines der am leichtesten regierbaren Systeme westlicher Demokratien. Andererseits wurde die demokratische Legitimation dieses so stabilen Systems nicht behindert, Wahlergebnisse mündeten zumindest indirekt in entsprechende Mehrheits-und Regierungsbildungen.
Der Abstieg des Parteien-wie auch des Verbände-staates muß zu einer Reduzierung dieser ungewöhnlichen Stabilität führen. Es sind diejenigen Parteien im Aufwind, die sich nicht mit der ausgeprägten Parteien-und Verbändestaatlichkeit identifizieren. FPÖ und Grüne sind im Verbändestaat nicht vertreten und können damit unabhängig von ihm agieren. Ihr handlungsleitendes Interesse ist nicht primär die kompromißhafte Abstimmung politischer Ziele, sondern die größtmögliche Resonanz politischen Agierens bei den Wählerinnen und Wählern.
Allein schon der Umstand, daß sich Parteien, die in das parteienstaatliche und verbändestaatliche System nicht oder kaum eingebunden sind, im politischen Aufwind befinden, muß die Stabilität des gesamten politischen Systems reduzieren. Wahlergebnisse werden offener, Mehrheitsbildungen im Parlament potentiell komplizierter. Der dadurch begünstigte Stil von Politik beruft sich auf den Direktkontakt mit der Wählerschaft -Parteien und erst recht Verbände als Transmissionsriemen scheinen damit immer weniger wichtig und tendenziell geradezu überflüssig zu werden.
Diese „populistische“ Logik hatte 1992 zwei konkrete Auswirkungen: -Im Mai 1992 wurde mit Thomas Klestil derjenige Kandidat in das (verfassungsrechtlich wichtige, verfassungspraktisch weniger wichtige)
Amt des Bundespräsidenten gewählt, der die größtmögliche Distanz zu den Parteien (einschließlich seiner Partei, der ÖVP) demonstriert hatte.
-Im Sommer 1992 beschloß der Nationalrat mit den Stimmen von FPÖ und ÖVP ein neues Wahlrecht, das -unter Wahrung der Grundsätze der Verhältniswahl -dem Ziel der „Personalisierung“
und damit der geringeren Partei-nähe der Parlamentarier verpflichtet ist
Bei der Wahl Klestils, die -entsprechend den Bestimmungen der Verfassungsnovelle von 1929 -direkt-demokratisch durchgeführt wurde, kam die Distanz zu den Parteien klar zum Ausdruck. Obwohl Klestil Mitglied der ÖVP und Kandidat dieser Partei war, erklärte ein Viertel seiner Wähler, sie hätten gewählt, „weil er über den Parteien steht“ (vgl. Tabelle?).
Der populistischen Logik entsprechend sind diejenigen Politiker und Parteien erfolgreich, die -zumindest optisch -auf größtmögliche Distanz zum Parteienstaat zu gehen in der Lage sind. Da aber die politische Rekrutierung, den Spielregeln westlicher Demokratien entsprechend, nach wie vor grundsätzlich über und durch die Parteien erfolgt, werden auf diese Weise die Parteien zu Selbstdistanzierung und Selbstverleugnung gezwungen. Diese populistische Logik ist die Folge eines gesellschaftlichen und eines politischen Wandels. Die gesellschaftliche Entwicklung hat in Österreich zum Aufbrechen der traditionellen sozialen Milieus geführt. Ein geschlossenes proletarisches Milieu existiert genausowenig wie ein geschlossenes bäuerliches Milieu; damit sind die Kembereiche sowohl des sozialistischen als auch des christlich-konservativen Lagers aufgelöst. Die Lager und damit die für Österreich bis vor kurzem so wesentliche, außergewöhnliche loyale Bindung an die Parteien haben sich erübrigt, sie sind überflüssig geworden.
Dieser soziale und politische Hintergrund führt dazu, daß die politischen Strukturen Österreichs sich tendenziell denen westeuropäischer Demokratien annähem. Dies entspricht auch der aktuellen außenpolitischen Orientierung: 1989 stellte Österreich als erstes der vier neutralen europäischen Länder den Antrag auf EG-Mitgliedschaft Damit hat die innenpolitische Tendenz zur Verwestlichung eine außenpolitische Entsprechung erfahren.
Dem entspricht auch eine wirtschaftspolitische „Verwestlichung“. Österreichs Wirtschaft, durch einen überdurchschnittlich hohen Anteil der verstaatlichten Industrie und der verstaatlichten Banken geprägt, ist in den achtziger Jahren zunehmend von marktwirtschaftlichen Tendenzen erfaßt worden. Die Regierung der Großen Koalition hat sich grundsätzlich zur Privatisierung der verstaatlichten Unternehmungen bekannt. Dadurch geht eine weitere Besonderheit Österreichs zurück -die besonders enge Verflechtung von Staat und Wirtschaft.
Dadurch erhält das Wirtschaftssystem zunehmend Impulse in Richtung auf mehr Wettbewerb. Dies ist nicht nur als eine Art Vorleistung in Richtung auf Integration in den europäischen Markt zu sehen, sondern auch als Parallele zur Verstärkung des politischen Wettbewerbs. Das Parteiensystem dekonzentriert sich -und ebenso das Wirtschaftssystem.
Die wirtschaftliche Entwicklung Österreichs verläuft grundsätzlich im Gleichklang mit der gesamten Entwicklung Westeuropas. Die wirtschaftlichen Eckdaten liegen auch zu Beginn der neunziger Jahre zumeist etwas über den Eckdaten der EG oder der europäischen OECD-Staaten. Die Zahlen für Arbeitslosigkeit (1991: 5, 8 Prozent), Inflation (3, 3 Prozent) und Wirtschaftswachstum (3, 0 Prozent) lassen die österreichische Wirtschaft in verhältnismäßig günstigem Licht erscheinen.
In seiner Studie zur politischen Kultur und zum politischen Wandel in Österreich formulierte Peter A. Ulram drei unterschiedliche Entwicklungsperspektiven des politischen Systems Die geringste Wahrscheinlichkeit kommt dabei der „traditionell österreichischen“ Perspektive zu, der Vorstellung, daß der Parteien-und der Verbändestaat durch noch engeres Zusammenrücken letztendlich die Erosionstendenzen stoppen und umkehren können. Viel wahrscheinlicher sind die beiden anderen Perspektiven, die „westeuropäische“ und die „italienische“ Perspektive. „Westeuropäisch“ heißt entflechten, Entflechtung von Staat und Gesellschaft, worauf z. B. die Privatisierungstendenzen der österreichischen Wirtschaft hindeuten. Entflechtung heißt auch Entflechtung von Staat und Parteien, in diese Richtung geht z. B. zumindest intentionell die Wahlrechtsreform. Entflechtung heißt ferner Entflechtung von Parteien und Verbänden; die Diskussion um die Pflichtmitgliedschaft bei den Kammern und die abnehmende Attraktivität des ÖGB weisen in diese Richtung.
Die „westeuropäische Perspektive“ bedeutet also höhere Autonomie für die verschiedenen Teilbereiche von Gesellschaft und Politik. Die „italienische Perspektive“ fügt diesem Szenario noch einen Aspekt hinzu: die Zersplitterung des Parteiensystems in Verbindung mit einer geradezu feindseligen politischen Apathie eines Großteils der Wählerschaft. Österreichs politische Kultur und Österreichs politisches System werden westeuropäischen Mustern immer ähnlicher. Die Zersplitterung des Parteien-systems wie auch der Abstieg des Parteien-und des Verbändestaates bedeuten zunächst nur, daß Österreich seine spezifischen Besonderheiten allmählich verliert. Dieser Verlust muß auch als Erfolg der politischen Kultur und des politischen Systems der Zweiten Republik gesehen werden. Der österreichische Parteienstaat und der österreichische Verbändestaat haben die Gesellschaft stabilisiert, das politische System arbeitsfähig gemacht und der Wirtschaft günstige Rahmenbedingungen verschafft.
Daß die für diesen Parteien-und diesen Verbände-staat wesentlichen Strukturen nunmehr als Über-steuerung,als zuviel an Politik und politischer Verflechtung empfunden werden entspricht dem Grundmuster der „Selbsteliminierung durch Erfolg“. Parteien-und Verbändestaat sind, zumindest in ihren Überfunktionen, überflüssig geworden -eben weil sie ihre historische Aufgabe erfüllt haben. Die Zweite Österreichische Republik hat sich durch besondere politische Mechanismen erfolgreich stabilisiert; nun kann vom Erfolgsrezept der politischen Übersteuerung abgegangen werden.
Anton Pelinka, Dr. jur., geb. 1941; o. Prof, für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Veröffentlichungen u. a.: Dynamische Demokratie. Zur konkreten Utopie gesellschaftlicher Gleichheit, Stuttgart 1974; Sozialdemokratie in Europa. Macht ohne Grundsätze oder Grundsätze ohne Macht?, Wien 1980; Modellfall Österreich? Möglichkeiten und Grenzen der Sozialpartnerschaft, Wien 1981; Zur österreichischen Identität. Zwischen deutscher Vereinigung und Mitteleuropa, Wien 1990.
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