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Das Dilemma des Nationalstaates in Westeuropa: Zur Identitätsproblematik der europäischen Integration | APuZ 14/1993 | bpb.de

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APuZ 14/1993 Wiederkehr eines Totgesagten: Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts Die nationalstaatliche Herausforderung in Europa Das Dilemma des Nationalstaates in Westeuropa: Zur Identitätsproblematik der europäischen Integration Verfassungspatriotismus als Identitätskonzept der Nation

Das Dilemma des Nationalstaates in Westeuropa: Zur Identitätsproblematik der europäischen Integration

Karl-Rudolf Körte

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Nation und mit ihr der Nationalstaat sind auch in Westeuropa wieder aktuell. Das Spannungsverhältnis zwischen Nationalstaat und europäischer Integration ist zu einem Thema der politischen Kultur geworden: moderne Identität im Schnittpunkt von regionaler Identifikation und weltgesellschaftlichen Bezugspunkten. Vieles deutet darauf hin, daß die Mehrheit in Westeuropa zur Aufgabe von Souveränität für ein größeres Ganzes durchaus weiter bereit ist, jedoch nicht zur Aufgabe ihrer Identität. Der Nationalstaat bleibt auf absehbare Zeit die zeitbedingte Ordnungskategorie, die politisch relevante Grundbindung eines jeden Bürgers. Das setzt jedoch voraus, daß er als Garant des demokratischen Verfassungsstaates definiert ist. Nationalstaaten können die europäische Integration sinnvoll ergänzen, wenn man die Identitäts-Bedürfnisse der Bürger ernst nimmt. Als Identifikationsrahmen bleibt die Nation erhalten. Die europäische Integration relativiert mit ihrer Übertragung von Souveränität insgesamt die Rolle jedes einzelnen Nationalstaates. Der Nationalstaat ist deshalb keinesfalls überflüssig, doch er ist weniger wichtig geworden.

I. Einleitung

„Für die Lösung der großen Probleme des Lebens ist der Nationalstaat zu klein und für die kleinen zu groß“ -so faßte der Politikwissenschaftler Daniel Bell aphoristisch die Kernproblematik eines mittlerweile alten Themas zusammen. Der Historiker Charles Maier ergänzt modisch-salopp: „Alle Nationen mit offenen Grenzen, durchlässig für Madonna und Migranten, für Kapital und CNN, gehen in eine neue Phase.“ Ralf Dahrendorf präzisiert: „Wie man sich auch dreht und wendet, ja windet, die Nation ist wieder da und der Nationalstaat mit ihr, und zwar hier, mitten in Europa, in Deutschland. Noch der vaterlandslose Geselle definiert sich an der Nation, vom Verfassungspatrioten ganz zu schweigen. Die Frage ist nur, was denn Nation und Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts sinnvoll bedeuten können und wo ihre Grenzen liegen.“

Die Nation und mit ihr der Nationalstaat sind in West-und in Osteuropa wieder da. Der Nationalstaat genießt nicht nur im vereinten Deutschland neue Popularität. In Westeuropa erkennt man eine neue Liebe zum Sinnzusammenhang des Nationalen. Angesichts der über Jahrzehnte gewachsenen europäischen Integration ruft die aktuelle Stimmungslage bei den „Berufseuropäem“ ernsthafte Entrüstung hervor. Wortreich sprachlos reduziert sich jedoch zumeist deren Analyse auf das vermeintlich traditionelle Gegensatzpaar Gemeinschafts-Europa contra Europa der Staaten. Wie in zeitgeschichtlichen Diskussionswellen kommen diese gegensätzlichen Leitbilder der europäischen Integration zum Zuge -mal in der Argumentationsfigur des Bundesstaates, mal als Staatenbund. Unberücksichtigt bleibt in dieser Dichotomie die neue Qualität der Anfragen an die Nation, wie sie sich nach dem Epochenwechsel in Europa seit 1989 stellen. Die kontinentale Europa-Romantik der Nachkriegszeit hilft da nicht weiter.

Denn rund zehn Jahre zu früh begann bereits das 21. Jahrhundert, das alte Fragen mit völlig neuen Paradigmen konfrontiert: -Der Ost-West-Konflikt hat die Westeuropäer jahrzehntelang im Denken und Handeln diszipliniert. Mit dem Zusammenbruch des traditionellen Feindbildes lockerten sich angestammte oder bisher geschützte Positionen. Zugehörigkeiten bedürfen im neuen Koordinatensystem einer aktuellen Begründung aus sich selbst heraus -ohne historische Rekurse. Warum sollen sich die Nationalstaaten heute weiter integrieren? -Die Europäische Gemeinschaft verläßt die Weihestätten herkömmlicher Jubiläumsfeiern und muß sich der kritisch-kontrollierenden Öffentlichkeit wie jedes andere politische System in Europa stellen. Mit Parteien-und Politikverdrossenheit ebenso wie mit wachsender Partizipationsbereitschaft wird dann auch die europäische Integration konfrontiert. Sie ist kein allseits zu schonender Sonderfall mehr, sondern Ernstfall. Da signalisieren dann einfache Mehrheiten bereits eine ausreichende Zustimmung. Zweidrittelmehrheiten werden unter diesen Voraussetzungen dann eher zur Ausnahme. Wie sieht das gemeinsame Bild von der Zukunft aus? Wie wird die Integration ausgestaltet? -Die legitimitätsstiftende Kraft von Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates setzt ein Bewußtsein von kollektiver Identität des politischen Gemeinwesens voraus. Gerade ein freies politisches System braucht das Zugehörigkeitsbewußtsein seiner Bürger. Demokratische Spielregeln und Mehrheitsverfahren werden kreativ ausgestaltet, wenn eine belastbare kollektive Identität vorhanden ist. Doch wieviel Verschiedenartigkeit verträgt die demokratisch ausgestaltete europäische Integration, um überhaupt Ansätze eines kollektiven Bewußtseins als Europäer erkennen zu lassen? Wer soll sich integrieren?

Diese Grundsatzfragen verlassen die herkömmlichen Kosten-und Nutzenanalysen der EG-Mitgliedschaften. Vielmehr machen sie das Spannungsverhältnis zwischen Nationalstaat und europäischer Integration zu einem Thema der politischen Kultur. In dieser subjektiven Dimension von Politik, in der die Nation gegen Europa ins Feld geführt wird, hat sich der Einstellungswandel bei vielen Bürgern in Westeuropa vollzogen, ohne daß er jetzt schon in allen Einzelheiten meßbar wäre. Viele Argumente für oder gegen weitere Integrationsschritte streifen deshalb nur oberflächlich in der Hülle der althergebrachten Europa-Rhetorik den neuen Erfahrungshintergrund der Bürger. Wie ein Katalysator hat dabei die Diskussion um den Vertrag über die Europäische Union von Maastricht gewirkt.

II. Europa in der Verlierer-Pose

Das Ursachenbündel für die Renaissance der Nation im Westen ist ein gänzlich anderes als in Osteuropa. Hier im Westen handelt es sich in Teilbereichen zunächst um Phänomene der „reflexiven Modernisierung“ Die Industriegesellschaft und mit ihr die Europäisierung aller Lebenssachverhalte ist selbst bereits zur Tradition geworden. Die ökologischen Konsequenzen der Modernisierung mobilisiert Zweifler, Umdenker, die eine andere Moderne als das industrielle Weiter-So wollen. Reicht es heute aus, primär die ökonomischen Vorteile einer größeren Gemeinschaft zu preisen, um weitere Integrationsschritte vorzunehmen? Ausgeglichen wird diese Nachdenklichkeit bei vielen Bürgern im Westen durch die Dramatisierung des Spezifischen: der Nation. Regionale Bindung und nationale Identifikation werden zu Orientierungspunkten in einer immer unüberschaubareren Welt. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes weiß man auch im Westen nicht mehr, woran man ist. Die neue Unübersichtlichkeit mischt sich mit Unsicherheit. Gerade wenn der Maßstab von außen entfällt, wird die Selbstdefinition plötzlich notwendiger als jemals zuvor, ökonomische Kri­ sen sowie drohende individuelle Status-Verluste fördern außerdem Ausländerfeindschaft in vielen westeuropäischen Staaten. Mit dem Rückgriff auf das angebliche Ideal einer homogenen Gesellschaft gehören alle Fremden in dieser Konstellation dann zum neuen Feindbild.

Erschwerend kommt hinzu, daß sich die europäische Integration in der Erfolgsfalle befindet. Die jahrzehntelangen Integrationsfortschritte sind konsumiert. Eine Standortbestimmung, in der Sinn und Zweck der EG erläutert und damit im Bewußtsein der Europäer neu verankert werden, fehlt bisher. Spätestens seit der Konferenz der Staats-und Regierungschefs im Dezember 1991, dem Europäischen Rat von Maastricht, hat sich die Grundstimmung deutlich verändert. Das Mißtrauen der Bürger gegenüber einem Europa, das ihnen im alltäglichen Leben näherrückt, hat nicht einfach zugenommen. In diesem Kontext formiert sich offenbar seit Ende 1991 der Nationalstaat gegen die Idee der Politischen Union Europas. Der selbständige Nationalstaat gewinnt in dem Maße an Zustimmung, wie die europäische Integration im Hinblick auf eine Politische Union in greifbare Nähe rückt.

Bonn und Paris haben außerdem die Integrationsbereitschaft der Partner überschätzt. Der Versuch, angesichts der deutschen Vereinigung auch das Zusammenwachsen Europas zu beschleunigen, war kontraproduktiv. Was zur Festigung der EG führen sollte, hat Unsicherheiten über den Kurs der Integration hervorgerufen. Stabilität läßt sich offenbar nicht bewußt hersteilen, wenn sich in Gesamteuropa alles verändert.

Vielmehr spüren die Menschen in Westeuropa, daß mit der europäischen Zeitenwende die Konzepte der Nachkriegszeit nicht mehr greifen. Die Sinnfrage wird an die europäische Integration angelegt. Man erinnert sich nur noch schwach an die friedenspolitische Logik der Einebnung nationaler Rivalitäten im Rahmen der EG. Nicht mehr Mißtrauen und Feindseligkeit, sondern diffuses Vertrauen kennzeichnet weitgehend die Verhältnisse zwischen den Ländern der EG heute. Alte Feindbilder sind nicht mehr politisch umsetzbar. Hier fühlt sich doch schon lange keiner mehr durch den anderen Staat existentiell bedroht. Der Kernbereich der politischen Kultur, die Befürwortung demokratischer Systeme sowie die Unterstützung freiheitlicher und sozialstaatlicher Werte sind in allen EG-Ländem ähnlich.

Die europäische Gesellschaft ist aber nicht nur auf der Einstellungsebene, sondern auch aus dem Blickwinkel der sozialstrukturellen Untersuchun­ gen längst Realität. Primär bewegen sich die Sozialstrukturen entlang einer gemeinsamen EntwicklungMinie, und erst sekundär sind nationale, regionale Sonderwege erkennbar als Phasenverschiebungen im Modemisierungsprozeß -keine gegensätzlichen Auseinanderentwicklungen

Doch diese Erfolgsmeldungen bleiben weitgehend politische Programmatik, die politisch-kulturell nicht mehr nachvollziehbar erscheint. Man hat sich an das alltäglich vertraute Europa gewöhnt. Diese Normalität vermag vom Argumentationsgewicht nur noch wenig gegen weiterreichende supranationale Integrationsschritte auszurichten. Dafür brauchen die Menschen eine zusätzliche Begründung, die nicht mit dem Blick auf die Geschichte leistbar ist.

Auf dieser Ebene erstrahlt so der Nationalstaat, aber ebenso die Region als Gegensatz zur Integration. Europa eignet sich demgegenüber als Begriffs-Container des individuellen Unbehagens: galoppierende Kosten, übereifrige Regelungswut, undemokratische Kabinettspolitik, verlorengegangene nationale Besonderheiten, ungebremste Mischung des Vertrauten mit dem Fremden lassen sich so mit einem Begriff geißeln.

III. Nationalstaaten als politische Einheiten

Wenn die Anziehungskraft der Nation und des Nationalstaates wieder gewachsen ist, dann bleibt die Frage offen, was die Menschen eigentlich darunter verstehen und welche Funktionen sie ihnen zuschreiben. In der wissenschaftlichen Diskussion besteht keineswegs Einigkeit darüber, was die Nation ausmacht. Als vorgestellte Gemeinschaften sind Nationen keine festen, eindeutig bestimmbaren Größen. Sie variieren je nach Intensität und Ausdehnung der Gemeinsamkeiten. Voraussetzung ist, daß sich die Menschen ihres politisch-kulturellen Eigenwertes bewußt werden und gefühlsmäßig ihre Existenz als selbständige konkrete Ganzheit bejahen Ein Volk wird danach zur Na-tion durch einen Akt des Selbstbewußtseins und des Willens.

Im Rahmen einer sozialpsychologischen Dimension definiert ein gemeinsames Grundverständnis die Nation als eine Form kollektiver Identifikation, die sich auf das Zusammenleben einer Gemeinschaft insgesamt bezieht. Die Nation ist eine Variante kollektiver Identität, eine Form von Gemeinschaftserfahrung.

Die Verbindung von Nation und Staat im Begriff des Nationalstaates ist historisch betrachtet relativ spät eingetreten Im klassischen Zeitalter der Nationalstaaten zwischen 1648 und 1914 tendierten Volk, Nation, Staat idealtypisch gesehen zueinander. Gerade der historische Rekurs zeigt jedoch, daß der Nationalstaat mit einer einheitlichen Staatsnation selbst in der modernen Geschichte Europas immer nur theoretischer Entwurf oder Fiktion war: Nationale Homogenität wurde nie erreicht, anderssprachige Bevölkerungsteile wurden in der Regel in seine staatlichen Grenzen mit eingeschlossen.

Der Staat hat drei klassische Aufgaben: die Sicherung der territorialen Integrität, den Schutz seiner Angehörigen nach außen und die Schaffung günstiger Bedingungen für Wirtschaft und Handel. Anders ausgedrückt: Es geht um die Sicherung der Daseinsvorsorge und die Garantie der sozialen Sicherheit. Der Nationalstaat ist die politische Einheit einer Gemeinschaft von Menschen, die in einem bestimmten Gebiet unter einer Staatsgewalt organisiert sind. Der Nations-und Nationalstaats-begriff zielt somit auch auf die politische Struktur eines Gemeinwesens. Der demokratisch konstituierte Nationalstaat bildet den Rahmen, in dem in verläßlicher Form die Rechte der Bürger garantiert sind. Wer ihn aufgibt, der verliert die bisher einzige effektive Garantie seiner Grundrechte

IV. Unzeitgemäßheit und Kompetenzverluste

Bisher war von der Renaissance der Nation und des Nationalstaates die Rede. Doch welche Rolle kommt der Nation in Europa zu? Wie lassen sich die verschiedenen Ebenen von Region, Nation und Europa in ihrem subsidiären -also gegenseitig unterstützenden -Charakter zur Geltung bringen? Die empirische Datenlage ist für alle EG-Staaten eindeutig: Mehrheitlich dominiert das Regionale, die provinzielle Idylle, die meist dicht neben der schon postmodemen Metropole angesiedelt ist. Die individuellen Bindungen an die Nation sind eingebettet zwischen regionalen und europäischen Einstellungen. Die meisten Deutschen fühlen sich -ebenso wie die anderen Westeuropäer -mit ihrem lokalen Bezugsort „rein gefühlsmäßig politisch verbunden“. Es folgen in dem Grad der gefühlsmäßigen Bindung das jeweilige Bundesland, dann die Bundesrepublik Deutschland und mit weiterem Abstand erst die EG Die Abstufungen zwischen verschiedenen Loyalitätsebenen sind klar erkennbar und verlaufen von unten nach oben, vom lokalen zum universellen mit abnehmender Bindungsintensität. Im privaten, überschaubaren Lebensbereich sind die Zufriedenheit und das Engagement der Bürger stets höher als in allgemein-öffentlichen Lebensbereichen.

Diese Fragestellung nach dem subsidiären Beziehungssystem zwischen Region und Europa ist nur ein Ausschnitt aus einem größeren Thema: moderne Identität im Schnittpunkt von regionaler Identifikation und weltgesellschaftlichen Bezugspunkten. Denn die kollektiven Selbst-und Fremd-bilder der Bürger orientieren sich zwischen den Ebenen Region, Nation, Europa und Weltgesellschaft. Nationale Selbst-und Fremdbilder besitzen in der Gesellschaft wie in der Politik eine herausragende Orientierungsfunktion. Angesichts der nivellierenden Tendenzen des Medienzeitalters hat sich ihre identitätsstiftende Kraft sogar erhöht. Der Mensch denkt und handelt in Bildern Sein Verhalten wird offenbar weitgehend bestimmt durch diese Wahrnehmung über Bilder. Das Fernsehen verstärkt noch diesen Trend, denn es ist meist spracharm und bildsüchtig. Unser Bewußtsein ist charakterisiert durch ein sprachlich verfaß-'tes Bild von der Welt und von uns selbst. Darin kommen auch die verschiedenen Ebenen und Schichten unserer Identität zum Ausdruck.

Der sozialpsychologische Identitätsbegriff meint eine Fähigkeit und Eigenschaft, die erwerbbar ist Im sozialpsychologischen Zugang liegt die Möglichkeit, Identität als ein allgemeines Informationsmuster zur Koordinierung eines Akteurs mit seiner Umwelt zu verstehen. Identität ist demnach die allgemeine Form der Selbstdefinition. Doch Identität ist aus sich selbst heraus nicht positiv zu beschreiben. Vielmehr bedeutet sie Abgrenzung und Unterscheidung vom jeweils anderen, was im Hinblick auf die kollektive Identität der Europäer höchst problematisch ist.

Spezifiziert und problematisiert wird dieses Wahrnehmungsmuster zwischen regionaler Prägung, nationaler Bindung und europäischer Identifikation durch eine zweiseitige politisch-kulturelle Grund-strömung -Einerseits verstärkte sich in den achtziger Jahren der Rückzug auf kleinräumige Ebenen und produzierte Teilgruppen auf lokaler und regionaler Ebene. Heimatnostalgie und Geschichtsbewußtsein formten neue Gemeinsamkeit von Bürgern, » deren Zufriedenheit aus der bewußten Zuwendung zur Dorfidylle resultierte. Die Identifikationsräume vieler Bürger verengten sich. Der Regionalismus in vielen westeuropäischen Ländern entspricht international dem Identifikationsprozeß auf der Ebene kleiner Einheiten. -Andererseits existieren tendenziell weltbürgerliche Bezugsperspektiven. Die Bereitschaft, sich auf transnationale Kommunikations-und Austauschprozesse einzustellen, ist gewachsen. West-und Osteuropa rücken gleichermaßen ins Blickfeld.

Diese sozialpsychologisch motivierten individuellen und kollektiven Orientierungen in bezug auf den Nationalstaat und die europäische Integration hängen konditional zusammen. Das resultiert aus dem skizzierten Modell der kollektiven Identität, wonach die unterschiedlichen Teilzugehörigkeiten in einer modernen Gesellschaft grundsätzlich zull sammengehören. Die zeitweise betonte Zuwendung zu einem Teilsegment schließt nicht gleichzeitig die bewußte Ablehnung des anderen Segmentes ein. Wer Ja zur Region oder Nation sagt, muß nicht gleichzeitig gegen Europa sein -und umgekehrt.

Ein bestimmtes Integrationsniveau fordert zudem zwangsläufig die Reaktion regionaler Entscheidungsträger heraus Die Verklammerung regionaler Bedürfnisse mit supranationalen Erfordernissen hilft dabei beiden Polen weiter: Die aus der Sicht des politischen Systems notwendige Stabilität vorübergehender größerer Ungleichgewichte innerhalb von föderativen Strukturen ist für die meisten Bürger politisch nur akzeptabel, wenn diese Einheiten eine gewisse Selbständigkeit, eine bewußte Differenzierung, mehr Regionalismen und eine betonte Eigenidentität aufweisen

Die Menschen leben in der Spannung mehrerer Loyalitäten: in Heimat, Gesellschaft, Staat, Nation, Europa und Weltgesellschaft. Sie fordern vielfältige Identifikationen, weit über die Nation hinaus. Slogans aus dem Marketing pointieren das: „Global denken -lokal handeln“. Dahinter steckt eine ambivalente Beobachtung aus dem Bereich der Marktforschung Die Entwicklungsschritte des europäischen Binnenmarktes führen auf der einen Seite beim Konsumenten langfristig zu Verhaltensänderungen. Erwartet werden Verhaltens-und Konsumangleichung etwa durch wachsende Mobilität. Mittelfristig ist jedoch auf der anderen Seite keinesfalls mit einem Prototyp des „Euro-Verbrauchers“ zu rechnen. Neben der Europäisierung der Verbraucher steht die Rückbesinnung auf nationale oder gar lokale Werte, was besonders im Bereich der Nahrungsmittelindustrie analysierbar ist. Eine traditionelle länderspezifische Konsumentensegmentierung steht somit neben der Annahme einer europaweiten Nachfragehomogenisierung.

Der Nationalstaat ist vor diesem Hintergrund einem doppelten Kompetenzverlust ausgesetzt. Er ist in zweifacher Hinsicht heute bereits überholt und unzeitgemäß: -Der Nationalstaat kann die ihm gestellten Aufgaben der Gewährung von Sicherheit und Wohlfahrt nicht mehr alleine wahrnehmen. Internationale Organisationen und Staatenbündnisse sind Ausdruck der gewachsenen Verflechtungen. Das Selbstverständnis als autonomer und souveräner Staat ist fiktiv. Er ist zu klein, um die anstehenden Probleme zu lösen. -Der Nationalstaat konkurriert aber auch mit regionalen Autonomiebestrebungen. Er ist oftmals zu groß, um spezielle Regelungsbedürfnisse der Provinzen zu befriedigen.

Diese Entwicklungen -Kompetenzabgabe nach oben, zu einem supranationalen Europa, und nach unten zu den Regionen -haben auch dazu geführt, daß der Staat als vorherrschende Analyseeinheit fragwürdig geworden ist. Die Vermehrung ihrer Zahl kann die Tatsache nicht verdekken, daß die Bedeutung der meisten Staaten zunehmend geringer wird. Für unsere Vorfahren war der Nationalstaat noch Ansporn und Stolz im privaten und Schutz und Schirm im öffentlichen Lebensbereich. Wir sehen das heute sachlicher. Er dient uns als Dienstleistungsunternehmen. Die Rolle des Staates als des dominanten internationalen Akteurs, seine klassische Trennung zwischen Innen-und Außenpolitik und die zunehmende ökonomisch-gesellschaftliche Verflechtung (Interdependenz) geben ihm heute einen anderen Stellenwert. Trotzdem kann nicht bestritten werden, daß die Staaten nach wie vor auf der ganzen Welt agieren. Die außen-politischen Entscheidungsträger des Staates sind die allein legitimierten Akteure der internationalen Politik. Nicht ohne Grund sprechen wir noch immer von internationalen und transnationalen Akteuren.

Die Unzeitgemäßheit des traditionellen Nationalstaates soll weiter veranschaulicht werden: Der alte Staat zehrt aus. Er wird zu eng für die Lösung der Probleme, die Aufgaben wandern über seine Grenzen hinweg aus. Das Pathos von der national-staatlichen Souveränität ist längst zu einem idyllischen Ausschnitt aus dem Archiv verkommen. Internationale Arbeitsteilung ist gefragt. Geradezu beschworen wird die schrittweise Überwindung der Idee und des Milieus der alten Nationalstaaten durch den Prozeß einer Europäisierung der Politik. Neue gesamteuropäische Integrationsformen sollen mit Souveränitätsverzichten der staatlichen Akteure einhergehen.

Der Grad der außenwirtschaftlichen Verflechtung läßt keinen Spielraum für Alleingänge: Über 65 Prozent der Exporte und Importe entfallen beispielsweise in Deutschland auf Länder der EG. Spätestens mit dem 1. Januar 1993 und der Errichtung des europäischen Binnenmarktes wird deutlich, in welch hohem Grad das Entscheidungsmonopol mittlerweile von Bonn an die Organe der EG nach Brüssel abgegeben wurde. Die Gewährleistung des wirtschaftlichen Wohlstands ist abhängig von der Integration der europäischen Volkswirtschaften. Diese Gewährleistung der politischen Rahmenbedingungen des Marktes, die bisher weitgehend noch von den Einzelstaaten vorgenommen wurde, wird auf das politische System der EG übergehen. 80 Prozent der marktrelevanten Gesetzgebung werden sich mit der Vollendung des Binnenmarktes auf die europäische Ebene verlagern. Kann man Umweltfragen, Währungsmodalitäten, Verkehrsprobleme im nationalstaatlichen Rahmen klären? Die Probleme sind über die nationalstaatlichen Grenzen längst hinausgewandert. Sie bedürfen der Regelung im europäischen Rahmen.

Auch der Innovationswettbewerb mit den USA und Japan verlangt einen großen Wirtschaftsraum. Ebenso ist der Nationalstaat verteidigungspolitisch anachronistisch. Erst die sicherheitspolitische Integration in das transatlantische und europäische Bündnis läßt auch äußere Sicherheit zu. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die nationalen Handlungsspielräume seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes gewachsen sind.

In der wissenschaftlichen Literatur wird darüber hinaus der Niedergang der internationalen Politik klassischen Musters -mit den Nationalstaaten als Akteuren -beschworen. An ihre Stelle tritt ein neuer Typ, der sich aus den kontinuierlichen Veränderungen aller internationaler Verflechtungen sowie dem Anwachsen nichtstaatlicher Kollektivakteure herausgebildet hat Komplexe Interdependenz so die Bezeichnung, hat die Autonomie des Nationalstaates und seiner herkömmlichen Zielsetzungen verwässert. Den Alltag bestimmen danach heute qualitativ neue Formen der Verflechtung zwischen nationalen Volkswirtschaften auf der einen Seite und zwischen Staat und Gesellschaft auf der anderen Seite. Traditionelle Sicherheitspolitik wird über­ lagert durch ökonomische und ökologische Aspekte der Sicherheit. Postmodern scheinen heute auch die internationalen Beziehungen zu sein. Nationale Souveränität bleibt zwar völkerrechtlich erhalten, sie wird jedoch durch Einbindung in das Geflecht horizontaler und vertikaler Interdependenzen ausgehöhlt.

Aber was gilt denn nun? Die Renaissance der Nation und des Nationalstaates oder das Aufgehen der Nationalstaaten in transnationale Gemeinschaften? Die Antwort muß mehrdimensional ausfallen, denn beides trifft gleichermaßen zu. Strukturelle Asymmetrien, Gleichzeitigkeiten von Gegensätzen und gegenläufige Bewegungen machen das Beziehungsgeflecht von Nationalstaaten und europäischer Integration unübersichtlich: Da konkurriert die europäische Integration zeitgleich mit Akteuren der transnationalen Weltgemeinschaft und nationalstaatlichen Herausforderungen.

V. Identitätsangebote der Nation

Weniger abstrakt sind da schon die Fragen: Wo fühlen sich die Menschen zu Hause? Wie steht es mit ihrer Zugehörigkeit? Das läßt sich nicht pauschal für alle Bürger in Europa beantworten. Doch vieles deutet darauf hin, daß die Mehrheit zur Aufgabe von Souveränität für ein größeres Ganzes durchaus weiter bereit ist, jedoch nicht zur Aufgabe ihrer Identität. Hier wird in ganz Westeuropa Widerstand gegen kulturelle Internationalisierung und verordnete Einheitlichkeit mobilisiert.

So bleibt der Nationalstaat auf absehbare Zeit die zeitbedingte Ordnungskategorie, die politisch relevante Grundbindung eines jeden Bürgers: Der Nationalstaat ist für die Handlungsfähigkeit und die Legitimation des politischen Systems notwendig. Das setzt jedoch voraus, daß er als Garant des demokratischen Verfassungsstaates definiert ist. Überholt ist der Nationalstaat, der im Widerspruch zu aller Realität an der Fiktion der Souveränität festhält, sich gegen die anderen abschließt oder gar kulturelle Homogenität für sich in Anspruch nimmt. Wer auf den Nationalstaat setzt, der muß somit klarstellen, was er damit assoziiert. Das gilt auch für den Nationsbegriff. Bei der Rückkehr zur Nation ist solange Vorsicht geboten, wie sie als ein Vehikel von Homogenisierungstendenzen im Innern und imperialistischen Zielsetzungen nach außen dienen soll. Die politische Idee der Nation ist keine durch kulturelle Eigenschaften klar abgrenzbare Größe. Politisch relevant werden kulturelle Gemeinsamkeiten erst dort, wo ihnen auch eine politische Bedeutung beigemessen wird.

Für die weitere Vertiefung der europäischen Integration kann dies nur von Vorteil sein. Denn dem Nationalstaat kommt an der Schwelle zur Jahrtausendwende auch noch eine ganz andere Aufgabe zu: Nationalstaaten können die europäische Integration sinnvoll ergänzen, wenn man die Identitäts-Bedürfnisse der Bürger ernst nimmt. Nationalstaaten stehen im Gegensatz zur Integration, solange den Menschen Selbstverantwortung und Bindung als menschlich-notwendige Bedingtheit nur auf der Ebene des Nationalstaates gewährt werden. Was die Selbstverantwortung der Nationen einschränkt, kann auch die politische Stabilität gefährden. Es sei denn, die Menschen finden in einer größeren Einheit die gleiche Geborgenheit, die ihnen ihre Nation bieten kann. Denn nicht nur die Identität einer Person, sondern auch diejenige einer Nation ist eine notwendige Bedingung menschlichen Zusammenlebens Die Nationen haben durch den Umbruch in Europa ein neues Gewicht erhalten. Bisher fehlt dieser größeren Einheit jedoch überdies der Verfassungsrahmen, der die Grundrechte der Bürger und alle drei klassischen Gewalten in verläßlicher Form garantiert.

Globale Interdependenzen -soweit sie nicht in einen unmittelbaren Erfahrungskontext der individuellen Betroffenheit überführt werden -sind zu abstrakt, um sozialpsychologisch motivierte Identitätsbedürfnisse zu befriedigen. Als Identifikationsrahmen -als Anker -bleibt die Nation erhalten. Die europäische Integration relativiert mit ihrer Übertragung von Souveränität insgesamt die Rolle jedes einzelnen Nationalstaates. Der Nationalstaat ist deshalb keinesfalls überflüssig, doch er ist weniger wichtig geworden. Der Bedarf an nationaler Identifikation und Souveränität wächst in dem Maße, wie politische und ökonomische Nivellierungsprozesse in Europa zunehmen. Je mehr Vielfalt in Europa eingeebnet wird, desto größer wird das Unbehagen gegenüber mehr Integration. Westeuropa als Produktions-und Marktgemeinschaft ist dabei längst Wirklichkeit Aber gegen eine nivellierte Kulturgemeinschaft wehren sich die Menschen. Je diffuser und kontroverser die gemeinsame europäische Zukunft für viele Menschen erscheint, desto mehr werden erneut die Na­ tionen gegen Europa ins Spiel gebracht. Getrennt wird dabei ein Zusammenhang, der längst Realität ist: Die europäischen Staaten verfolgen innerhalb der EG ihre Integrationspolitik, und zugleich bleiben die bestehenden staatlichen Einheiten als Repräsentationsbasis erhalten. Die nationalen Regierungen sind weiterhin die zentralen Akteure in der EG und bilden gleichzeitig einen integralen Bestandteil ihrer politischen Identität. Überhaupt erwachsen viele Argumente für die Ergänzung der europäischen Integration durch den Nationalstaat aus der europäischen Geschichte. Der Rückblick zeigt die Gefahren, die entstehen können. Denn nur mit der Bedrohung von außen wuchs das europäische Gemeinschaftsgefühl. Mit dem Ende der Gefahr verblaßte stets die Einheit. Dieses Grundmuster der Eigendefinition durch Feindmarkierung durchzieht die europäische Gemeinschaftsorientierung. Europa hat sich meist nur gegen etwas, selten für etwas zusammenschließen können. Das Ende der Ost-West-Konfrontation hat eine neue Unordnung hinterlassen, und die atomare Bedrohung ist zunächst verblaßt. Wenn man es in einer solchen Lage nicht schafft, der europäischen Integration neue sinnhafte Bezüge zu geben und sie alltagspraktisch zu vermitteln, wird das Gift des Nationalismus und der Drang zur Autarkie der Nationalstaaten wieder aufleben. Nur die weitere Integration innerhalb der EG mit ihrer demokratischen politischen Kultur kann diese Konfliktpotentiale substantiell eingrenzen. Doch auch dazu bedarf es weiterer Anstrengungen vor allem jedoch einer belastbaren kollektiven politischen Identität der Europäer als Europäer -und nicht vorrangig als Bürger einzelner Nationen. Subsidiarität als abstrakter Grundsatz der Europäischen Union ist dabei eine zu schwache Norm, um die Beziehungen zwischen den Teilstaaten und dem supranationalen Gesamtstaat auszugestalten. Der Integrationsprozeß schreitet eben nicht im Sinne des klassischen Föderalismus in dem Maße voran, in dem einzelne Staaten spezifische Aufgaben nicht mehr selber zu bewältigen vermögen. Das mag auf der funktionalen Ebene oft zutreffen, aber keineswegs im Gesamtbereich sozialpsychologischer Befindlichkeiten. Ein Neuansatz des europäischen Föderalismus, der die Bewußtseinsebene miteinbeziehen müßte, wäre dennoch hilfreich. Denn gerade Föderationen haben den Vorteil, die Zentren der Loyalität wie der Entscheidungen zu streuen. Dem Nationalstaat wie der EG wäre mit weniger Zentralismus und mehr Bürgemähe sowie Zonen abgestufter Integrationsdichte geholfen. Dahinter steckt das Modell von flexibleren dezentralen Organisa-tionsstrukturen für die eher netzartig verbundene, atomisierte Informationsgesellschaft der Zukunft.

Diesen Gesamtzusammenhang zwischen europäischem Zugehörigkeitsgefühl und der Bereitschaft zur Akzeptanz von demokratisch ausgehandelten Lösungsansätzen besonders in politischen Streitfällen hat der Politikwissenschaftler Graf Kielmansegg herausgearbeitet: „Offenbar werden Mehrheitsentscheidungen nur dann ... als legitim anerkannt oder doch jedenfalls hingenommen, wenn es ein Mehrheit und Minderheiten umgreifendes Bewußtsein gemeinsamer kollektiver Identität gibt, welches verhindert, daß die Mehrheitsentscheidung als Fremdbestimmung wahrgenommen wird. Das Recht, für alle verbindlich zu entscheiden, hat die Mehrheit nur, weil und insoweit sie ein Ganzes repräsentiert, dem auch die Minderheit sich zurechnet. Für das, was wir Nation nennen, ist ein solches -in langen und langsamen geschichtlichen Prozessen gewachsenes -Bewußtsein gemeinsamer kollektiver Identität konstitutiv... Ein freies Gemeinwesen braucht das Zusammengehörigkeits-und Zugehörigkeitsbewußtsein seiner Bürger mehr als jedes andere Regime.“

Dieses Bewußtsein europäischer kollektiver Identität fehlt jedoch mehrheitlich bisher. Die weitgehend realisierte Integration als politische Entscheidungsfindung und als gesellschaftliche Verflechtung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade auf der sozialpsychologischen Ebene der Integration nur Ansätze gemeinsamen europäischen Bewußtseins meßbar sind. Wachsende Mehrheitsentscheidungen schwächen unter diesem Gesichtspunkt fehlender kollektiver Identität die demokratische Legitimität. Denn es sind ja in der kollektiven Wahrnehmung immer die anderen, fremden Staaten, die sich durchgesetzt haben. Auch deshalb hat die Nation bleibende Funktion: Denn je größer das Bedürfnis der Bürger nach Identität unter den Zwängen der Entfremdung und Fremdbestimmung ist, um so größer wird die potentielle Macht der Nationalstaaten. Sie können diese Sehnsüchte kanalisieren

Dieses Dilemma spricht nicht gegen Europa. Ganz im Gegenteil: Nur ein geduldiges langfristiges Zusammenwachsen garantiert ein demokratisch verfaßtes Europa. Die EG war jahrzehntelang Nutzen-und Schicksalsgemeinschaft. Wir sind erst noch auf dem Weg zur notwendigen Erfahrungsgemeinschaft. Die Europäer haben in ihrer Geschichte off die Schleichwege zum Chaos gesucht. Doch wenn es Lehren aus der europäischen Historie gibt, dann die, daß die europäische Einigung nur mit, nicht gegen die Nationen und ihre legitimen Eigenschaften vor sich gehen kann. Ebenso müssen die Nationen lernen, daß auch sie sich aus einer Vielzahl von regionalen, ethnischen, sprachlichen Einheiten zusammensetzen Sie sind vielfach längst multikulturell, ohne es in der politischen Programmatik zuzugeben.

Europäische Integration als werthafte Bindung und Garantin der Freiheit, als Gemeinschaft, in der nationale Rivalitäten und machtpolitische Konfliktpotentiale durch das gemeinsame Recht gezähmt werden, diese Integration ist eine willkommene Ergänzung der Nationalstaaten. Sie repräsentiert europäisches Bürgerbewußtsein. Aber diese Integration muß auch stets mit den Nationen rechnen. Denn sie sind noch immer der Baustein einer zukünftigen Weltgesellschaft. Wie können Nationalstaaten Europa bedrohen, das selbst immer nur ein Europa der Nationen war? Die Vielfalt Europas provoziert stets mehr komplexe Fragen als schlüssige Antworten -wir sollten deshalb nicht vorschnell auf populistisch oder bürokratisch verkürzte Scheinlösungen hereinfallen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. in: Dietrich Thränhardt, Globale Probleme, globale Normen, neue globale Akteure, in: Politische Vierteljahres-schrift, (1992) 2, S. 219.

  2. Charles Maier, Die Gegenwart der Vergangenheit, Frankfurt-New York 1992, S. 11.

  3. Ralf Dahrendorf, Die Sache mit der Nation, in: Merkur, (1990) 500, S. 823.

  4. Vgl. Ulrich Beck, Der Konflikt der zwei Modernen, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften, Frankfurt-New York 1990, S. 40-53.

  5. So für die EG-Länder differenziert herausgearbeitet von Stefan Hradil, Sozialstrukturen und gesellschaftlicher Wandel, in: Oscar W. Gabriel (Hrsg.), Die EG-Staaten im Vergleich, Opladen 1992, S. 91; vgl. ebenso Hartmut Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880-1980, München 1987.

  6. Vgl. zur Definition Herman Kunst u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 19752, S. 1589-1595, sowie die entsprechenden Stichwörter in: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Körte (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt-New York 1992.

  7. Grundsätzlich Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt 1985; Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt 1991; Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland, München 1993.

  8. Vgl. R. Dahrendorf (Anm. 3).

  9. Zu den affektiven Bindungen an politische Gemeinschaften in Ost-und Westdeutschland vgl. Bettina Westle, Strukturen nationaler Identität in Ost-und Westdeutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1992) 3, S. 466-470; dies. /Oskar Niedermayer, Die EG im Urteil ihrer Bürger -ein sozialwissenschaftlicher Untersuchungsansatz, in: Integration, (1991) 4, S. 177-186.

  10. Vgl. Hans Peter Dreitzel, Selbstbild und Gesellschaftsbild. Wissenssoziologische Überlegungen zum Image-Begriff, in: Europäisches Archiv für Soziologie, (1962) 3, S. 181-228; Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt 1969.

  11. Zum sozialpsychologischen Identitätsbegriff vgl. Erik H. Erikson, Dimensionen einer neuen Identität, Frankfurt 1975; Lothar Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart 19754.

  12. Weiterführend Karl-Rudolf Körte, Nationale Identifikation und europäische Bindung, in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hrsg.), Politische Kultur in Deutschland, Opladen 1987, S. 222-228; zu empirischen Daten vgl. Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Körte, Die Deutschen. Profil einer Nation, Stuttgart 1991.

  13. Vgl. Christian Engel, Regionen in der EG: Eine integrationspolitische Rollensuche, in: Integration, (1991) 1, S. 9-20.

  14. Vgl. zu diesem Grundgedanken Kurt Biedenkopf in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1992) 5, S. 631-636.

  15. Vgl. dazu Herbert Meffert, Euromarketing im Spannungsfeld zwischen nationalen Bedürfnissen und globalem Wettbewerb, in: Roland Berger (Hrsg.), Handbuch Europa '92. Strategien für unternehmerische Erfolge im Gemeinsamen Markt, Düsseldorf u. a. 1990, S. 37-50.

  16. Vgl. James N. Rosenau, Turbulence in World Politics. A Theory of Change and Continuity, Hemel Hempstead 1990.

  17. Vgl. David Baldwin, Interdependence and Power: A Conceptual Analysis, in: International Organization, (1980) 36, S. 471-506; Robert O. Keohane/Joseph S. Nye, Power and Interdependence, Gienview 1989; Hanns W. Maull, Wirtschaftliche Dimensionen der Sicherheit, in: Europa-Archiv, (1989) 5, S. 135-144.

  18. Dazu ausführlich Kurt Hübner, Das Nationale. Verdrängtes, Unvermeidliches, Erstrebenswertes, Graz u. a. 1991, S. 229; Kurzüberblick bei Klaus von Dohnanyi, Ja zur Nation, in: Die Zeit vom 12. 7. 1991.

  19. Belege dazu bei H. Kaelble (Anm. 5).

  20. Peter Graf Kielmansegg, Ein Maß für die Größe des Staates, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 12. 1992; weiterführend Werner Weidenfeld (Hrsg.), Wie Europa verfaßt sein soll. Materialien zur Politischen Union, Gütersloh 1991.

  21. Vgl. Karl W. Deutsch, Nation und Welt, in: Abraham Ashkenasi/Peter Schulze (Hrsg.), Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972, S. 214.

  22. Diese Grundgedanken bei Hagen Schulze, Die Wiederkehr Europas, Berlin 1990, S. 64; vgl. auch Peter Koslowski (Hrsg.), Europa imaginieren. Der europäische Binnenmarkt als kulturelle und wirtschaftliche Aufgabe, Berlin u. a. 1992.

Weitere Inhalte

Karl-Rudolf Körte, Dr. phil., geb. 1958; stellv. Leiter der Forschungsgruppe Deutschland und Akademischer Rat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz. Veröffentlichungen u. a.: Der Standort der Deutschen, Köln 1990; (zus. mit W. Weidenfeld) Die Deutschen. Profil einer Nation, Stuttgart 1991; (Mithrsg.) Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt -New York 1992; Über Deutschland schreiben. Schriftsteller sehen ihren Staat, München 1992; Nation und Nationalstaat. Bausteine einer europäischen Identität, Melle 1993.