Die Periode der Nachkriegszeit, in welcher die Schweiz wirtschaftliche Standort-und Wohlstandsvorteile, volle Souveränität und direkte Demokratie, geringe außenpolitische Bindungen und bewaffnete Neutralität zum „Sonderfall" zu verbinden vermochte, geht dem Ende entgegen. Europäische und welthandelspolitische Entwicklungen führen, als Druck von außen, zu erheblichen Kurs-und Positionswechseln schweizerischer Politik. Mit den andern EFTA-Staaten steht die Schweiz vor der Ratifizierung des EWR-Vertrages und vor Verhandlungen über einen späteren Beitritt zur EG. Diese innenpolitischen Schicksalsfragen sind stark umstritten. Volksabstimmungen werden entscheiden, ob der Kleinstaat längerfristig den Weg europäischer Integration oder des Alleingangs wählt. Eine Beschleunigung des politischen Entscheidungsrhythmus macht sich auch in anderen Bereichen bemerkbar. Die Liberalisierung schweizerischer Wirtschafts-und Wettbewerbspolitik, die Ausrichtung der Umwelt-, Verkehrs-und Energiepolitik auf europäische Dimensionen sind Anzeichen für Integrationsbemühungen der Schweiz auch vor und außerhalb der EWR-Frage. Fragen institutioneller Reform stehen auf der Agenda. Dazu gehören die Professionalisierung des Milizparlaments, die Überprüfung des Kollegialsystems der schweizerischen Regierung oder die Aufwertung der politischen Parteien. Innen-und außenpolitische Entwicklungen führen aber auch zu Grundsatzfragen des schweizerischen Regierungssystems, so der politischen Kompromißfindung durch Konkordanz, des Föderalismus und der direkten Demokratie.
I. Profil der schweizerischen Kleingesellschaft
1. Der föderalistische Kleinstaat Die Schweiz, als europäischer Kleinstaat mit weniger als sieben Mio. Einwohnern, weist eine Reihe von politischen Besonderheiten aus. Hervorstechendstes Merkmal ist ihre multikulturelle nationale Einheit. Während der europäische Nationalismus des 19. Jahrhunderts politische Staatlichkeit nach der Idee einer gleichen Sprache und Kultur anstrebte, vereinigte der schweizerische Bundesstaat von 1848 25 Kantone unterschiedlicher Sprache und ethnischer Kultur. Die föderalistische Staatsgründung gelang trotz eines jahrhundertealten Erbes religiöser Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken. Wichtigste Motive des Zusammenschlusses waren die Notwendigkeit, die politische Unabhängigkeit gemeinsam zu wahren, sowie die Abschaffung der Handelsschranken zwischen den Kantonen im Zuge der Industrialisierung. Identität und Integration zur schweizerischen Gesellschaft beruhen zu einem erheblichen Teil auf den politischen Institutionen. Der Föderalismus beläßt den Kantonen und ihren vier Sprachen größtmögliche Autonomie und bewahrt kulturelle Vielfalt: Alle Gesetzgebungsentscheide bedürfen der doppelten Mehrheit im Zweikammersystem von Nationalrat (Volksvertretung, 200 Mitglieder) und Ständerat (Kantonsvertretung, 46 Mitglieder). Neue Aufgaben des Bundes können nur durch Verfassungsänderungen geschaffen werden, welche entsprechende Kompetenzen von den Kantonen an den Bund übertragen. Die Regierung -ein Kollegialorgan von sieben Mitgliedern ohne Weisungsbefugnisse eines Regierungschefs -ermöglicht die proportionale Vertretung von Sprach-regionen und Parteien.
Die schweizerischen Volksrechte schaffen Teilnahmemöglichkeiten für Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über die Wahlen hinaus. Alle Verfassungsänderungen, die das Parlament beschließt, unterliegen der Genehmigung von Volk und Ständen (Kantonen); durch eine Volksinitiative können Verfassungsänderungen durch 100 000 Unterschriften angeregt und der Volksabstimmung unterbreitet werden. Weiter unterstehen auch einfache Gesetze der Nachentscheidung durch das Volk, sofern 50000 Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dies verlangen. Das System dieser „halbdirekten Demokratie“ hat nachhaltig zur schweizerischen „Konsens“ -oder „Konkordanzdemokratie“ geführt, die anders als die parlamentarischen Systeme nicht auf dem Wechsel von Regierung und Opposition, sondern auf proportionaler Machtteilung und der Integration von Minderheiten durch den politischen Kompromiß beruht.
Die bewaffnete Neutralität erlaubte der Schweiz, sich trotz exponierter geographischer Lage aus beiden Weltkriegen herauszuhalten. Die schweizerische Kleinstaatlichkeit zeigt aber auch nach innen ein besonderes Profil. Ein Großteil der Behörden der 3000 Gemeinden, die Parlamente von Gemeinden, Kantonen und Bund, aber auch Hunderte von beratenden Kommissionen arbeiten nebenamtlich. Im sog. „Milizsystem“ stellen Bürgerinnen und Bürger ihre beruflichen Kenntnisse und einen Teil ihrer Freizeit für öffentliche Aufgaben zur Verfügung. Des weiteren sind viele private oder halbstaatliche Organisationen an der öffentlichen Aufgabenerfüllung beteiligt. Diese soge-nannte Verbandsverwaltung führt zu einer engen Verflechtung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat, die auch in der Gesetzgebung spürbar ist. Demgegenüber ist die staatliche, professionelle Verwaltung (im engeren Sinne) in vielen Bereichen weniger groß -die Zahl der Vollbeschäftigten im öffentlichen Sektor liegt mit einem Anteil von ca. 15 Prozent an den Beschäftigten unter dem Stand anderer Staaten.
Der Wirtschafts-und Sozialstaat Schweiz weist eine vorsichtige und zum Teil späte Entwicklung auf. Seit 15 Jahren haben sich die Staatsausgaben (im engeren Sinne) bei 30 Prozent des Sozialprodukts stabilisiert. Staatliche Politik war bis in die jüngste Zeit gekennzeichnet von dem Versuch der Erhaltung von Strukturen der bäuerlichen und gewerblichen Binnenwirtschaft, guter Handelsbeziehungen für die Exportwirtschaft, von mäßigem sozialem und regionalem Ausgleich sowie der frühen Entwicklung einer Umweltpolitik
2. Wirtschaftsstruktur Integration und politische Stabilität haben der Schweiz eine vorteilhafte wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht. Die frühe Industrialisierung versuchte die Nachteile der Hügel-und Berglandwirtschaft sowie fehlender natürlicher Ressourcen durch Güterveredelung und Exporte zu kompensieren. Heute gehören Chemie und Pharmazeutik, Uhren und Präzisionsmechanik, Elektronik sowie die Lebensmittelindustrie zu jenen Zweigen, die durch ihre Qualitätsproduktion im Ausland Beachtung finden. Mehr als 55 Prozent der 3, 5 Mio. Beschäftigten arbeiten heute im Dienstleistungssektor; Banken, Versicherungen und Tourismus zählen zu den bedeutendsten Branchen der schweizerischen Dienstleistungsgesellschaft. Zum Bild überdurchschnittlicher Wirtschaftskraft im internationalen Vergleich gehören hohe Wachstums-und Exportraten in der Nachkriegszeit, eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen in der Welt sowie die starke Stellung des Finanzplatzes, welche die Schweiz weltweit zum fünftgrößten Auslandsinvestor macht. Die vorteilhafte, hohe Auslandsverflechtung hat allerdings auch ihre empfindlichen Seiten, etwa beim Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit einzelner Branchen. In der Rezession der siebziger Jahre nach den Erdölkrisen verzeichnete die Schweiz mit einem Beschäftigungsrückgang von rund zehn Prozent aller Arbeitsplätze einen der höchsten Konjunktureinbrüche, bei dem die Arbeitslosigkeit zu einem erheblichen Teil durch Rücksendung der Fremdarbeiter „exportiert“ wurde
3. Sozialstruktur Mit einem Anteil von 17 Prozent weist die Schweiz nach Luxemburg den höchsten Ausländeranteil aller europäischen Länder aus. Mehr als eine Mio. Ausländerinnen und Ausländer, die zunehmend auch aus ferneren Kulturkreisen stammen, verrichten vornehmlich weniger qualifizierte Arbeit. Bis 1991 beantragten mehr als 100000 Flüchtlinge, vor allem aus Ländern der Dritten Welt, Asyl in der Schweiz. Mit dieser Migrationswelle sind soziale Spannungen um die Ausländerfrage neu virulent geworden. Die Ausländerpolitik der Schweiz versuchte sie bisher mit Begrenzungen der Ausländer-und Flüchtlingszahl, aber ohne besondere Integrationsbemühungen zu dämpfen. Das Fehlen einer aktiven Integrationspolitik ist um so erstaunlicher, als die schweizerische Bevölkerung wegen niedriger Geburtenraten langfristig abnimmt und vom demographischen Trend einer Überalterung geprägt ist.
Das hohe Wohlstandsniveau der schweizerischen Bevölkerung hat bestehende wirtschaftliche Ungleichheiten bisher politisch eher neutralisiert. Die Armutsquote (je nach Definition zwischen vier und zwölf Prozent) weist die Schweiz im internationalen Vergleich mit Schweden und Kanada in eine Ländergruppe mit geringer Armut aus Derzeit laufende Umverteilungsprozesse von unten nach oben und der künftig härtere Wettbewerb lassen allerdings erwarten, daß die schweizerische Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vor härteren Belastungsproben für vertragliche Konfliktlösungen unter Verzicht auf Streiks steht.
Das Bildungssystem wurde seit den sechziger Jahren vor allem auf die Ausschöpfung der ländlichen „Begabtenreserve“ hin ausgebaut; im internationalen Vergleich ist die berufliche Ausbildung stärker, die akademische statistisch geringer vertreten. Im Zeichen der Verstädterung, Modernisierung und des gesellschaftlichen Wertewandels stehen die Bemühungen um die Gleichstellung der Frau. Erst 1971 wurde das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene realisiert, 1981 ein Verfassungsartikel über die gesellschaftliche Gleichstellung der Frau verabschiedet
II. Umbruch in Europa -Ausbruch aus der Verspätung in der Schweiz?
Abbildung 9
Tabelle 2: Übersicht über Anzahl der Initiativen und Referenden Quelle: Hans-Peter Hertig, Volksabstimmungen, in: Handbuch Politisches System der Schweiz, Bem 1984, S. 251; eigene Berechnungen. Hängige Vorlagen sind in der Gesamtzahl der Referenden und Initiativen, nicht jedoch in den Einzelkolonnen ausgewiesen.
Tabelle 2: Übersicht über Anzahl der Initiativen und Referenden Quelle: Hans-Peter Hertig, Volksabstimmungen, in: Handbuch Politisches System der Schweiz, Bem 1984, S. 251; eigene Berechnungen. Hängige Vorlagen sind in der Gesamtzahl der Referenden und Initiativen, nicht jedoch in den Einzelkolonnen ausgewiesen.
Nach 1945 befand sich die Schweiz in einer privilegierten Situation. Sie hatte den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden und verfügte im Nachkriegseuropa über eine intakte Industrie sowie über gute Handelsbeziehungen, welche die Grund-läge für ein überdurchschnittliches Wachstum ihres Wohlstandes für die nächsten Jahrzehnte bildeten. Ihre Neutralitätspolitik, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bei den Alliierten nicht in hohem Ansehen stand, gewann mit Beginn des Kalten Krieges neuen Kurswert. Universalität der Beziehungen, gute und humanitäre Dienste, Verbreitung des Rechtsgedankens in der Welt waren Devisen eines Neutralen, dessen zurückhaltende Außenpolitik der Sicherung guter Handelsbeziehungen dienlich war. Die schweizerische Neutralitätspolitik erlegte sich über die völkerrechtliche Verpflichtung zum Nichtengagement im Kriegsfall hinaus auch Abstinenz von wirtschaftlichen Sanktionen auf.
Neutralitätspolitische Bedenken bildeten bis zum Ende der sechziger Jahre ein wichtiges Argument gegen die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen. Damals wurde die Schweiz zwar Mitglied der EFTA und sicherte sich 1972 in bilateralen Verhandlungen ein vorteilhaftes Assoziationsabkommen mit der EG; kein Zweifel aber konnte darüber aufkommen, daß die volle nationale Souveränität, die bewaffnete Neutralität, die Nichtmitgliedschaft in supranationalen Organisationen und Institutionen kollektiver Sicherheit auf absehbare Zeit die festen außenpolitischen Koordinaten bildeten. Innenpolitisch zeichnete sich die Schweiz durch ihre sprichwörtliche Stabilität und durch vorsichtigen politischen Wandel in der gesellschaftlichen Modernisierungsphase der Nachkriegszeit aus.
Die europäischen Entwicklungen der vergangenen Jahre -der dynamisierte europäische Integrationsprozeß, der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa, die Wiedervereinigung Deutschlands, aber auch die Entwicklungen auf sicherheitspolitischer Ebene (KSZE) -haben diese Situation völlig verändert. Nichts zeigt dies deutlicher als die Europapolitik des Bundesrates (der schweizerischen Regierung) in den letzten vier Jahren.
Noch im August 1988 ging der EG-Bericht des Bundesrates davon aus, daß man die Wirtschaftsbeziehungen zur EG wie bisher durch bilaterale Sonderabkommen regeln wolle. „Beitrittsfähig werden, um nicht beitreten zu müssen“, lautete die Formel. Doch in den Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) wurde die Schweiz auf ein gemeinsames Binnenmarktabkommen zwischen EFTA-Staaten und der EG verwiesen. Ihre zahlreichen Vorbehalte und den Wunsch einer „Co-d^cision“ (Mitentscheidung) ohne EG-Mitgliedschaft mußte sie Schritt für Schritt preisgeben. Die Dynamik der europäischen Integrationspolitik machte sich zunehmend spürbar: Ein Abseitsstehen der Schweiz vom europäischen Binnenmarkt schien immer nachteiliger, und 1991, noch vor Unterzeichnung des EWR-Vertrages am 22. Oktober in Luxemburg, erklärte der Bundesrat den EG-Beitritt als Ziel seiner Europapolitik. Am 26. Mai 1992 reichte die schweizerische Regierung bei den EG-Behörden ihr offizielles Beitrittsgesuch ein, mit dem sie um Aufnahme von Verhandlungen ersuchte.
Mit diesem für schweizerische Verhältnisse ungewöhnlich raschen Positionswandel ist der Bundesrat der innenpolitischen Umsetzung einige Schrittlängen voraus. Nach der parlamentarischen Behandlung des EWR-Vertrages muß seine Ratifizierung in einer Volksabstimmung erfolgen. Wird der Vertrag Ende 1992 angenommen, so steht die Schweiz zusammen mit den andern EFTA-Ländern in einem Vorraum, in dem sie die Vorteile der Wirtschaftsintegration durch Übernahme des EG-Rechts erhält. Hingegen partizipiert sie -als Nicht-EG-Mitglied -nicht an der Weiterentwicklung des EG-Rechts, wird dieses aber ebenfalls zu übernehmen haben. Je nachdem, wie schnell die EG und die übrigen beitrittswilligen EWR-Staaten die Frage der‘Vollmitgliedschaft klären, dürfte der EWR an Bedeutung verlieren. Scheitert die schweizerische EWR-Beteiligung in der Volksabstimmung, so kann die Regierung versuchen, ihr bereits gestelltes Gesuch zum EG-Beitritt dennoch zum Verhandlungserfolg zu bringen, und später das Volk darüber abstimmen lassen. Längerfristig hat die Schweiz also zu wählen zwischen einem weitgehend vorbehaltslosen EG-Beitritt oder einem Abseitsstehen, das die einen als Alleingang, die andern als Isolation bezeichnen.
Damit steht die Schweiz vor außerordentlich weitreichenden Entscheidungen, die für die Zukunft des Landes vielleicht so bedeutsam sind wie die Gründung des Bundesstaates 1848. Denn die künftige Stellung der Schweiz innerhalb wie außerhalb der EG berührt nicht allein wirtschaftliche, sondern zentrale Fragen der innen-und außenpolitischen Rolle des Kleinstaates, aber auch des schweizerischen Regierungssystems der halbdirekten Demokratie. Entsprechend polarisieren EWRund EG-Frage die öffentliche Meinung über alle politischen Lager hinweg. Im Sommer 1992 scheint der Ausgang der Volksabstimmung zum EWR-Vertrag völlig offen.
III. Veränderte Rolle des Kleinstaates
1. Druck von außen Druck von außen hat die schweizerische Politik der letzten Jahre in verschiedensten Bereichen verändert. Mit dem Ende der Ost-West-Spannung hat die schweizerische Politik der bewaffneten Neutralität an Bedeutung verloren. Ebenso haben die Bestrebungen zur Liberalisierung des Welthandels z. B. im Rahmen des GATT und die Dynamik der europäischen Integration die außenwirtschaftliche und außenpolitische Sonderstellung der Schweiz erodieren lassen. Dabei bildet die Neudefinierung einer Neutralitätspolitik, welche sich wirtschaftlichen Sanktionen oder gar der Mitgliedschaft in Systemen kollektiver Sicherheit öffnet, das geringere Problem. Schwerer tut sich die politische Schweiz mit dem Gedanken, daß Assoziationsoder Integrationslösungen in Richtung EG mit Souveränitätsverzichten verbunden sind. Die zunehmende Verflechtung der internationalen Staatenwelt, die Relativierung des Nationalstaates, wird zwar auch in der Schweiz zur Kenntnis genommen, jedoch ist der Symbolwert der traditionellen Unabhängigkeit des Kleinstaates hoch. Nicht umsonst nennt sich eine der ersten Organisationen gegen EWR-und EG-Beitritt „Arbeitsgruppe für eine unabhängige und neutrale Schweiz“ (AUNS).
Dabei machen sich die Globalisierung der Märkte und die Liberalisierungstendenzen des Welthandels als Druck von außen längst und unabhängig von der EWR-und EG-Frage bemerkbar. Das gilt insbesondere für Banken und Versicherungen, deren internationale Standortvorteile sich reduziert haben. Im Zuge der GATT-Runden hat der schweizerische Agrarprotektionismus bereits Positionen geräumt; er wird nach einer Neuorientierung suchen müssen. Auch die binnenwirtschaftliche Situation ist im Umbruch. Nach vielen Strukturbereinigungen der letzten 15 Jahre stehen einzelne Branchen -etwa die Uhrenindustrie mit neuerdings hohen Marktanteilen in Japan -zwar wieder glänzend da, aber die wirtschaftliche Sonderstellung der Schweiz scheint vorbei. Wichtige Indikatoren wie das Wachstum des Bruttosozialprodukts (BSP), die Arbeitslosenquote oder die Kapitalzinsen passen sich europäischem Niveau an. Die Währungs-und Geldpolitik der Nationalbank liegt heute im Kielwasser der Deutschen Bundesbank. Der schweizerische Binnenmarkt öffnet sich dem Wettbewerb: Die eidgenössische Kartellkommission schlägt Schneisen in das Dickicht der Marktabsprachen, mit denen sich die relativ kleinen Anbieter während Jahrzehnten vor innerer und äußerer Konkurrenz schützten. 2. Innenpolitische Polarisierungen Innerer wie äußerer Druck führten freilich auch dazu, daß das schweizerische Staatsverständnis kontrovers geworden ist. Die Formel des Wirtschafts-und Sozialstaates der sechziger Jahre, die dem öffentlichen Sektor eine zentrale Rolle für das Wirtschaftswachstum wie für die sozial gerechte Verteilung des Wachstums zuwies, scheint nicht mehr restlos aufzugehen. Auf der einen Seite drängt ein Neoliberalismus auf die Eindämmung der Staatsaufgaben, den Abbau von Gesetzen und staatlichen Vorschriften sowie die Privatisierung öffentlicher Aufgaben. Das fordert auf der anderen Seite den Widerspruch derjenigen Gruppen heraus, die von der Reduzierung der Staatsaufgaben betroffen wären. Dazu gehören die Staatsangestellten, die sich als erste Opfer der Rationalisierungs-und Sparmaßnahmen gegen die wachsenden Defizite von Bund, Kantonen und Gemeinden sehen, aber auch die Empfänger von Sozialleistungen oder die Landwirte, deren Einkommen zum überwiegenden Teil aus direkten und indirekten Abgaben stammen. In vielen Auseinandersetzungen, die zur neuen Polarisierung zwischen links und rechts geführt haben, werden konkrete Struktur-und Verteilungsfragen auch zum Konflikt über „mehr Markt“ oder „mehr Staat“. Neuerdings verkehren sich dabei konventionelle ideologische Positionen bürgerlich-staatskritischer und linksmarktkritischer Parteien, etwa bei der Diskussion um marktwirtschaftliche Instrumente für den Umweltschutz, im Kartell-und Aktienrecht oder in der Energiepolitik.
Mit dem Zusammenbruch der alten Fronten ist eine Neuorientierung der militärischen Sicherheitspolitik notwendig, aber noch keineswegs ausdiskutiert worden; dies zeigt sich in der Frage der Beschaffung neuer Kampfflugzeuge, gegen die im Frühling 1992 die „Gruppe für eine Schweiz ohne Armee“ (GSOA) innerhalb weniger Wochen eine Volksinitiative mit einer Rekordzahl von 400000 Unterschriften zustande brachte. 3. Ungewißheit, aber Erweiterung politischer Perspektiven Die Rolle des Staates und seine Aufgaben sind inzwischen umstritten, die Zukunft des Landes ungewiß. 1991, das Jubiläumsjahr der 700jährigen Eid-23 genossenschaft, deckte Identitätsfragen der Klein-gesellschaft auf. Dennoch haben Druck von innen und außen die Politik in den letzten Jahren nicht nur in einen rascheren Entscheidungsrhythmus versetzt, sondern auch weg von einem Helvetozentrismus hin zur Erweiterung politischer Perspektiven geführt. Am deutlichsten ist dies etwa bei der Verkehrs-, Umwelt-und Energiepolitik zu beobachten, die sich von manchen lokalen oder regionalen Fixierungen gelöst haben und europäischen Orientierungen zuneigen. So drehte sich ein Referendumskampf 1989 noch um die innerschweizerische Frage, ob das Alpenland seine Sonderlösung der geringeren Lastwagenbreite von 2, 30 m aufrechterhalten kann. Heute betreibt die Schweiz eine europäisch ausgerichtete Verkehrspolitik. Sie hält an der ökologisch fortschrittlichen Option „Schiene statt Straße“ für Transit-Gütertransporte fest. Mit dem größten Bauprojekt ihrer Geschichte -der Neuen Alpentransversale „NEAT“ -will sie zugleich einen Beitrag für die sinnvolle Bewältigung des europäischen Verkehrs leisten. Im Bereich der Verkehrspolitik ist die Schweiz damit auch gewillt, ihre Vorstellungen ökologisch gebotenen Umdenkens und Umschwenkens auf die europäische Ebene zu tragen. In anderen Bereichen paßt sie sich an: „Eurokompatibilität“ begleitet als wichtiges Kriterium die Gesetzgebungsarbeit des Parlaments.
IV. Das Politiksystem auf Bundesebene
1. Entwicklungen der Konkordanz Seit 1959, dem Jahr der Einführung der sog. „Zauberformel“, ist die Zusammensetzung der schweizerischen Kollegialregierung mit zwei Freisinnigen (FDP), zwei Christdemokraten (CVP), zwei Sozialdemokraten (SPS) und einem Vertreter der Schweizerischen Volkspartei (SVP) unverändert geblieben. Diese Vierparteienregierung repräsentierte anfänglich über 80, heute noch knapp 70 Prozent der Wählerstimmen. Sie bildete gewissermaßen den Abschluß der Entwicklung von der Mehrheits-zur Verhandlungsdemokratie, die sich zudem auf die Elemente des Föderalismus, der Verhältniswahl und der proportionalen Sitzverteilung in den meisten politischen Behörden aller Ebenen sowie den „Konkordanzzwang“ direkter Demokratie stützt. Während die „Consensus Democracy“ (oder „consociational democracy“) als „Power Sharing Model“ und grundlegende Alternative zur Mehrheitsdemokratie im Ausland zunehmendem Interesse begegnet, ist sie in der Schweiz selbst nicht unangefochten.
Auf politischer Ebene haben Polarisierungen seit 1975 zu einer vermehrten parlamentarischen Blockbildung zwischen den Bürgerlichen (FDP, CVP und SVP) und den Links-Grünen (SPS, sowie die Nicht-Regierungsparteien der Grünen und des Landesrings) geführt. So sind in einzelnen Aufgabenbereichen -etwa der Energie-, Umwelt-oder Finanzpolitik -wechselnde Koalitionen zwischen den drei Mehrheitsmachem FDP, CVP und SPS selten geworden Angesichts schwindender Gemeinsamkeiten gab es Diskussionen um die Beendigung der Konkordanz; periodisch verlangen prominente bürgerliche Politiker den Ausschluß des „Juniorpartners“, der SPS, die nicht nur weniger Gemeinsamkeiten mit den andern Regierungspartnern teilt, sondern auch verhältnismäßig weniger Einfluß nehmen kann Die ernsthafteste Infrage-stellung der Konkordanz kam freilich von den Sozialdemokraten selbst: Anläßlich der Nichtwahl ihrer Kandidatin Uchtenhagen, der von den Bürgerlichen der Eintritt als erste Frau in die Regierung verwehrt wurde, hatten die Sozialdemokraten den Regierungsaustritt 1984 auf einem Parteitag diskutiert, aber schließlich abgelehnt.
Die politologische Analyse hat freilich längst aufgezeigt, daß die Aufhebung der Konkordanz wenig für eine handlungsfähigere Mehrheitspolitik brächte, wenn sie nicht zugleich von institutionellen Veränderungen begleitet wäre. Germanns jüngere und ältere Untersuchungen postulieren, daß eine bipolare Mehrheitspolitik den periodischen Wechsel von Regierung und Opposition, die Verminderung föderalistischer Konkordanzzwänge (z. B. Kompetenzvorbehalt der Kantone und das Zweikammersystem), aber auch die Ersetzung des Proportional-durch das Mehrheitswahlsystem und die Möglichkeit der Abberufung der Regierung erfordern würde. Vor allem aber wären (Volks-) Initiative und Referendum abzubauen, denn vom Referendum geht der größte Konkordanzzwang aus: Um die häufigen Verfassungsabstimmungen zu gewinnen und um das Risiko des fakultativen Gesetzesreferendums zu minimieren, bedarf es der Zusammenarbeit aller größeren Interessengruppen zum politischen Kompromiß. Damit aber sei das Referendum zu einem den Status quo erhaltenden Verbandsrecht geworden Der Abbau des Referendums und die Annäherung an ein parlamentarisches System würde, so Germann, die Schweiz den parlamentarischen Demokratien Westeuropas näherbringen: Nach erreichter innergesellschaftlicher Integration würde die Politik entscheidungs-und innovationsfähiger.
Die Verbesserung politischer Innovationsfähigkeit ist denn auch das Anliegen der Basler Ökonomen um Silvio Borner Sie führen die politologische Kritik der Umwandlung des Referendums vom Volks-zum Verbandsrecht weiter und betrachten dessen Auswirkungen auf den wirtschaftlichen Markt: Weil die Verbände mit ihren Referendumsdrohungen leichtes Spiel haben, den Status quo zu verteidigen, gäbe es in der Schweiz Kartellierung, Branchenschutz und die Übernahme unternehmerischer Risiken durch den Staat statt Innovation, Wettbewerb und Deregulierung auf dem Markt. Damit die Schweiz wirtschaftlich nicht zum Sanierungsfall wird, plädieren sie für mehr Wettbewerb auch auf politischer Ebene, d. h. für die Annäherung an ein parlamentarisches System mit Rollenwechsel zwischen Regierungs-und Oppositionskräften.
Freilich ist dies primär eine akademische Diskussion. Die Idee eines Systems wechselnder Mehrheiten wie des Rollenwechsels von Regierung und Opposition widerspricht einer politischen Kultur, die den Ausgleich in allen Sachfragen sucht und Konflikte klein hält. Auch gilt der Parlamentarismus -als „indirekte“ Demokratie, gegenüber der „direkten“ Demokratie -als weniger legitim. Die aktuelle Politik schließlich läßt Konkordanzzweifel eher verstummen. In der Europafrage -worin die Parteiführung der SPS die profilierteste Pro-, diejenige der SVP die deutlichste Nein-Haltung einnimmt -wird eine geeinte Führung der drei Großen (FDP, CVP und SPS) unerläßlich sein, um den Integrationskurs des Bundesrates auch über die parlamentarischen und plebiszitären Hürden zu bringen. Konkordanz, sei es in herkömmlicher oder geänderter Zusammensetzung, wird denn auch kurzfristig die wahrscheinlichste Formel schweizerischer Politik sein. Dies wird aber die Fähigkeit der Regierungsparteien erfordern, zu politischen Gemeinsamkeiten zu finden, wie dies in der ersten Konkordanzzeit nach 1959 noch in Ansätzen eines Regierungsprogramms zum Ausdruck kam. Vor allem aber werden in den einzelnen Sachfragen wechselnde Koalitionen unter Einschluß der SPS erforderlich sein. Die Fortsetzung unechter Konkordanz, in der sich infolge Blockbildung stets die gleichen Mehrheiten reproduzieren, führt, im Sinne Karl Deutschs, zum Gebrauch von „Macht als Möglichkeit, nicht lernen zu müssen“ 2. Parteien Die Wahlen, an denen sich inzwischen weniger als 50 Prozent der Stimmberechtigten beteiligen, vermitteln nach wie vor ein Bild großer Stabilität. FDP, CVP und SPS halten derzeit je rund 20 Prozent Wählerstimmen, die SVP rund Prozent (vgl. Tabelle 1). Obwohl die Regierungsparteien seit 1959 rund 15 Prozent der Wählerstimmen verloren haben, vermochten die Nicht-Regierungsparteien nach wie vor kein einheitliches Oppositionspotential zu bilden und zu binden: Zu groß ist die Zahl der rund zehn, oft nur regional bedeutsamen Kleinparteien, zu heterogen sind ihre Ausrichtungen. Bedeutsamste Kraft sind die Grünen geworden. In den letzten zehn Jahren errangen SPS und Grüne in einzelnen Stadt-und Kantonalregierungen sogar rot-grüne Mehrheiten und konnten damit zum ersten Mal eine politische Alternative zu Wahl-und Regierungsbündnissen auf bürgerlicher Seite bilden.
Das Potential der Grünen -die in den achtziger Jahren von neuen sozialen Bewegungen, von über die großen Parteien Enttäuschten und vom Wertwandel zur Individualisierung und zu postmateriellen Werthaltungen 12 profitierten -scheint heute ausgeschöpft zu sein. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die Regierungsparteien -am deutlichsten die Sozialdemokraten -den ökologischen Postulaten nicht nur in ihren Programmen, sondern auch in Gesetzgebung und Vollzug relativ hohe Priorität einräumen. Unter populistischer Flagge segeln die Autopartei und die Schweizer Demokraten (als Nachfolgeorganisation der Überfremdungsparteien Republikaner und Nationale Aktion). Im Zuge neoliberaler Reideologisierung haben die Kleinparteien der Mitte (Landesring, Evangelische Volkspartei) an Bedeutung eingebüßt; marxistisch orientierte Kleinparteien (Partei der Arbeit und Progressive Organisationen) sind nahezu verschwunden; ihre Klientel hat sich pragmatischeren linksgrünen Parteien zugewandt
Beim Parteivolk haben die schweizerischen Parteien an Boden verloren Gaben 1980 in den VOX-Befragungen fast 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Affinität mit einer Partei an, so sind es heute nur noch rund 40 Prozent. Die Verhältnisse zwischen Parteigebundenen und -ungebundenen haben sich also umgekehrt. Für die schweizerischen Parteien -im Regierungssystem seit je in schwacher Position -ist es damit nicht einfacher geworden, ihren Einfluß etwa im Vergleich zu den stärkeren Verbänden zu halten. Nach wie vor fehlt eine Parteiengesetzgebung, die Aufgaben und Funktionen der politischen Parteien definiert. Die Willensbildung in der Referendums-demokratie bedeutet für die schweizerischen Parteien eine zusätzliche Aufgabe. Sie sind vielfach überfordert, geraten gegenüber Interessengruppen ins Hintertreffen, sind in den Medien nicht gleichmäßig präsent und verfügen über keine ausreichenden Mittel für eine moderne Professionalisierung ihrer milizartigen, föderalistischen Organisation. 3. Direkte Demokratie Die Beteiligung an den zahlreichen Urnengängen liegt historisch auf tiefstem Niveau und schwankt -je nach Bedeutung, Betroffenheitsgefühl und Umstrittenheit einzelner Sachvorlagen -sehr stark. So mobilisierte 1989 die Volksinitiative „für eine Schweiz ohne Armee“ fast 70 Prozent der Stimmbürgerschaft, während eine Neuordnung der Finanzen 1991 gerade noch 33 Prozent zum Urnen-gang motivierte. Die VOX-Analysen fördern drei Hauptkategorien von Abstimmungsberechtigten zutage: Rund 20 Prozent gehen nie, etwa 30 Prozent versäumen nach eigenen Angaben keine Abstimmung und 50 Prozent gehen gelegentlich. Der Urnengang „ la carte“ fügt sich theoretisch sehr gut in das Inglehart’sche Profil der Postmaterialisten ein. Entgegen den Erwartungen finden sich sowohl unter den gelegentlichen als auch unter den regelmäßigen Urnengängern keine signifikanten Unterschiede zwischen Materialisten und Postmaterialisten. Postmaterielle Einstellungen sind aber für das Abstimmungsverhalten relevant. Wie auch in der amerikanischen Abstimmungsforschung gelangen konkurrierende Forschungsansätze nicht zu gleichen Schlüssen. Der ältere, soziologisch-wert-bezogene Ansatz fördert eine ungleiche, schicht-und ausbildungsbezogene Beteiligung zutage. Ebenso gibt er Hinweise darauf, daß konstant abweichendes Stimmverhalten einzelner Gemeinden und Regionen wohl auf längerfristige Wirkungen politischer Kultur zurückzuführen ist Der konkurrierende politökonomische Ansatz dagegen hat einerseits mit seinen Modellen des gruppenspezifischen Eigennutzverhaltens sehr wohl die Bedeutung wirtschaftlicher Konjunkturen und den gewichtigeren Einfluß von Interessengruppen auf den Abstimmungserfolg aufzeigen können. Er vermochte aber andererseits zur Abstimmungsbeteiligung nur wenig auszusagen
Die Zahl der Volksabstimmungen liegt im Zeitvergleich recht hoch (vgl. Tabelle 2). Statistisch gesehen haben sich indessen die Erfolgschancen für die Vorstöße aus dem Volk nicht sehr verändert.
Etwa jeder dritten Verfassungsvorlage der Behörden bleibt der Erfolg versagt. Volksinitiativen, welche dieselbe Doppelhürde des „Volks-und Ständemehrs" (absolute Mehrheit sowohl auf gesamtschweizerischer Ebene als auch auf Kantons-ebene) zu nehmen haben, sind nur in 10 Prozent der Fälle erfolgreich. Das fakultative Gesetzes-referendum ist relativ selten: Von 15 Gesetzen des Parlaments hat nur gerade eines den effektiven Test der Volksabstimmung zu bestehen. In diesem Fall ist aber die Erfolgschance der Opponenten mit über 50 Prozent erheblich.
Angesichts der geringen Stimmbeteiligung wird hin und wieder vom erlahmenden Interesse an der direkten Demokratie und von Entpolitisierung der Bürgerinnen und Bürger gesprochen. Doch ist dieses Bild unvollständig und einseitig. In den siebziger Jahren haben „Basisaktivitäten“ verschiedenster Art zugenommen: Durch Stadtteil-, Frauen-, Friedens-, Anti-AKW-und Anti-Betonbewegungen konnten manche Kompromisse der lokalen, kantonalen oder eidgenössischen Konkordanzpolitik verhindert werden. Ein Protestpotential, das sich entweder rückwärts-oder vorwärtsgewandt dem „mainstream“ des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses widersetzt hat das Spektrum der kleinen Oppositionsparteien verbreitert: Zur Nationalen Aktion kamen Grüne, die Autopartei und neuerdings die populistische Gruppierung der Tessiner „Lega“ hinzu. In der offenen Demokratie wurde noch mehr Mitsprache des Volkes verlangt: Der Bau von Hochleistungsstraßen, die Einreichung der Standesinitiative und die Stellungnahmen der Regierung zum AKW-Bau wurden in mehreren Kantonen der Volksabstimmung unterstellt. Verwaltungsbehörden versuchen, in wichtigen Planungsprozessen den Betroffenen informelle und frühzeitige Mitsprache zu gewähren.
Im Gesamtbild der politischen Kultur finden sich deshalb Widersprüche: Volksrechte stehen hoch im Kurs, auch bei jenen, die sie nicht gebrauchen. Erlahmendes Interesse an der Wahl-und Abstimmungsdemokratie steht neuen Partizipationswünschen gegenüber, die nicht nur die Willensbildung, sondern auch den Vollzug behördlicher Politik schwieriger machen. Die Degeneration des Urnen-gangs (zu der auch die Gefahr der Propaganda-anfälligkeit einer wenig informierten Bürgerschaft in komplizierten und abstrakten Vorlagen gehört) kontrastiert mit dem Phänomen einer Elite von versierten Bürgern, die sich sowohl in Parteien und bei Abstimmungen als auch in neuen Bewegungen und deren Basisaktivitäten engagieren. Ob die Erfassung politischer Aktivitäten von Hunderttausenden von Bürgerinnen und Bürgern in den Registraturen der Bundesanwaltschaft oder die Betreibung einer privaten Geheimorganisation ohne Rechtsgrundlage und politische Kontrolle im Schoße des Eidgenössischen Militärdepartmentes dem Vertrauen in Rechtsstaat und Demokratie dauerhaften Schaden zugefügt hat, bleibt abzuwarten. Ebensowenig ist heute abzuschätzen, ob sich im gesellschaftlichen Wertewandel mit seiner Individualisierung und Personalisierung auch ein neuer Generationenkonflikt anbahnt.
V. Fragen institutioneller Reformen
Obwohl das Projekt einer Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung in den siebziger Jahren scheiterte, hat das Interesse an Reform-fragen der schweizerischen Institutionen eher zugenommen. Während im wissenschaftlichen Schrifttum auch grundlegende Umgestaltungen oder gar Verfassungsneuentwürfe diskutiert werden, kreisen politische Bemühungen erwartungsgemäß um pragmatische Teilreformen einzelner Institutionen. 1. Föderalismus Die institutioneile Grundidee des schweizerischen Föderalismus lautet nicht Dezentralisierung, sondern Nicht-Zentralisierung: Die Vielfalt lokaler Kulturen und Sprachen will größtmögliche Autonomie und erduldet keinen starken Zentralstaat Nach Art. 3 der Bundesverfassung sind die Kantone für alle Aufgaben zuständig, die nicht durch die Entscheidung sowohl von Volk als auch von Ständen dem Bund übertragen werden. Diese verfassungsrechtliche Sicherung ist sehr stark. Mit lediglich einem Drittel aller öffentlichen Ausgaben und öffentlichen Bediensteten gehört der Bund im internationalen Vergleich zu den „schlanksten“ Zentralstaaten, und auch die gesamte Staatsquote (ohne öffentliche Betriebe und Transfers der Sozialversicherung) nimmt sich mit weniger als 30 Prozent gering aus. Anders als der amerikanische Föderalismus, der sich Konkurrenz und Wettbewerb unter den einzelstaatlichen und lokalen „governments“ verspricht, geht der schweizerische Föderalismus von interregionaler Solidarität aus Dies ist einer der Gründe, der zur starken Verflechtung von Aufgaben und Finanzen geführt hat. Versuche einer Entflechtung blieben in bescheidenen Anfängen stecken.
Einiges Unbehagen löst auch das große Entscheidungsgewicht der kleinen Kantone im Ständerat und bei Abstimmungen zu Verfassungsänderungen aus. Mit der Vergrößerung der demographischen Unterschiede der Kantone „wiegt“ z. B. die Stimme eines Urners heute rund 34 mal soviel wie die Stimme eines Zürichers. Das Veto von 11% 2 ablehnenden Standesstimmen gegen eine Verfassungsänderung wird theoretisch bereits durch 13 Prozent aller Stimmberechtigten erreicht. Das Risiko der Kollision zwischen Volks-und Stände-mehr ist mit der Zunahme der Zahl der Verfassungsabstimmungen häufiger geworden. Das Gewicht des Föderalismus (Gleichwertigkeit der Gliedstaaten) hat damit gegenüber dem Demokratieprinzip (eine Person -eine Stimme) zugenommen, was im Grunde der geschichtlichen Entwicklung entgegenläuft, in der sich die regionalen Gegensätze abgeschliffen haben 2. Regierung und Parlament Es scheint, als ob nach Jahren ergebnisloser Debatte die Zeit für eine schrittweise Modernisierung der Regierungs-und Parlamentsstrukturen gekommen wäre. Im Jahre 1989 reichten Ständerat Rhinow und Nationalrat Petitpierre zwei Vorschläge ein von denen einer, das Parlament betreffend, zur Gesetzesreife gebracht wurde. Danach soll eine partielle Professionalisierung des Milizparlaments stattfinden, die den Parlamentariern neben angemessener Entschädigung vor allem die Anstellung von Hilfspersonal erlaubt. Damit würden die größten Ungleichheiten persönlicher Ausstattung im „Zwei-Klassen-Parlament“ beseitigt. Gleichzeitig sollen ständige statt Ad-hoc-Kommissionen die Arbeitsfähigkeit des Parlaments verbessern. Besonderes Anliegen beider Räte war es im übrigen, die Stimme des Parlaments in Fragen der Außenpolitik zu stärken. Nicht ganz so weit gediehen sind die Vorstöße zur Regierungsreform: Das Kollegialsystem der siebenköpfigen Regierung ist auf eindeutige Grenzen gestoßen. Die Rhinow-Petitpierrschen Vorstöße verlangten darum ein zweistufiges Organ: Der eigentliche Bundesrat, allenfalls reduziert auf fünf Mitglieder, soll durch eine größere Zahl von ernannten Fachministern -dem Bundesrat in den politischen Leitlinien untergeordnet, aber mit selbständigem politischen Verantwortungsbereich -ergänzt werden. Mit dieser Vergrößerung könnten nicht nur viele interne Organisations-und Führungsprobleme, sondern auch die Vertretung der Exekutive in der Europa-und Außenpolitik verbessert werden.
Zur Zeit klärt eine Studiengruppe verschiedene Möglichkeiten der Reform ab. Parlaments-wie Regierungsreform sind aber im weiteren eng mit Verfassungsfragen proportionaler Vertretung, des Verhältnisses zwischen Exekutive und Legislative (insbesondere bezüglich des parlamentarischen Mißtrauensvotums) und der direkten Demokratie verbunden. Ob damit das Konkordanzsystem schweizerischer Prägung grundsätzlich zu überprüfen ist, wird die Zukunft zeigen. 3. Volksrechte Die direkte Demokratie hat auf die Entwicklung des schweizerischen Regierungssystems den denkbar größten Einfluß ausgeübt. Denn das Referendum wurde ab 1874 zur Waffe jener Minderheiten, die vorher von der politischen Macht im Bund ausgeschlossen waren: Sie sabotierten die Entscheide von Regierung und Parlament an der Urne, wenn ihre Anliegen ungehört blieben. So veränderte sich die Mehrheitspolitik der Freisinnigen, die während fast 50 Jahren die Alleinherrschaft im Bundesrat ausübten, zur Verhandlungspolitik für einen zunehmend breiter abgestützten Kompromiß. Konservative gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die von den Freisinnigen abgespaltene Partei der Bauern, Gewerbe und Bürger in den zwanziger Jahren und schließlich die politische Linke wurden an der Regierung beteiligt und in den Staat integriert, damit in Referendumsabstimmungen ausreichende Mehrheiten zustande kommen. Die Ersetzung der Mehrheits-durch die Proporzwahl, die Beteiligung aller größeren Parteien an der Regierung auf der Ebene des Bundes, der Kantone und der Gemeinden hatten den gleichen Effekt: die Einbindung aller größeren politischen Kräfte in einen Kompromiß, der bereits im vorparlamentarischen Verfahren gesucht wird und die Referendumsrisiken womöglich umgeht oder aber die Hürde der obligatorischen Volksabstimmung erfolgreich nimmt.
Für die Bürgerinnen und Bürger steht ihr Beitrag an der Entscheidungsfindung durch authentische Mitwirkung im Vordergrund. Aus historischer Sicht jedoch scheint das Wesentliche der Volks-rechte in ihrem Beitrag zur politischen Integration einer multikulturellen Kleingesellschaft zu liegen. Sind diese beiden Funktionen der Volksrechte noch aktuell? Die Frage kann zumindest gestellt werden.
Im Zeichen der Europa-Diskussion wird häufig erwähnt, der Mechanismus der halb-direkten Demokratie sei zu schwerfällig; der typische Weg, Vorlagen nach einem ersten Scheitern in modifizierter Form dem Volk wieder vorzulegen, sei bei internationalen Verhandlungen, besonders aber in der Dynamik der EG-Entscheidungen, nicht anwendbar. Sodann wird ins Feld geführt, daß der Referendumsvorbehalt für jene EG-Normen, die keine landesinternen Konkretisierungen zuließen, die Schweiz in schwierige Situationen bringen könnte: Die Vertragstreue würde verletzt, falls ein solches Gesetz in der Volksabstimmung scheitern würde. Beide Argumente sind nicht zwingend; das Parlament macht bei der Beratung der rund 60 Gesetze, die im Zuge der Ratifizierung des Europäischen Wirtschaftsrates anzupassen sind, die Erfahrung, daß das EG-Recht flexibler ist als erwartet. Wie weit der Rhythmus der EG und jener der direkten Demokratie wirklich inkompatibel sind, wird erst die Erfahrung zeigen.
Grundsätzlicher sind politologische Einwände vor allem gegen das Referendum. Als Volksrecht konzipiert, hat es primär den Einfluß der Verbände gestärkt. Sie setzen die Referendumsdrohung als Verhandlungspfand im vorparlamentarischen Verfahren ein und gelangen hierdurch zu einem Kompromiß, der ihren Status quo wahrt und Kosten auf Dritte, auf Nicht-Organisierte, verlagert. Kommt es indessen zur Volksabstimmung, so bewirkt die Komplexität des Verfahrens eine selektive Teilnahme, die sich gerade gegen die bildungs-, einkommens-und statusmäßig unterprivilegierten Schichten auswirkt. Zudem sind die Einflüsse der zunehmend professionalisierten Abstimmungspropaganda unübersehbar: Geld wird auch in der direkten Demokratie zu einem wichtigen Faktor des Erfolgs
Maximiert das schweizerische Modell den Einfluß der Stimmbürgerschaft mit Hilfe der Abstimmungsdemokratie, so ist der Einfluß durch Wahlen minimal: Die Regierung wird indirekt vom Parlament gewählt und unterliegt nicht dem Risiko des parlamentarischen Mißtrauensvotums beim Scheitern ihrer Politik. Auch auf die Zusammensetzung der Regierung hat die Wählerschaft keinen Einfluß -sie wird von den großen Parteien bestimmt. Im Gegenmodell parlamentarischer Demokratie Englands etwa verhält es sich umgekehrt: Wähler-präferenzen werden institutionell so verstärkt, daß eine eindeutige Parlamentsmehrheit für den Wechsel von Regierungen und ihrer Politik sorgt; Wählerpräferenzen haben damit erhebliche Bedeutung, während plebiszitären Elementen kaum Einfluß gewährt wird. Es ist also durchaus möglich, daß direkte Demokratie nicht schlechthin mehr Einfluß der Bürgerinnen und Bürger eröffnet, sondern daß in verschiedenen institutionellen Systemen höherer Abstimmungseinfluß mit vermindertem Wählereinfluß erkauft werden muß und umgekehrt, so daß nicht beides maximal erreichbar ist
Freilich ist die Popularität der Volksrechte ungebrochen -auch bei jenen, die sie nicht nutzen. Sowohl in den Kantonen als auch im Bund sind die Mitwirkungsrechte des Volkes in den vergangenen zwei Jahrzehnten eher erweitert worden. Die direkte Demokratie gilt als herausragende Besonderheit der schweizerischen Zivilgesellschaft, die Selbstverantwortlichkeit und den Sinn für die Belange der Gemeinschaft stärkt. Zugleich ermöglicht sie ein öffentlichkeitswirksames Plazieren (agenda setting) von Themen, die ansonsten im Konkordanzsystem ausgefiltert blieben, und trägt so zum Gefühl der Kontrolle der politischen Institutionen bei. Starkes Echo findet das Argument, die Tradition der direkten Demokratie ausgerechnet in jenem Moment zu festigen, in dem die Schweiz auf Integrationskurs mit den parlamentarischen Demokratien und mit EG-Institutionen geht, in denen das demokratische Element noch keineswegs so entwickelt ist wie das förderalistisehe Basisdemokratische Gruppierungen sammeln sich hinter der Idee der „Euroinitiative“, die Anregungen aus den EG-Ländem nach Brüssel tragen könnte. Mindestens so relevant -aus demokratietheoretischer Sicht -ist angesichts des hohen Ausländeranteils von 16 Prozent in der Schweiz die Frage des Ausländerstimmrechts. Im Kanton Neuenburg wurde es bereits vor 140 Jahren eingeführt, und der Kanton Jura kennt es seit seiner Gründung 1978 auf kommunaler und kantonaler Ebene. Ab-zuwarten bleibt, ob hängige Initiativen in anderen Kantonen zum Erfolg führen. So sind denn im Für und Wider des Ausbaus direkter Demokratie wie auch in andern Fragen der Demokratieentwicklung starke Spannungsfelder angelegt
Wolf Linder, Dr. phil., geb. 1944; Direktor des Forschungszentrums für schweizerische Politik und Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Universität Bem. Veröffentlichungen u. a.: Inflation legislative, Lausanne 1985; Politische Entscheidung und Gesetzes-vollzug in der Schweiz, Bern 1987; zahlreiche weitere Publikationen zur Verwaltungs-und Evaluationsforschung und zur schweizerischen Politik.
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