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Verfassungspatriotismus als Identitätskonzept der Nation | APuZ 14/1993 | bpb.de

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APuZ 14/1993 Wiederkehr eines Totgesagten: Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts Die nationalstaatliche Herausforderung in Europa Das Dilemma des Nationalstaates in Westeuropa: Zur Identitätsproblematik der europäischen Integration Verfassungspatriotismus als Identitätskonzept der Nation

Verfassungspatriotismus als Identitätskonzept der Nation

Jürgen Gebhardt

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der von Dolf Stemberger geprägte Begriff des Verfassungspatriotismus spielt in der kontroversen Diskussion um die Identität der Deutschen vor und nach der deutschen Einigung eine wichtige Rolle. Sternberger bezog diesen Begriff auf die politisch-soziale Realität des deutschen Gemeinwesens, seine „lebende Verfassung“. Seiner ursprünglichen Bedeutung nach ist der Begriff sowohl deskriptiv als auch normativ konzipiert als ein politischer Patriotismus, insofern er einen dem westlichen Modell der Staatsbürgemation angemessenen politischen Patriotismus für die Bundesrepublik Deutschland postuliert. Eine empiriegeleitete Analyse der deutschen politischen Kultur bestätigt, daß sich diese sowohl von ihrer politischen Sozialkultur wie auch der darauf bezogenen politischen Deutungskultur her als eine verfassungszentrierte demokratische politische Kultur beschreiben läßt, deren Erscheinungsbild und normativen Ordnungsgehalte auf eine verfassungspatriotische Identität zu schließen erlauben. Kritiker Stembergers deuten den Verfassungspatriotismus, entgegen dessen ausdrücklicher Auffassung, als ein ideologisches Substitut für das dem westdeutschen Teilstaat fehlende genuine Nationalbewußtsein. Sie knüpfen hierbei an die diskurstheoretische Umdeutung des Begriffs an, die Jürgen Habermas vorgenommen hat. Gegen Habermas’ These vom postnationalen „abstrakten Patriotismus“ ist aber einzuwenden, daß der Verfassungspatriotismus als Konkretisierung der in der Bundesrepublik gewachsenen Idee der Staatsbürgemation ein für das neue Deutschland unabdingbarer nationaler politischer Patriotismus ist. Denn nur ein solcher Patriotismus sichert die aus der geschichtlichen Erfahrung gewonnene politisch-ethische Entscheidung für eine auf dem gemeineuropäischen Traditionsfundament gegründete moderne „Politie“ auf Dauer soziokulturell ab.

I. Die deskriptive und normative Bedeutung des Begriffs Verfassungspatriotismus

Zum Verfassungstag 1979 verfaßte Dolf Stemberger eine kurze Würdigung des Grundgesetzes unter dem Titel „Verfassungspatriotismus“. Den Begriff hatte er schon Jahre vorher geprägt, nunmehr verdeutlichte er, worum es ihm ging: In den vergangenen Jahrzehnten „ist den nationalen Gefühlen ... ein helles Bewußtsein von der Wohltat dieses Grundgesetzes zugewachsen. Die Verfassung ist aus der Verschattung gekommen, worin sie entstanden war. In dem Maße, wie sie Leben gewann, wie aus bloßen Vorschriften kräftige Akteure und Aktionen hervorgingen, wie die Organe sich leibhaftig regten, die dort entworfen, wie wir selbst die Freiheiten gebrauchten, die dort gewährleistet waren, wie wir in und mit diesem Staat uns zu bewegen lernten, hat sich unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotismus ausgebildet.“ Sternberger spricht also von einem empirischen Sachverhalt: Er beschreibt, wie eine von dem 1949 begründeten verfassungsstaatlichen institutionellen Gefüge geprägte gesellschaftliche Praxis im Verlauf der Jahre zu einer prinzipiellen Identifikation der Bürgerschaft mit den Institutionen und deren Ordnungsidee geführt hat. Mit anderen Worten, es hat sich eine verfassungszentrierte demokratische politische Kultur herausgebildet. Stemberger drückt in seiner bildhaften Sprache eine Sicht der Dinge aus, die M. Rainer Lepsius in einer sozialwissenschaftlichen Analyse bestätigt. In den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland hatte „die Bildung neuer Institutionen gegenüber der Bildung einer neuen politischen Kultur einen Vorlauf“. Die Gründer des Verfassungsstaates waren wohl zur Demokratie entschlossen, dessen Bürger waren aber noch keineswegs mehrheitlich in einer demokratischen politischen Kultur sozialisiert. Schließ­ lieh bedürfe „die Bildung einer politischen Kultur weit längere Zeiträume als die Errichtung einer institutioneilen Ordnung“ Über die „Selbsterfahrung der institutioneilen Ordnung hat sich die politische Kultur geformt, und über diese werden die neuen Generationen sozialisiert. Der ursprüngliche Vorlauf der Institutionenbildung gegenüber der Sozialisation in eine politische Kultur hat damit sein Ende gefunden.“

Der hier skizzierte Entstehungszusammenhang von Institutionen und politischer Kultur verleiht dem für die soziopolitische Ordnung konstitutiven Selbstverständnis der deutschen Republik seine eigentümlichen Merkmale und bestimmt auf eine noch näher zu erläuternde Art und Weise das Zusammenwirken der vielfältigen, in sich auch widersprüchlichen geschichtlichen Traditionen der deutschen politischen Kultur. Ihr Inhalt, so charakterisiert Lepsius den hervorstechenden Zug dieser politischen Kultur, „ist stark vom Grundgesetz, seinen materialen Wertvorgaben und seinen formellen Vorgaben für die Konfliktaustragung bestimmt“. Hierin findet die politische Kultur „ihren einheitlichen Wertbezug“, den Lepsius mit Stemberger „Verfassungspatriotismus“ nennt, um ihn vom deutschen Nationalismus alter Provenienz zu unterscheiden Denn, so faßt Lepsius an anderer Stelle zusammen, „die Ausdifferenzierung eines Verfassungspatriotismus, die Zustimmung zu einer durch Selbstbestimmungsrechte konstituierten politischen Ordnung und deren Abgrenzung von einer Ordnungsidee der ethnischen, kulturellen, kollektiven . Schicksalsgemeinschaft sind das zentrale Ergebnis der Entlegitimierung des deutschen Nationalismus“

In dem hier vorgetragenen Sinn hat der Begriff des Verfassungspatriotismus eine deskriptive und eine normative Bedeutung. Er ist deskriptiv, insofern er konstatiert, daß die Verfassung der entschei-dende Kristallisationspunkt der Gemeinsamkeit im soziopolitischen Gefüge der Republik ist und die Ordnungsidee der Verfassung das sinnverbürgende Ensemble von Ideen, Glaubenshaltungen, Gefühlen, Einstellungen und Verhaltensweisen derart durchformt, daß die Kongruenz von politischem System und politischer Kultur gewährleistet ist, das politische Leben eine latente Kohärenz aufweist. Die Anhänglichkeit an und die Loyalität zum Gemeinwesen, die im Verfassungspatriotismus zum Ausdruck kommen, betont Stemberger, können nicht einem juristischen Dokument oder den abstrakten Prinzipien der Grundordnung gelten sondern der „lebenden Verfassung, an der wir täglich mitwirken“ und der sich die Bürger in „Staatsfreundschaft“ sittlich verbunden wissen

In solchen Formulierungen klingt aber auch das normative Moment im Verfassungspatriotismus an. Stemberger beschreibt keineswegs „wertfrei“ die Elemente eines durch die Verfassung normierten bürgerschaftlichen Bewußtseins, eines Bürger-ethos, in Deutschland und die damit verknüpfte Hinwendung der deutschen zur geistig-politischen Welt der westlichen Verfassungsstaaten. Vielmehr begreift er dieses Ordnungsparadigma als die der Humanität des Menschen, d. h.seiner Vemunftnatur unter dem Horizont der neuzeitlichen Erfahrung, allein angemessene politische Ordnungsform, welche der Fähigkeit des Menschen zur bürgerschaftlichen Selbstregierung Rechnung trägt. Das ist die theoretische Prämisse von Stembergers Verfassungspatriotismus. Die Besinnung auf diese theoretische Vorgabe ist Sache eines reflexiven Verfassungspatriotismus.

Die der Idee des Verfassungspatriotismus implizite normative Komponente wurde insbesondere vom Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker herausgestellt und appellatorisch verstärkt. Für ihn belegt die vierzigjährige verfassungsstaatliche Geschichte der Bundesrepublik, daß der „Verbindung des Gedankens der Verfassung mit dem Gedanken des Patriotismus die Selbstverständlichkeit einer Wahrheit“ zugewachsen ist. „Die Deutschen waren nicht nur mit der Bildung eines Nationalstaates in Verzug, viel später noch haben sie sich den Verfassungsstaat angeeignet. Indem sie es taten, schufen sie sich die Grundlagen für einen aufgeklärten Patriotismus.“ Diese Deutung des Verfassungspatriotismus als Ausdruck einer sinn-stiftenden Versöhnung des Partikularen mit dem Universalen der menschlichen Existenz im Gemeinschaftsbewußtsein der Deutschen wurde im Verlauf des sogenannten Historikerstreites von Jürgen Habermas aufgenommen und in der folgenden bis heute anhaltenden kontroversen Diskussion um das deutsche Selbstverständnis auf eine ganz spezifische Art fortentwickelt. Habermas nimmt das zentrale Motiv im Verständnis des Verfassungspatriotismus auf, wenn er feststellt, daß dieser der einzige Patriotismus sei, der uns dem Westen nicht entfremde. Aber er läßt es offen, ob denn die Entscheidung für eine verfassungspatriotische Identität im politisch-kulturellen Selbstverständnis der Bevölkerung nur eine „Anpassung an eine Konstellation oder eine in Überzeugung wurzelnde, prinzipiengeleitete intellektuelle Neuorientierung“ beinhaltet habe In bezug auf die inhaltliche Bestimmung des Verfassungspatriotismus verschärft er die universalistischen Implikationen in Richtung auf einen abstrakten Normativismus. Er spricht von einem „abstrakter gewordenen Patriotismus, der sich nicht mehr auf das konkrete Ganze der Nation, sondern auf abstrakte Verfahren und Prinzipien bezieht“. „Die abstrakte Idee der Verallgemeinerung von Demokratie und Menschenrechten bildet... das harte Material, an dem sich nun die Strahlen der nationalen Überlieferung brechen -der Sprache, der Literatur und der Geschichte der eigenen Nation.“

Ist es schon nicht einfach, hierin noch Stembergers Idee der „lebenden Verfassung“ als Lebenselexier des verfassungspatriotischen Bürgerethos wieder-zuerkennen, so gilt dies um so mehr für die Deutung des Verfassungspatriotismus als Symptom einer generellen Formveränderung der nationalen Identitäten in den westlichen Industrieländern. Ohne Belege anzugeben behauptet Habermas, daß sich „Ansätze zu einer postnationalen, auf den Verfassungsstaat bezogenen Identität nur im Rahmen über die Bundesrepublik hinausgreifender Tendenzen entfalten und stabilisieren“ Damit wird Stembergers Intention in ihr Gegenteil verkehrt. Stemberger wollte eine alteuropäische pränationale Tradition des Patriotismus, der seiner Meinung nach „ursprünglich und wesentlich Verfassungspatriotismus gewesen ist ... und ... es heute in Deutschland noch und wieder sein könnte“ in Erinnerung rufen, nicht aber einen Entwurf für eine zukünftig postnationale und posttraditionale Identität der modernen Industriegesellschaft liefern.

Sternbergers eher assoziativ argumentierende Begriffsbildung ist in der Tat offen für vielfältige Interpretationen, und indem Habermas, der führende Denker der deutschen Linken, dem Begriff seine eigene Interpretation unterlegte, erlangte dieser einen neuen Stellenwert im intellektuell-politischen Meinungsstreit um die „richtige“ Auslegung der deutschen Identität nach der Einigung. Da dieser Meinungsstreit aber untrennbar mit der konkreten Wirklichkeit der deutschen politischen Kultur verbunden ist, wenden wir uns erneut dem deskriptiven Aspekt des Verfassungspatriotismus zu und fragen, ob und inwieweit der eigentümliche Charakter dieser politischen Kultur durch das Konzept des Verfassungspatriotismus sinnvoll erschlossen werden kann.

II. Der Verfassungspatriotismus und die politische Kultur der Deutschen

Eine politologische Differentialanalyse der bundesrepublikanischen politischen Kultur würde den Rahmen unserer Erörterungen sprengen. Ich gehe daher problemorientiert vor und beschränke mich auf einige für unser Thema zentrale allgemeine Aspekte der politischen Kultur.

Auf die Frage, ob der demokratische Verfassungsstaat die Anhänglichkeit, Zuneigung und Loyalität, also Patriotismus erwecken und bewahren könne, antwortete Stemberger mit dem Hinweis auf die Schweiz und auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Insbesondere letztere „werden durch nichts anderes geeinigt als durch ihre Verfassung und durch die patriotischen Gefühle, die ihr, der Verfassung, entgegengebracht werden“ Wenn wir die herausragende ideenpolitische Bedeutung des Verfassungsdenkens für die mentale Form dieser politischen Kultur, für das Institutionengefüge und für den politischen Prozeß betrachten, so läßt sich tatsächlich eine gewisse Struktur-analogie feststellen: Es handelt sich in jedem Fall um eine verfassungszentrierte demokratische politische Kultur. Rückt jedoch eine vergleichende Forschung die jeweilige historisch-politische Gestalt der verschiedenen „Politien“ im Hinblick auf ihre Gesamtordnung in den Blick des Betrachters, so wird deutlich, daß sich die durch die historisch gewachsene und genau beschreibbare Selbstinterpretation des „Amerikanismus“ bestimmte Bürgerkultur der USA, wie auch die Institutionen und Gesellschaftsstrukturen, in ihren wesentlichen Zügen nicht unmittelbar mit der bundesrepublikanischen Ordnung vergleichen lassen Es empfiehlt sich also, von einem deutschen Verfassungspatriotismus zu sprechen, ihn als genuines Produkt der jungen Geschichte des neuen deutschen Verfassungsstaates zu begreifen, insofern er spezifische Momente der deutschen Selbstinterpretation auslegt. Ganz allgemein ist in diesem Zusammenhang festzustellen, daß die zwei Dutzend langfristig stabilen demokratischen Verfassungsstaaten, zu denen Deutschland heute zweifellos zählt, zwar um einen gemeinsamen ordnungspolitischen Kembestand organisiert sind, aber in ihrer jeweiligen geschichtlichen konkreten Gestalt, politischen Kultur, soziopolitischen und ökonomischen Verfaßtheit und insbesondere institutionellen Ausprägung höchst verschieden sind. Innerhalb dieser Formen-vielfalt der demokratischen Welt muß die deutsche „Politie“ auf die ihr eigentümlichen Strukturmerkmale hin analysiert und theoretisch verortet werden. Hierbei richtet sich naturgemäß unser Augenmerk auf das Erscheinungsbild der deutschen Politik vor der Einigung. Erst vor diesem Hintergrund sind vorsichtige Vermutungen über zukünftige Entwicklungen zulässig.

Stembergers Idee des Verfassungspatriotismus bezog sich auf das Zusammenspiel von Konsens und Konflikt in seinen mannigfachen organisatorisch-institutionellen Formen, das er „lebende Verfassung“ nannte. Er sah das „staatliche Moment“ im Verfassungsstaat gleichsam in einer vielgestaltigen bürgerschaftlichen Praxis verflüssigt. Die solchermaßen durch die „lebende Verfassung“ mediatisierte Staatsgewalt bestimmt das Wesen bürgerschaftlicher Politik, wie sie sich in der „oligarchisch-demokratischen Doppelgestalt“ des modernen Verfassungsstaates, d. h.der wechselseitigen Verknüpfung und Abhängigkeit einer politischen Klasse und einer allgemeinen Bürgerschaft im „verfassungsstaatlichen Lebensprozeß“ manifestiert. Wenn Sternberger also von der „lebenden Verfassung“ sprach, so hatte er das „Ganze des Verfassungsstaates“, das er mit einem alteuropäischen Ausdruck als „Politie“ bezeichnete, im Auge: „Der Staat ist beides zugleich, Bürgerstaat und Parteienstaat, Demokratie und Oligarchie in Mischung und Verknüpfung, und darum nennen wir ihn die neue Politie.“ „Lebende Verfassung“ meint den Gesamtkomplex von politischer Kultur, Institution und Prozeß. In diesem Sinne ist die Verfassung das Vaterland. Nicht einer idealisierenden Verkürzung der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit redet Sternberger in seinen Bemerkungen über den Verfassungspatriotismus das Wort. Hinter der Rede vom Verfassungspatriotismus steht ein langjähriges empirisches Studium der deutschen politischen Verhältnisse

In die Sprache der politischen Kulturforschung übersetzt, benennt der Begriff des Verfassungspatriotismus jenes Grundmuster der politischen Kultur, das die Identifikation der Individuen mit der gemeinschaftlichen Welt der soziopolitischen Ordnung ebenso umfaßt wie die wechselseitigen Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder untereinander. Sternberger geht ganz selbstverständlich von der Fortwirkung geschichtlicher Traditionsbestände in der „lebenden Verfassung“ aus und ist deshalb nicht blind für spezifische geschichtlich bedingte Eigentümlichkeiten und Defizite im Erscheinungsbild der deutschen Politie. Doch sie treten in der Gesamtanalyse zurück, obwohl sie doch der verfassungszentrierten politischen Kultur der Deutschen ihre besonderen Züge verleihen und für die Bestimmung dessen, was Verfassungspatriotismus in diesem besonderen Fall genannt werden kann, nicht unerheblich sind.

Politische Kultur bezieht sich sowohl auf die subjektive psychische Welt der individuellen Orientierungen gegenüber dem politischen Gemeinwesen, auf den Komplex subjektiven Wissens, Fühlens und Wertens, wie auch auf die objektive, transsubjektive soziale Sinnwelt, innerhalb derer sich Subjektivität entfaltet. In dieser ihrer subjektiven und objektiven Gestalt tritt sie uns zum einen als lebensweltlich verankerte Grundstruktur des gesellschaftlichen Alltagslebens, als politische Soziokultur, zum andern als deren symbolische Auslegung, als politische Deutungskultur entgegen

Es ist nun unbestreitbar, daß die These vom Verfassungspatriotismus aus den empirisch überzeugend dokumentierten Wandlungen im subjektiven Bereich der Einstellungs-und Verhaltensmuster über die vergangenen Jahrzehnte hinweg eine Bestätigung gefunden hat. „Dem Wirtschaftsstolz, für den die Umfragen bis in die siebziger Jahre hinein steigende Tendenzen bescheinigen, steht komplementär die Hochschätzung der Demokratie gegenüber. Offenbar hat eine Angleichung an ein Identifikationsprofil westlicher Standards stattgefunden: Der Stolz auf politische Systemmerkmale hat sich weit nach vorne geschoben. Die Bezugnahme auf politische Institutionen hat deutlich zugenommen.“

In einem exemplarisch durchgeführten Vergleich mit Großbritannien zeigt sich: „Die gefühlmäßige Anbindung an die eher abstrakten institutionalisierten Errungenschaften des politischen Gemeinwesens hat in Deutschland praktisch die gleiche Intensität erreicht wie in Großbritannien.“ Die Autoren der Studie folgern aus ihren Befunden: „Der ausgeprägte Stolz auf das Grundgesetz basiert nicht nur auf dem Bewußtsein, mit der freiheitlichsten deutschen Verfassung zu leben, sondern auch in dem Bewußtsein der dem System innewohnenden freiheitlichen Regeln und Verfahren, die jeder individuell ausschöpfen kann.“ Die hier konstatierte Grundloyalität zum Gemeinwesen und die prinzipielle Akzeptanz der zentralen Institutionen, der diesen zugeordneten Verfahrensweisen sowie der hierin beschlossenen sozialen Verkehrsformen ist wie auch in anderen westlichen Staaten der Erklärungsrahmen für die ebenfalls von der Einstellungsforschung ausgemachte Unzufriedenheit mit spezifischen „Funktionsdefiziten des politischen Systems“ und die damit verknüpfte Geringschätzung von Regierung, Parteien und des politischen Personals insgesamt. Hierbei ist es vielleicht bezeichnend, daß das Bundesverfassungsgericht vom allgemeinen Vertrauensverlust der öffentlichen Institutionen und Großorganisationen nicht betroffen ist

Ohne auf die Interpretationsprobleme einzugehen, die sich notwendigerweise bei der Beurteilung solcher empirischer Befunde ergeben, signalisieren diese doch insgesamt eine Tendenz zu einer bürgerschaftlich ausgerichteten politischen Bewußt-seins-und Ideenwelt und zu einer Rückbildung der überkommenen deutschen Untertanenmentalität. Der für die frühen Jahre der Bundesrepublik charakteristisch hohe Stellenwert des ökonomischen Systems und seiner Leistungsfähigkeit ist erhalten geblieben. Hierin drückt sich der für alle modernen Gesellschaftskulturen typische utilitaristischfunktionale Grundzug der Lebensauffassung aus, der auch die deutsche politische Kultur auf weite Strecken hin prägt. Weiterhin gilt allerdings, daß die Deutschen ihre Rolle im Gemeinwesen nicht allein vom Standpunkt der staatsbürgerlichen Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten her deuten. Denn gleicherweise erwarten sie vom „Staat“ die Befriedigung ihrer als legitim empfundenen wirtschaftlichen und sozialen Ansprüche und beurteilen die politische Leistungsfähigkeit und politische Leistungsgerechtigkeit ihrer gesellschaftlichen Ordnung im Hinblick auf die Herstellung, Zuweisung und Verteilung öffentlicher Güter. So erklärt sich, daß „im Kontext der spezifischen Indikatoren der Systemakzeptanz ... offenbar das Grundgesetz und die eher wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen für diffuse allgemeine Errungenschaften des politischen Systems stehen“ Diese subjektive Systemakzeptanz wird zu Recht als Beleg für eine stabile und soziokulturell verankerte Identifikation mit der spezifisch deutschen wohlfahrtsstaatlich organisierten demokratischen Politie gewertet. Diese wohlfahrtsstaatliche Ausrichtung verweist auf die etatistischen, obrigkeitsstaatlichen Traditionen der deutschen politischen Kultur, welche in der Regel als Hypothek für eine Demokratisierung der politischen Kultur angesehen wurde und wird und es, insbesondere was das überkommene ethnisch definierte Staatsbürger-recht angeht, auch nach wie vor ist.

Ständen sich die etatistischen und die bürgerschaftlichen Elemente der deutschen politischen Kultur in der Tat unversöhnlich gegenüber, hätten wir es also mit einer gespaltenen, nur durch einen utilitaristischen Pragmatismus geeinten politischen Kultur zu tun, so wäre die These vom Verfassungspatriotismus erheblich zu relativieren. Die in sich widersprüchliche Präsenz des etatistischen und des bürgerschaftlichen Momentes ist unbestritten, jedoch scheinen diejenigen Beobachter recht zu haben, welche gerade aus der vollzogenen Verbindung der etatistischen und bürgerschaftlichen Formelemente die für die deutsche Politie eigentümlichen Strukturmerkmale herleiten. Karl Rohe definiert die historische deutsche politische Kultur als eine typische Staatskultur kontinentaleuropäischen Zuschnitts, die bürgerschaftlich-demokratisch transformiert wurde. Die historische Dichotomie von Staat und Gesellschaft lebe, so seine Hypothese, injeinem „hochorganisierten politisch-administrativen System einerseits und der Lebens-und Alltagskultur der Bürger andererseits“ fort. Folgerichtig möchte Rohe die bürgerschaftliche „Demokratienorm im Sinne einer Teilnahmenorm in der Bundesrepublik ... als eine Erweiterung einer bereits lange in der deutschen politischen Kultur verankerten Teilhabenorm begreifen“

Die bürgerschaftliche Unterfütterung der Staats-kultur hat einerseits die autoritär-obrigkeitsstaatliche Fixierung des Etatismus abgebaut, andererseits hat die rechts-und wohlfahrtsstaatliche Traditionskomponente der Staatskultur in einer für die westliche Demokratie vorbildhaften Weise das Gemeinwesen sozialstaatlich untermauert. Was sich in der historisch-politologischen Analyse als eine durchaus problematische Mischung unterschiedlicher Traditionselemente darstellt, fügt sich, wenn auch nicht bruchlos, in der subjektiven Wahrnehmung der Gesellschaftsmitglieder selbst durchaus in einen sinnvollen Zusammenhang ein.

Die hierdurch geleistete subjektive Integration einer von ihren geschichtlichen Voraussetzungen her vielfach fragmentarisierten politischen Kultur ist das Resultat eines verfassungstheoretisch und institutions-politisch von der politischen Elite vorgegebenen objektiven Selbstverständnisses der Republik. Dieses hat -wie gezeigt -der Republik durch den Vorlauf der Institutionenbildung ihr formgebendes Prinzip und ihre legitimierende Leitidee in Gestalt der Verfassung vermittelt. Der Verfassung wuchs von Anbeginn an die zentrale Ordnungsfunktion der Integration einer institutionell, kulturell und sozial fragmentarisierten Gesellschaft zu. Die langfristige Wirkung dieser Ordnungsfunktion beruhte aber umgekehrt darauf, daß die Ordnungsgehalte der Verfassung zum verbindlichen Bezugspunkt der politischen Deutungskultur in Deutschland wurden.

Diese Überlegungen sollen in der folgenden These zusammengefaßt werden: Die Herausbildung einer für die deutschen Verhältnisse spezifischen Mischung etatistischer und bürgerschaftlicher Elemente in einer in sich durchaus stimmigen, utilitaristisch ausgerichteten, demokratischen politischen Kultur geht ursächlich auf das kraftvolle und dauerhafte Zusammenspiel der symbolischen und instrumenteilen Ordnungsfunktion der deutschen Verfassung zurück. Der individuell-subjektive Aspekt der Grundloyalität zum Gemeinwesen ist durchaus ein Argument für die verfassungspatriotische Deutung der politischen Kultur. Diese wird jedoch erst wirklich aussagekräftig, wenn der „Verfassungspatriotismus im Sinne einer solchen zentralen Ordnungsfunktion der Verfassung“ kategorial bestimmt wird

III. Der deutsche Konstitutionalismus

Die Entstehung eines für die deutsche politische Kultur typischen Konstitutionalismus, der sich deutlich von anderen westlichen Konstitutionalismen unterscheidet, ist aufs engste verzahnt mit dieser symbolischen und instrumenteilen Ordnungsfunktion des Grundgesetzes. Diese Unterscheidung von symbolischer und instrumenteller Funktion der Verfassung entstammt dem amerikanischen Verfassungsdiskurs aus den dreißiger Jahren. Als Instrument normiert und reguliert die Verfassung den politischen Prozeß, dient als ein „Instrument of govemment“ oder „Spielregelwerk des politischen Systems“ (H. Vorländer). Es ist dem geschichtlichen Wandel unterworfen, abhängig von gesellschaftlichen Lagen und Machtverhältnissen und praktisch-politisch instrumentalisierbar zu Reform und Gegenreform. Als Symbol verkörperte die Verfassung die legitimierende Leitidee des Gemeinwesens, die Ordnungslogik des politischen Zusammenlebens dank der Autorität eines höheren, transhistorisch und letztlich naturrechtlich begründeten Gesetzes, das jenseits menschlicher Willkür verpflichtende Richtschnur des bürgerschaftlichen Handelns ist Die symbolischen und instrumentellen Aspekte des Grundgesetzes wurden in der politischen Deutungskultur der Bundesrepublik sehr wohl gesehen, aber aus noch zu erläuternden Gründen in ihrer wechselseitigen Zuordnung nur ungenügend analysiert und vornehmlich kritisch betrachtet. „Entweder ist die Verfassung“, schreibt Emst W. Böckenförde, „indem sie das staatlich-politische Leben organisiert und das Grundverhältnis Bürger -Staat regelt, eine Rahmenordnung, dann enthält sie in sich nicht schon das Material, das zu einer Harmonisierung der verschiedenen Rechtspositionen untereinander führt, sondern schlägt Pflöcke ein, insbesondere Abwehrpositionen und spezifische Richtpunkte in Reaktion auf erfahrenes Unrecht ... Oder die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens insgesamt. Dann ist es folgerichtig, ja notwendig, daß alle Rechtsprinzipien und Ausgleichsmöglichkeiten in nuce schon in ihr enthalten sind. Sie ist dann eine dirigierende Verfassung, die auf Verwirklichung der in ihr enthaltenen Grundsätze drängt.“

In der Bundesrepublik, so äußert sich Böckenförde an anderer Stelle, habe sich die Auffassung durchgesetzt, daß die Verfassung nicht nur „Rechtsform und Rechtsdokument, sondern darin und darüber hinaus auch , Wertgrundlage und , Wertordnung des Gemeinwesens“ sei. Eine auf diese Weise als „rechtliche Lebensordnung und Wertgrundlage des politischen Gemeinwesens“ hin interpretierte Verfassung führe zur Überhöhung ihres Geltungsanspruches. Sie beschränke sich nicht mehr „auf ihre traditionellen Gegenstände, ihre wertsetzenden Normierungen sind universal, greifen in alle Lebensbereiche aus. Die Verfassung bezieht das soziale Ganze in sich ein und erhebt -als Wertordnung und Wertsystem -einen unbedingten Geltungsanspruch, der sich auf alle Bereiche des Rechtes erstreckt. Das hat das Bundesverfassungsgericht folgerichtig ausgesprochen.“

Böckenförde steht wie viele andere der von der Verfassungsgerichtsbarkeit inhaltlich aufgeladenen symbolischen Funktion der Verfassung aufgrund der rechtlich-politischen Folgewirkungen skeptisch gegenüber, da diese die Grenze zwischen symbolischer und instrumenteller Funktion verwischen. Dies ist die Konsequenz einer „juristischen Weltanschauung“ (U. K. Preuß), die den Symbolgehalt der Verfassung justitiabel gemacht hat. In einer ebenfalls kritischen, aber zutreffenden Abhandlung „Die Verfassung als Vaterland“ -eine Antwort auf Stemberger -verdeutlicht Josef Isensee die Eigenart der deutschen Verfassungskultur. Auch Isensee hebt hervor, daß das Grundgesetz im Laufe seiner Geltung ungeachtet seines ursprünglich provisorischen Charakters einzigartige Zustimmung und Identifikationskraft erlangt habe. „Die Verfassung als solche steht außerhalb des Streites der Gesellschaft, die an sich alles in Frage zu stellen bereit ist. Es bildet das Symbol, vielleicht das einzige für den positiven Grundkonsens im pluralistischen Dissens.“ Mit staatskonservativem Bedauern fährt er fort, daß „das Wort und die Sache Verfassung zunehmend das Wort und die Sache Staat ablöst“ So beanspruche das Grundgesetz „konsequent und eifersüchtig allein die Spitze der staatlichen Normenpyramide zu besetzen. Der Vorrang der Verfassung wird gesichert durch das Bundesverfassungsgericht.“

Dank des der Verfassung innewohnenden Rechts-charakters und ihrer Normkraft hat die Verfassungsrechtsprechung, ausgehend von der juristischen Deutung der Grundrechte als wertsetzende Staatsfundamentalnorm, deren metapositiver Bezugspunkt die Menschenwürde ist, die Gesamtheit der gesellschaftlichen Lebensbereiche normativ durchformt und alle sozialen Beziehungen verrechtlicht. Nicht zuletzt in dieser Verrechtlichung der politischen Kultur zeigt sich die Verfassungsgebundenheit der politischen Kultur. Sie ist „in hohem Maße rechtsgebunden und juristisch reflektiert“ Eine weitere Folge der „Tendenz ..., die Verfassung als umgreifendes, ganzheitliches System zu deuten, das autark ist gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht, aber auch der öffentlichen Moral und Konvention“, ist der populäre Aspekt des bundesdeutschen Konstitutionalismus: ein populäres Verfassungsverständnis, das sich jenseits der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der juristischen und nichtjuristischen Literatur, in der politischen Rhetorik entfaltet, kurz gesagt, die politische Deutungskultur beeinflußt. „Im Grundgesetz vorgegeben erscheinen nun Gehalte des einfachen Gesetzesrechtes, politische Programme, philanthropische wie interessensverbandliche Wünsche, wirtschafts-und kulturpolitische Modelle.“ Für diesen Sachverhalt hat Peter Häberle die Bezeichnung „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ eingeführt, d. h., „in die Prozesse der Verfassungsinterpretation (sind) potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet“ Wie immer man diesen Verfassungsdiskurs im einzelnen beurteilt, führt Isensee aus, „man kann nicht umhin es zu akzeptieren als demokratische Normalität, als Ausdruck der Popularität der Verfassung“

Das Besondere an der symbolischen Funktion der deutschen Verfassung besteht darin, daß diese in Fortführung der staatskulturellen Tradition einen neuartigen „konstitutionellen Legitimismus“ hervorgebracht hat, der das Wort der Verfassung selbst zum metaphysischen Grund der Ordnung stilisiert Die normative Kraft der amerikanischen Verfassung und deren höchstrichterlicher Interpretation erwächst aus dem für das traditionsgeleitete gesellschaftliche Selbstverständnis konstitutiven weitgefächerten zivilreligiös gebundenen republikanischen Ordnungsparadigma. Die symbolische Funktion der deutschen Verfassung speist sich jedoch vorwiegend aus der rechtsförmlichen Exegese der Ordnungsgehalte der Verfassung selbst und deren dogmatischer Fixierung. Überspitzt ausgedrückt • begründet sich der deutsche Verfassungspatriotismus auf einer rechtslogisch formalisierten politischen Theorie, welcher der Charakter einer implizit metaphysisch begründeten Ziviltheologie zugewachsen ist, für die das Bundesverfassungsgericht ein Auslegungsmonopol in der politischen Deutungskultur beansprucht. Es nimmt wie der Supreme Court der USA gleichsam im römischen Sinn die auctoritas wahr gegenüber der potestas der übrigen Verfassungsorgane und Institutionen der Republik.

Die ziviltheologische Dogmatik normiert die deutsche politische Kultur in vielfacher Hinsicht und kennzeichnet eine als solche sich durchaus synkretistisch vollziehende, das heißt sich aus vielerlei soziokulturellen Quellen speisende, kollektive Identitätsbildung in einer neuartigen deutschen Staatsbürgernation. Der Begriff des Verfassungspatriotismus, so seien diese Erörterungen abgeschlossen, beschreibt unter normativen Vorzeichen eine verfassungszentrierte demokratische politische Kultur, in der sich das bürgerschaftliche und etatistische Element derart erfolgreich mischen, daß die Bundesrepublik trotz der historischen Vorbelastung in der Gestaltung ihrer inneren Verhältnisse und in ihrem außenpolitischen Engagement der westlichen Idee politischer Gesittung auf eine ihr eigene Weise geschichtlich Ausdruck zu geben vermochte.

IV. Verfassungspatriotismus und nationale Identität

Die verfassungspatriotisch durchwirkte politische Kultur der Deutschen bedeutet eine „erhebliche Präzisierung der Idee der Nation auf den Typ der Staatsbürgemation“, der nationalen Identitätsbildung über „die Bürgerrechte und die Verfassungsordnung der Bundesrepublik“, wie M. Rainer Lepsius schon 1982 angemerkt hat So ist nicht einzusehen, warum die verfassungspatriotische Identität gegen die nationale Identität der Deutschen ausgespielt werden sollte. Auch Stemberger hat sich ausdrücklich dagegen gewehrt, den Verfassungspatriotismus als einen Ersatz für einen nationalen Patriotismus mißzuverstehen. Richtig ist, daß der Begriff eines nationalen Verlassungspatriotismus den traditionellen völkisch ausgerichteten Nationalismus delegitimiert hat, jedoch nicht zugunsten jener postnationalen und posttraditionalen politischen Identität, für die Habermas den Verfassungspatriotismus beanspruchen möchte. Wenn der Verfassungspatriotismus die bewußte Option für die verfassungsstaatliche Ordnungsidee westlicher Observanz signalisiert, d. h. für die Staatsbürgemation, dann heißt das nichts anderes, als daß die nationale Identität der Gesellschaft in der „lebenden Verfassung“ eine konkret-geschichtliche Realisierung findet, wie dies in den westlichen Nationalkulturen in vielfältiger Form geschehen ist. Diese Konzeption nationaler Identität delegitimiert jene nationalistische Ideologie, welche das soziale Kollektiv der Nation zur höchsten Realität alles Seins erklärt, die Nation sakralisiert. Ein nationaler Verfassungspatriotismus „kann eine auf das spezifische Gemeinwesen bezogene patriotische und zugleich ausdrücklich universalistische kontrollierte kollektive Identität begründen“ insofern sich diese an einem allgemeinen Begriff der Humanität mißt.

Ungeachtet solcher Überlegungen erhoben sich in der kontroversen Diskussion um die Identität der Deutschen kritische Stimmen, die dem Verfassungspatriotismus die nationale Bindekraft absprachen und für ein traditionsbezogenes Nationalbewußtsein plädierten, dessen Inhalte jedoch weitgehend unbestimmt bleiben. Der Bezugspunkt dieser Kritik ist jedoch nicht die politisch-kulturelle Wirk-lichkeit der „lebenden Verfassung“ Sternbergers, sondern die von Habermas vorgenommene diskurs-theoretische Umdeutung des Verfassungspatriotismus im Sinne einer universalistisch konzipierten subjektlosen Kommunikationsgemeinschaft von Verfassungsinterpreten. Dieser Verfassungspatriotismus konnte zu Recht als eine „dünnblütige, wenn auch wohlmeinende Professorenfiktion“ (Hans-Peter Schwarz), als „ein emotional armes, rationales Konstrukt“ (Karl-Rudolf Körte) oder als „ätherisches Gebilde“ (Hermann Lübbe) mißverstanden und unter Ideologieverdacht gestellt werden. Diese Kritik geht zudem von der Annahme aus, daß der Verfassungspatriotismus ein Substitut für ein fehlendes genuines Nationalbewußtsein des westlichen Teilstaats war und somit mit der deutschen Einigung hinfällig geworden sei.

Hier kommt nunmehr ein Paradox der deutschen politischen Existenz ins Spiel: Als Provisorium gegründet, hatte die Bundesrepublik Deutschland anders als die DDR zum Zeitpunkt der Einigung ein authentisches nationales Selbstverständnis ausgebildet. Die um den Verfassungspatriotismus kristallisierte kollektive Identität transformierte, wie bereits angemerkt, die Bundesrepublik in eine Staatsbürgemation. So war „für die Mehrheit der Westdeutschen ... die Gesamtheit des politischen Gemeinwesens der Bundesrepublik die einzig akzeptable Grundlage für die Vereinigung mit der DDR. In der Vorstellung der meisten wurde so die Bundesrepublik geographisch auf die DDR ausgedehnt, lange bevor dies auch dem staatlichen Beitritt der DDR in der Realität entsprach. Für die Deutschen insgesamt ist die neue Bundesrepublik die einzig denkbare staatliche Hülle der deutschen Nation.“

Es besteht kein Grund, der neuen Bundesrepublik eine andere als die verfassungspatriotisch definierte nationale Identität der alten Bundesrepublik zu wünschen, und die normative Kraft des Faktischen, so steht zu hoffen, wird ungeachtet aller Veränderungen die staatsbürgerlich ausgerichtete politische Kultur als das tragende Fundament der verfassungsstaatlichen Ordnung in seinen verfassungspatriotischen Wesenszügen auch für zukünftige Generationen bewahren und fortentwickeln.

Dolf Stemberger ging es um die bürgerschaftliche Ordnungslogik des deutschen Verfassungsstaates -sie lebt nur im Ethos der Bürger selbst. Ein reflexi­ ver Begriff des Verfassungspatriotismus muß sich stets erneut auf die geistig-politischen Voraussetzungen dieses Ethos besinnen: die Bürgertugend und die sie begründende „politische Metaphysik der Demokratie als selbstverantwortliche Bürgerschaft“, wie Herbert Lüthy es nannte In anderen Worten: Der Verfassungspatriotismus lebt auch und nicht zuletzt aus dem Nachdenken über den Verfassungspatriotismus. Denn die geistig-sittlichen Wurzeln des deutschen Verfassungspatriotismus sind nicht sehr ausgeprägt, ihre Kräftigung bleibt stete Aufgabe.

Fussnoten

Fußnoten

  1. D. Stemberger, Verfassungspatriotismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 23. 5. 1979; ders., Verfassungspatriotismus, Frankfurt 1990, S. 13.

  2. M. R. Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 63f.

  3. Ebd. S. 84.

  4. Vgl. ebd., S. 68.

  5. M. R. Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des , Großdeutschen Reiches", in: M. Haller u. a. (Hrsg.), Kultur und Nation, Frankfurt 1989, S. 254L

  6. Vgl. D. Stemberger, Verfassungspatriotismus. Rede zur 25-Jahr-Feier der Tutzinger Akademie für Politische Bildung, 1982, in: ders. (Anm. 1), S. 24.

  7. Vgl.ders., Staatsfreundschaft, Frankfurt 1980, S. 227.

  8. R. v. Weizsäcker, Weltoffener Patriotismus, in: FAZ vom 7. 11. 1987, S.! 29.

  9. J. Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt 1987, S. 135, 176.

  10. Ebd., S. 174 f.

  11. Ebd., S. 169.

  12. D. Stemberger, Verfassungspatriotismus (Colloquiumsrede, Heidelberg, 6. 11. 1987), in: ders. (Anm. 1), S. 32.

  13. Ebd., S. 30.

  14. Vgl. hierzu J. Gebhardt, Amerikanismus -Politische Kultur und Zivilreligion in den USA, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49-50/90, S. 3-18; ders., Verfassungspatriotismus -Anmerkungen zur symbolischen Funktion der Verfassung in den USA, in: Akademie für Politische Bildung (Hrsg.), Zum Staatsverständnis der Gegenwart, München 1987, S. 111-130. Zum deutsch-amerikanischen Vergleich siehe J. Schissler, Aspekte der politischen Kultur im Deutschland der Gegenwart, in: Beiträge zur Konfliktforschung, 20 (1990) 3, S. 5-32; H. Vorländer, Grundgesetzverständnis und Verfassungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16-17/89, S. 13-24.

  15. D. Stemberger, Grund und Abgrund der Macht, Frankfurt 1986, S. 349; ders. Die neue Politie, in: ders. (Anm. 1), S. 229.

  16. Vgl.ders., Die neue Politie, in: ders. (Anm. 1), S. 196.

  17. Vgl.ders. (Anm. 15), Kap. 14: Demokratie und Oligarchie -das deutsche Exempel.

  18. Vgl. K. Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse, in: Historische Zeitschrift, Bd. 250 (1990), S. 321-346, hier S. 337.

  19. W. Weidenfeld/K. -R. Körte, Die Deutschen -Profil einer Nation, Stuttgart 1991, S. 132f.

  20. Ebd., S. 136.

  21. Vgl. ebd., S. 110.

  22. Ebd., S.115.

  23. Vgl. P. Reichel, Politische Kultur der Bundesrepublik,

  24. K. Rohe, Kontinuität und Wandel deutscher politischer Kultur in der Bundesrepublik. Thesen und Hypothesen, Beitrag zur Arbeitsgruppe Politische Kulturforschung der DVPW in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, Tutzing 1983, S. 7; vgl. auch ders., Politisches System und Politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. Befunde, Probleme, Perspektiven, in: K. E. Jeismann (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika, Braunschweig 1984, S. 25-54.

  25. P. Haungs, Staatsbewußtsein im Vereinigten Deutschland, in: O. W. Gabriel u. a. (Hrsg.), Der demokratische Verfassungsstaat, München 1992, S. 195-210, hier S. 210.

  26. Vgl. J. Gebhardt (Anm. 14), S. 119.

  27. E. W. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt 1991, S. 197f.

  28. Ebd., S. 47, 51.

  29. J. Isensee, Die Verfassung als Vaterland, in: A. Möhler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, München 1986, S. 11-35, hier S. 14.

  30. Ebd., S. 22.

  31. Ebd., S. 16.

  32. M. R. Lepsius (Anm. 2), S. 81.

  33. J. Isensee (Anm. 29), S. 20.

  34. P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Juristenzeitung, 30 (1975) 10, S. 297-305, S. 297.

  35. J. Isensee (Anm. 29), S. 29.

  36. Vgl. hierzu U. K. Preuß, Politische Verantwortung und Bürgerloyalität, Frankfurt 1984, S. 246.

  37. M. R. Lepsius (Anm. 2), S. 245.

  38. D. Kluxen-Pyla, Verfassungspatriotismus und nationale Identität, in: Zeitschrift für Politik, 37 (1990) 2, S. 119-133, S. 130.

  39. Zitiert nach P. Haungs (Anm. 25), S. 201, 205.

  40. W. Weidenfeld/K. -R. Körte (Anm. 19), S. 141 f., 150.

  41. H. Lüthy, Tugend und Menschenrechte II, in: Merkur, 28 (1974) 309, S. 117-135, hier S. 131; vgl. H. Münkler, Poli­ tische Tugend. Bedarf die Demokratie einer sozio-moralischen Grundlegung?, in: ders. (Hrsg.), Die Chancen der Freiheit, München 1992, S. 25-46.

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Jürgen Gebhardt, Dr. phil., geb. 1934; Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte und Germanistik in München, Berlin und Wien; Habilitation 1969; Ordinarius für Politische Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Politik und Eschatologie, München 1963; (Hrsg.) Die Revolution des Geistes, München 1968; (Hrsg.) James Harrington. Politische Schriften, München 1973; Die Krise des Amerikanismus, Stuttgart 1976; zahlreiche Aufsätze zur politischen Ideengeschichte und vergleichenden Politik.