Parlamentarische Kontrolle in Westeuropa. Strukturen, Probleme und Perspektiven
Herbert Döring
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Zusammenfassung
Eine wichtige Aufgabe des Parlaments ist die Kontrolle der Regierung. Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen parlamentarischer Kontrolle durch den Parlamentarismus (nämlich den Eintritt der führenden Abgeordneten in die Regierung) stark verändert. Auch das Wachstum der Staatsaufgaben, das mit dem Ausbau des unter dem Vorbehalt des Gesetzes stehenden Sozialstaats einhergeht, verändert die traditionellen Kontrollaufgaben. Angesichts der tendenziellen Überforderung der Parlamente, deren Verfahrensregeln aus einer vordemokratischen Zeit mit geringer Staatstätigkeit stammen, stehen ihnen alternative Optionen offen, deren Wahl allerdings Zielkonflikte eröffnet. Solche Zielkonflikte können aus einer neuen Generation von „Rational-Choice-Ansätzen" der Parlamentsforschung abgeleitet werden, die empirische Beschreibungen von Institutionen in die Analyse mit einbeziehen.
James Bryce gab 1921 in einem Vergleich der Demokratien seiner Zeit mit dem Stichwort eines „Niedergangs der Parlamente“ eine seither oft zitierte Parole aus. In der Tat haben „Klagen vom unaufhaltsamen Niedergang der Parlamente ... wie fast alle Niedergangsscenarios, eine lange Tradition“ „Angesichts des Informationsvorsprungs der Exekutive und ihrer hervorragenden personellen Ausstattung mit kompetenten Ministerialbürokratien“, resümiert Peter Lösche die alt-neue Kritik, „sei das Parlament bzw. die Opposition immer mehr entmachtet worden, sie könne die Kontrollfunktion nur schwer, die Willensbildungs-und Artikulationsfunktion nur gelegentlich wahrnehmen und vermöge auch nur punktuell auf die Gesetzgebung einzuwirken.“
Der vorliegende Beitrag gewinnt seine analytische Perspektive aus zwei Annahmen. 1. Mit dem Wachstum der Staatsaufgaben seit dem 19. Jahrhundert sind alle Parlamente in vergleichbarer Weise mit ähnlichen, aus der Literatur bekannten Herausforderungen konfrontiert worden Ein „dreifacher Wandel“ zur Demokratie, zum Sozialstaat und zum Parlamentarismus hat alle Parlamente „geradezu mit Funktionszumutungen“ überbürdet 2. Eine Anpassung ist nicht ohne Zielkonflikte zu erreichen. In bezug auf diese müssen die Parlamente klare Prioritäten bei der Erfüllung ihrer Kontrollaufgaben im demokratischen Sozialstaat setzen. Ohne eine solche klare Entscheidung für alternative Optionen kommt es zu einem endlosen, wechselvollen Laborieren mit Versuchen zur Parlamentsreform, die niemanden zufriedenstellen können
Ob solche Zielkonflikte real bestehen oder nur der analytischen Phantasie des deutenden Betrachters entspringen, kann nicht allein mit abstraktem Raisonnement normativ entschieden werden. Wenn allerdings durch vergleichende Analyse der Verteilung von Strukturmerkmalen über zahlreiche Fälle eines vergleichbaren Gebietes hinweg (hier der 18 nationalen Parlamente in Westeuropa) tatsächlich gezeigt werden kann, daß bestimmte Schlüsselvariablen positiv oder negativ miteinander Zusammenhängen, dann können die theoretisch vermuteten Zielkonflikte als real existent betrachtet werden
L Alternative Rahmenbedingungen
Drei Grundentscheidungen stecken den Rahmen ab, in welchem Kontrolle bei gewandelten Aufgaben möglich ist. Die Art ihrer Verteilung in Westeuropa wird durch Tabelle 1 dokumentiert. 1. Ein Parlament kann in Reaktion auf wachsende Aufgaben die Regierung des Landes als seinen eigenen Exekutivausschuß aus gestandenen Abgeordneten mit einer langen, verhaltensprägenden „Lehrzeit“ in der parlamentarischen Versammlung bilden. Alternativ kann es dazu neigen, eher Spezialisten von außerhalb der Kammer in Ministerämtern zu wünschen.
Die Vorzüge einer Berufung von Ministern ausschließlich oder doch überwiegend aus den Reihen der Abgeordneten sind seit Max Weber bekannt Als „Auslesestätte“ für die politischen Leiter prägt die lange parlamentarische Lehrzeit einen auf Kompromiß, Teamarbeit und Stetigkeit in kollektiver Verantwortung ausgerichteten Verhaltenstyp. Die damit verbundenen Nachteile kommen weniger oft zur Sprache. Eine überwiegende Rekrutierung der Minister aus dem Parlament wird nämlich zur Abnahme von Fachleuten mit praktischer Berufserfahrung in den Kabinetten führen, weil mit der zunehmenden Professionalisierung der Abgeordnetenkarriere weniger Personen mit einer Berufserfahrung außerhalb der „politischen Klasse“ zu Abgeordneten werden. Diese Aussage ist kein gefälliges Klischee eines neuen Anti-Parteien-Affekts, sondern beruht auf hinreichender Analyse
Das Ausmaß, in welchem in den 15 Ländern Westeuropas, für die entsprechende Daten vorliegen, eine Legislative ihre führenden Abgeordneten in die Regierung als den „Exekutivausschuß“ des Parlaments delegiert, wird in Tabelle 1 durch den Anteil der Minister mit vorheriger parlamentarischer „Lehrzeit“ dokumentiert. Auch in der Schweiz, die wegen fehlender Möglichkeit eines Regierungssturzes durch ein Mißtrauensvotum kein parlamentarisches System mit der Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition ist, verfügen im Gegensatz zu den USA fast alle Minister über eine längere Erfahrung im Bundesparlament 2. Als Agent des Parlamentes, welches als Plenarversammlung unter dem allgemeinen Wahlrecht zu groß geworden ist, um anstehende komplexe Probleme rasch zu lösen, können kleine spezialisierte Fachausschüsse von der nominell die Souveränität behaltenden Plenarversammlung eingesetzt und mit weitgehenden Handlungsvollmachten, Hilfspersonal und gerichtlich erzwingbaren Mitteln zur Informationsgewinnung ausgestattet werden. Alternativ dazu kann das Parlament (wie in Großbritannien bis 1979) weitestgehend auf Einrichtung spezialisierter Fachausschüsse parallel zu den wichtigsten Ministerien verzichten.
Die Delegation von Kontrollbefugnissen aus dem Plenum an die Ausschüsse des Parlaments wird in Tabelle 1 durch eine Antwort auf zwei Schlüssel-fragen erfaßt: 1. Dürfen die der Gesetzesberatung dienenden Ausschüsse Regierungsvorlagen redaktionell verändern, oder müssen sie die Gesetzesvorlage in der Originalfassung mit eigens kenntlich gemachten Änderungsvorschlägen präsentieren? 2. Können die Ausschüsse frei über ihre Tagesordnung bestimmen und darf ihnen eine zur Beratung zugewiesene Vorlage nicht entzogen werden, oder ist die Plenarmehrheit auch unbeschränkte Herrin des Verfahrens in den Ausschüssen 3. Als Agenten können unter dem Souveränitätsvorbehalt des Parlamentes auch außerparlamentarische Behörden eingesetzt werden.
In allen Parlamenten Westeuropas (wie in der westlichen Welt) hat sich die Tendenz verstärkt, die „traditionellen Kontrollfunktionen des Parlaments durch neue Hilfsorgane der Volksvertretung“ wie beispielsweise die „Bürgerbeauftragten“ bzw. Ombudsleute zu verstärken. Dies liegt in der Logik der Delegation, bei der das Parlament als Auftraggeber die Oberhoheit behält, def Ombudsmann aber als Agent „in seiner Amtsführung völlig unabhängig und keinerlei Weisungen unterworfen“ ist Nur in einigen westeuropäischen Ländern steht über Parteien und Parlament noch ein unparteiischer, über die Einhaltung der Spielregeln wachender „Hüter der Verfassung“ in Gestalt eines Verfassungsgerichtes Keineswegs alle Verfassungsgerichte dürfen dabei Gesetze des Zentralparlamentes wegen Verfassungswidrigkeit annullieren. So ist das Verfassungsgericht der Schweiz, das immerhin nach den USA das erste in Europa war. auf die Überprüfung der Vereinbarkeit der Gesetze der Kantone mit dem Bund begrenzt.
Auch liegt ein zentraler, für das Verhalten von Parteien und Parlamenten strukturbestimmender Unterschied darin, ob eine bei der Schlußabstimmung im Parlament unterliegende Minderheit sofort im Wege der abstrakten Normenkontrolle das Verfassungsgericht mit dem Ziel der Annullierung des strittigen Gesetzes anrufen darf oder nicht. „Je kontroverser und . ideologischer'die Debatte um eine Gesetzgebungsmaterie geführt wird“, desto mehr neigt die in Deutschland „bundespolitisch unterlegene Minderheit“ dazu, „das Verfassungsgericht gegen den Mehrheitsbeschluß zu mobilisieren“
Ist diese These verallgemeinerbar? Stellt die Bundesrepublik Deutschland mit anderen Worten keinen so einzigartigen Sonderfall dar? Hängt die Politisierung und Aufwertung der Verfassungsgerichte mit dem Recht unterlegener Minderheiten des Parlaments zusammen, einen externen Kontrolleur gegen die das Parlament beherrschende Mehrheit anzurufen? Ein Vergleich von Struktur-daten Westeuropas läßt diese Annahme als wahrscheinlich erscheinen. So hat Nicos Alivizatos für alle 18 Länder Westeuropas eine wohl subjektive, aber durch Sachkenntnis des vergleichenden Rechtswissenschaftlers fundierte Expertenschätzung des Ausmaßes der Politisierung von Verfassungsgerichten (definiert als Verzicht auf „judicial restraint“) aufgestellt. In der großen Mehrheit (d. h. in fünf von sieben) der von ihm als politisch aktiv bezeichneten Verfassungsgerichte besitzen die Abgeordneten ein Recht zur Beantragung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens
Wie will man die Neigung des Parlamentes, wichtige Vorentscheidungen an außerparlamentarische Körperschaften zu delegieren, empirisch-komparativ valide bestimmen? In Ermangelung einschlägiger komparativer Forschungen zu allen Ländern Westeuropas bietet es sich an, zu den in der international vergleichenden Forschung üblichen Indikatoren für „Korporatismus“ zu greifen. Zwar wurden diese vor allem in den siebziger Jahren entwickelt und betreffen nur das Politikfeld von Arbeitsbeziehungen und Einkommenspolitik, aber sie können doch den bestmöglichen Anhaltspunkt geben. Da verschiedene Experten naturgemäß zu leicht unterschiedlicher Delegation von parlamentarischen Vorentscheidungen an Spitzengremien gelangen, kann der in Tabelle 1 verwendete Indikator nur eine zentrale Tendenz vermitteln. Der hier verwendete Indikator von Manfred G. Schmidt besitzt den Vorzug, daß er ausführlich in einer Abhandlung begründet wird, die in die Vorzüge und Schwäche der auch hier verwendeten Methodik der international vergleichenden Analyse mit Aggregatdaten einführt
Aus der Verteilung der 15 Länder in Tabelle 1 werden drei für die Rahmenbedingung parlamentarischer Kontrolle wesentliche Einsichten erkennbar: 1. Je stärker ein Land als „korporatistisch“ eingestuft werden kann, desto größer sind tendenziell die Befugnisse seiner Ausschüsse. Dieser Befund steht quer zu dem populären Klischee, daß eine Auslagerung von Entscheidungen aus dem Parlament in vorparlamentarische Gremien zu einer Entmachtung der Kammer führe. In Westeuropa besitzen Ausschüsse um so stärkere Befugnisse, je mehr eine solche vorparlamentarische Konzertierung stattfindet.
Dieser nur strukturelle Befund, der noch keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Kontrolltätigkeit der Parlamente zuläßt, wird unabhängig von dem bereits in Tabelle 1 sichtbaren Muster durch eine in systemvergleichenden Fallstudien gewonnene Beobachtung von Klaus Armingeon gestützt. Nach seiner ganz Westeuropa umfassenden Untersuchung scheiterten konzertierte vorparlamentarische Absprachen gerade auf dem für den Korporatismus so typischen Feld der Einkommenspolitik daran, daß die von Spitzenverbänden und Staatsbeamten ausgehandelten Pakete nicht die notwendige gesetzgeberische Ratifizierung in den Parlamenten finden konnten 2. Ungeachtet ihrer starken Ausschüsse scheinen „korporatistische“ Länder sich eher zögerlich hinsichtlich der Entsendung führender Abgeordneter als Minister in die Regierung zu verhalten. Dagegen besteht eine Tendenz zu Spezialisten unter den Ministern in den „korporatistischen“ Ländern
Wenn man die beiden Teiltabellen mit „niedrig/mittlerer“ und „hoher“ Rekrutierung der Exekutive aus der Legislative miteinander vergleicht, zählen nur vier der insgesamt elf zum Korporatismus neigenden Länder zur Gruppe der dem Parlament eine klare Aufgabe als „Auslesestätte“ für Minister zuweisenden Länder. Dagegen sind drei der insgesamt vier nicht-korporatistischen Länder eindeutig in dieser verfassungspolitischen Grund- entscheidung der Ernennung der Exekutive als eines aus dem Parlament hervorgegangenen Exekutivausschusses zu finden 3. Die Stärke der Befugnisse von Ausschüssen als Kontrollinstrumente der Regierung wird nicht vom Ausmaß der Rekrutierung der Exekutive aus der Legislative beeinflußt, denn in beiden Teiltabellen ist die Verteilung annähernd gleichmäßig. Als zusätzliche Information, die die Rahmenbedingungen absteckt, unter denen Minister und Abgeordnete parlamentarische Kontrolle ausüben, markiert Tabelle 1 mit einem Stern diejenigen Länder, in denen Abgeordnete bei der Ernennung zum Minister ihr parlamentarisches Mandat niederlegen müssen. Nicht überraschend häuft sich diese Verfassungsvorschrift in der linken Teiltabelle, also in Ländern, in denen das Parlament nur in schwachem Maße „Auslesestätte“ der politischen Führung ist. Eine weitere wissenswerte Information, die uns die Abschätzung des Einsatzes der Kontrollinstrumente im Verhältnis von Exekutive und Legislative erleichtert, wird durch den mit Paragraphenzeichen markierten Anteil des Regierungssturzes durch Mißtrauensvotum gekennzeichnet.
Die annähernde Gleichverteilung dieser Fälle, in denen nicht der Volkssouverän in einer Neuwahl über die Ablösung einer Regierung entscheidet, sondern der Parlamentssouverän während einer laufenden Legislaturperiode durch Verlust der Vertrauensbasis im Parlament zum Sturz der Regierung beiträgt, zeigt, daß dieses letzte Mittel parlamentarischer Sanktion, die Ablösung der Regierung durch ein Mißtrauensvotum, nicht von den institutioneilen Rahmenbedingungen parlamentarischer Kontrolle abhängt.
Für den Bestand der Regierung und die Beschränkung der Kontrollmöglichkeiten durch die einfachen Abgeordneten ohne Regierungsamt spielt allerdings die in der vergleichenden Forschung bisher wenig beachtete sogenannte „Rationalisierung“ des Parlamentarismus eine Rolle.
II. Ausmaß der „Rationalisierung“
Abbildung 4
Tabelle 2: Ausmaß der „Rationalisierung" des Parlamentarismus
1 Quelle: L. De Winter (wie in Tabelle 1, Anm. 1).
2 H. Döring (wie in Tabelle 1, Anm. 3), S. 225, Tabelle 7. 1. Zur Erläuterung siehe Text.
3 Ingvar Mattson, Private Members’ Initiatives and Amendments, in: H. Döring (wie in Tabelle 1, Anm. 1), S. 469, Table 14. 2 und H. Döring (wie in Tabelle 1, Anm. 3), S. 232, Table 7. 2. Zur Erläuterung siehe Text.
§ Legende wie in Tabelle 1.
§§§ Legende wie in Tabelle 1.
Tabelle 2: Ausmaß der „Rationalisierung" des Parlamentarismus
1 Quelle: L. De Winter (wie in Tabelle 1, Anm. 1).
2 H. Döring (wie in Tabelle 1, Anm. 3), S. 225, Tabelle 7. 1. Zur Erläuterung siehe Text.
3 Ingvar Mattson, Private Members’ Initiatives and Amendments, in: H. Döring (wie in Tabelle 1, Anm. 1), S. 469, Table 14. 2 und H. Döring (wie in Tabelle 1, Anm. 3), S. 232, Table 7. 2. Zur Erläuterung siehe Text.
§ Legende wie in Tabelle 1.
§§§ Legende wie in Tabelle 1.
Fast jedermann denkt, wenn von „Rationalisierung“ des Parlaments die Rede ist, an die V. Republik in Frankreich Einige Kenner verweisen daneben auch auf Griechenland. Hat doch Pantelis in seinem Standardwerk über die neue Verfassung einen großen Teil des Buches mit dem Titel „Die Rationalisierung des parlamentarischen Regimes“ überschrieben Nur wenige Wissenschaftler sehen in der „Rationalisierung“ ein über die französische V. Republik hinausweisendes allgemein europäisches Problem
Niemand verknüpft mit der Problematik der „Rationalisierung“ den Gedanken an die Kontrolle der Tagesordnung des Parlaments durch die Regierung im Mutterland des Parlamentarismus, in Großbritannien. Schon gar nicht wird dabei in Erwägung gezogen, daß eine solche „Rationalisierung“ in Westminster schon gut siebzig Jahre vor Frankreich und neunzig Jahre vor Griechenland stattgefunden hat. 1881 hat man in Westminster die „closure of debate“ und 1887 die parlamentarische „Guillotine“ eingeführt. Man hat sie 1902 um den „Parliamentary Railway Timetable“ ergänzt Ferner gibt es in Großbritannien und Frankreich Restriktionen bei der Einbringung finanzwirksamer Gesetzesvorlagen: Dieses Recht wird in Westminster so wie im Palais Bourbon ausschließlich der Regierung vorbehalten.
Diese auf den ersten Blick vielleicht überraschende Strukturähnlichkeit der beiden so verschiedenen Systeme ist allerdings nicht verwunderlich. Hat doch Michel Debre als der Verfassungsarchitekt De Gaulles bewußt viele Elemente des „Westminster Modells“ nach Frankreich eingeführt, obwohl dort kein Parteiensystem existierte, das eine solche Kontrolle des Parlaments durch die Regierung getragen hätte Deshalb wurde die durch die neue Verfassung von oben oktroyierte Beschneidung der Rechte des Parlaments extrem übersteigert.Unter sechs unterschiedlichen Aspekten des Begriffs „parlamentarische Kontrolle“ nennt Steffani auch die „Kontrolle des Parlaments durch die Regierung“ als eine Pflicht, die im Parlament entscheidende Mehrheit „politisch anzuführen“ Die Mittel, der Regierung ihre Aufgabe einer Kontrolle des Parlaments unter der Sanktion der Abberufung durch die Parlamentsmehrheit oder der Nichtwiederwahl durch den Wähler zu erleichtern, sind listenreich und vielfältig.
Man verschafft sich einen guten systematischen Überblick, wenn man von der extremen Steigerung einer solchen „Rationalisierung“ in der französischen V. Republik ausgeht und im Anschluß daran fragt: Welche dieser krassen Mittel finden sich in abgewandelter Form auch in den übrigen 17 Parlamenten Westeuropas wieder?
Gewiß, nirgendwo gibt es die berühmte und berüchtigte sogenannte parlamentarische „Guillotine“ des Artikels 49. 3. Ihm zufolge „kann der Premierminister nach Beschluß im Ministerrat die Vertrauensfrage mit einem bestimmten Gesetzentwurf koppeln. Wird innerhalb der nächsten 24 Stunden kein Mißtrauensantrag eingebracht und mit absoluter Mehrheit angenommen, so gilt der Gesetzentwurf als angenommen“. Anders formuliert: Verbindet die Regierung einen bestimmten Gesetzentwurf mit der „besonderen“ Vertrauensfrage und wird kein Mißtrauensantrag eingebracht, kann dieses Gesetz ohne jegliche parlamentarische Abstimmung verabschiedet werden
Auf drei anderen Ebenen gibt es allerdings Entsprechungen: 1. bei der Erschwerung des Sturzes der Regierung durch besonders qualifizierte Mehrheiten; 2. bei den Vorrechten der Regierung in der Gestaltung des Zeitplans der Kammer, also der Bestimmung dessen, was debattiert und über was entschieden wird; 3. bei der Beschneidung der Initiativrechte einfacher Mitglieder ohne Regierungsamt. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Verteilung dieser Merkmale in den westeuropäischen Parlamenten.
Ein „normaler“ Sturz der Regierung durch Mißtrauensvotum bedeutet, daß dazu bereits die nur relative Mehrheit der Abgeordneten genügt. Als „erschwert“ werden alle Länder klassifiziert, in denen es besonders qualifizierter Mehrheiten zur Regierungsablösung bedarf -von der Abberufungdurch eine absolute Mehrheit bis hin zum konstruktiven Mißtrauensvotum in der Bundesrepublik Deutschland und Spanien (und neuerdings in Belgien).
In der Kontrolle der Tagesordnung der Plenarversammlungen durch die Regierung gibt es feine Abstufungen. In einer ersten Gruppe von Ländern (Großbritannien und Irland) bestimmt allein die Regierung in etwa Dreiviertel aller Sitzungstage, welche Gegenstände behandelt werden sollen. Außerhalb der wenigen offiziellen „Oppositionstage“ wird die parlamentarische Opposition in Großbritannien nur informell konsultiert und besitzt kein einklagbares Recht der Mitgestaltung der Agenda.
In einer zweiten Gruppe von Ländern (Frankreich und Griechenland) setzt zwar formal nicht die Regierung allein, sondern eine Präsidentenkonferenz die Tagesordnung fest. Aber die Regierung genießt ein Übergewicht, das weit über ihren Mandatsanteil in der Kammer hinausgeht. Denn alle Ausschußvorsitzenden, die im Gegensatz zu anderen Ländern ausschließlich Politiker der Mehrheitsfraktion sind, gehören der Präsidentenkonferenz an.
In einer dritten Gruppe entscheidet eine strikt proportional nach Sitzen der Parteien in der Kammer zusammengesetzte Präsidentenkonferenz mit Majorität. In einer vierten Gruppe von Ländern wird in dem „Ältestenrat“ nicht abgestimmt, sondern Konsens gesucht. Allerdings genießt die parlamentarische Mehrheit die Prärogative, das Votum der Präsidentenkonferenz durch einfache Mehrheit im Plenum korrigieren zu können. Die Majorität besitzt keine so starke Kontrolle wie in den ersten drei Klassen, verfügt aber über eine sichere Notbremse, falls sie ihre Abgeordneten hinter sich weiß.
In einer fünften Gruppe entfällt dieser Rettungsanker. Der Beschluß der Präsidentenkonferenz oder des Präsidenten kann nicht mehr (oder nur durch Supermehrheiten von Dreivierteln) durch die Kammer rückgängig gemacht werden.
In einer sechsten Gruppe ist die Plenarversammlung rechtlich und faktisch souverän in der Gestaltung ihrer Agenda. Es gibt keinen Vorschlag eines dem „Ältestenrat“ vergleichbaren Büros, sondern die Kammer findet ihre eigene Tagesordnung in einer Debatte zu Beginn einer Plenarsitzung.
Tabelle 2 faßt die Gruppen 1 bis 4 zu „starker/mittlerer“ und die Gruppen 5 und 6 zu „schwacher“ Kontrolle der Tagesordnung durch die Regierung zusammen.
Die dritte Dimension in Tabelle 2 betrifft die Beschneidung der Gesetzesinitiative einzelner Abgeordneter. Darunter fallen vielfältige Mittel: von der Zuteilung nach Los (wie in Großbritannien) bis zur Zurückweisung finanzwirksamer Anträge. Wenn nur eines der Instrumente vorliegt, werden die Länder der Kategorie der „beschränkten“ Initiative zugeteilt, ansonsten gelten keinerlei verfahrensrechtliche Beschneidun- gen .iAuf allen drei Dimensionen weist nicht nur die französische V. Republik sehr hohe Werte auf, sondern es sind insgesamt fünf der 18 westeuropäischen Länder vertreten. Sie stellen eine vergleichsweise extreme Familie eines stark rationalisierten Parlamentarismus dar. Auf dem anderen Extrem weisen einige Länder keines der drei Merkmale einer verfassungsrechtlichen oder in der Geschäftsordnung des Parlaments verankerten Stärkung der Exekutive gegenüber der Legislative auf. Es sind dies Dänemark, Finnland, Island und die Niederlande. Diese beiden Extremtypen finden sich in den einander gegenüberliegenden Zellen links oben und rechts unten und sind in der Tabelle mit einem Kasten bzw. mit einem Kreis markiert.
Eine Ländergruppe, die in der Tabelle mit II gekennzeichnet ist, weist immerhin noch auf zwei der drei Dimensionen deutliche Merkmale einer das freie Spiel der Kräfte im ehemals „altliberalklassischen“ Parlamentarismus begrenzenden Rationalisierung auf So geben Großbritannien, Irland, Luxemburg und Österreich ihren Regierungen eine Kontrolle der Tagesordnung des Plenums an die Hand und beschneiden das Recht der einfachen Abgeordneten zum Einbringen von Gesetzen, erschweren aber verfassungsrechtlich nicht das Recht zum Regierungssturz durch die Kammer, weil in diesen Ländern die Regierung mit der relativen Mehrheit der anwesenden Abgeordneten aus dem Amt gewählt werden könnte. Eine weitere Gruppe von Ländern, die in der Tabelle mit der Kategorie III gekennzeichnet ist, weist auf jeweils nur einer der drei strukturentscheidenden Dimensionen von „Rationalisierung“ eine Stärkung der Exekutive gegenüber der Legislative auf.
Die Länder, in denen sich nur ein einziges oder gar kein Merkmal einer „Rationalisierung“ der Kontrolle des Parlamentes durch die mit der Regierungsmehrheit der Fraktionen zur Funktionseinheit verschmolzenen Exekutive findet, sind in ihrer übergroßen Mehrheit (sieben von acht Ländern) dem „korporatistischen“ Typus der Interessenvermittlung durch außerparlamentarische Konzertierung zwischen den Spitzenverbänden zuzurechnen.
Ferner ist in einigen dieser Länder der Verhaltens-stil der politischen Kultur so konsensual, daß es in den Niederlanden und in Schweden einer international vergleichenden Bestandsaufnahme zufolge niemals zur Benutzung der parlamentarischen Waffe politischer Obstruktion durch Oppositionsparteien gekommen ist Dabei wären gerade in diesen Ländern die Mittel der Regierung, gegen solche Verzögerungstaktiken vorzugehen, äußerst gering.
Tabelle 2 enthält, so wie die vorangehende Tabelle 1, als zusätzliche Information auch noch Angaben über den Anteil von denjenigen Regierungswechseln in der Nachkriegszeit, die durch Verlust der Vertrauensbasis im Parlament bewirkt wurden. Ein §§ bezeichnet einen Anteil von zwischen zehn und 19 Prozent und ein §§§ einen Anteil zwischen 20 und 36 Prozent. Auch dies sind wieder Durchschnittswerte, die nichts über die Umstände einzelner Regierungswechsel aussagen. Allerdings ist für diese Art der Komparatistik bereits die aus einer solchen Anordnung der Daten plötzlich sichtbar werdende zentrale Tendenz aufschlußreich.
Wie man bei einer Überprüfung der Verteilung von Ländern leicht erkennt, steigt in der Tat (mit Ausnahme des Regierungssystems von Portugal, das ähnlich wie Finnland durch seinen volksgewählten, an der Regierung teilhabenden Präsidenten eine Sonderstellung einnimmt) die durch die Zeichen §§ und §§§ markierte durchschnittliche Häufigkeit eines Regierungssturzes durch das Parlament um so stärker, je geringer die parlamentarische Kontrolle in den Verfassungen und Geschäfts-ordnungen „rationalisiert“ ist.
Wenn wir auf diese Weise die Strukturdaten der Geschäftsordnung mit den (aggregierten) Daten tatsächlichen politischen Verhaltens kombinieren, ist als ein Ergebnis festzuhalten: In den in der Zwischenkriegszeit einstmals chronisch instabilen, von Regierungskrisen geschüttelten parlamentarischen Systemen hat der „rationalisierte Parlamentarismus“ der Nachkriegszeit tatsächlich sein Ziel erreicht, eine dem Parlament und dem Volk verantwortliche Exekutive für die Dauer einer Legislaturperiode im Amt zu stabilisieren und das Verdikt über die Leistungen der Regierung nicht dem Parlamentssouverän, sondern dem Volkssouverän in einer Neuwahl zu überlassen.
III. Preis der „Rationalisierung“
Abbildung 5
Tabelle 3: „Rationalisierter Parlamentarismus" und Kontrollöffentlichkeit
Quelle: Ulrike Liebert, Parliamentary Lobby Regimes, in: H. Döring (wie in Tabelle 1, Anm. 1), S. 426, Tabelle 13. 4.
Tabelle 3: „Rationalisierter Parlamentarismus" und Kontrollöffentlichkeit
Quelle: Ulrike Liebert, Parliamentary Lobby Regimes, in: H. Döring (wie in Tabelle 1, Anm. 1), S. 426, Tabelle 13. 4.
Doch welchen Preis hat diese Rationalisierung? Aufgrund demokratietheoretischer Überlegungen zeichnet sich ein Zielkonflikt ab. Auf der einen Seite ist zu fragen: Verringert die Stabilisierung der Exekutive, die Verantwortlichkeit und Kontrolle der Regierung gegenüber dem Wähler anstelle flüchtig wechselnder Parlamentsmehrheiten verbürgt, nicht die ebenso wünschbare Häufigkeit von Debatten im Plenum und öffentlichen Anhörungen in den Ausschüssen?
Auf der anderen Seite haben die in der Rational-Choice-Tradition empirischer Parlamentsforschung stehenden Theorien, die neuerdings stark stimulierend auf die vergleichende Parlamentsforschung gewirkt haben auf einen wenig beachteten möglichen Vorzug restriktiver Rationalisierung verwiesen. Er wird in der Eindämmung der oft beklagten Inflation legislativer und regulativer Maßnahmen gesehen. Aus der Logik kollektiven Handelns und der Institutionsökonomik der Transaktionskosten haben verschiedene Autoren unabhängig voneinander die Vermutung abgeleitet: Je stärker die Antrags-, Kontroll-und Mitwirkungsrechte der einfachen Abgeordneten zugunsten von Vorrechten der Fraktionen im Gesetzgebungsverfahren eingeschränkt werden, desto mehr ist -ungeachtet der Unterschiede in der Gesetzgebungstechnik der einzelnen Länder -mit nur wenigen, wirklich wichtigen und allgemeinenGesetzen zu rechnen anstelle vieler geringfügiger Gesetze, die regionalen oder partikularen Sonderinteressen dienen
Ist mit den vorstehenden Thesen ein unlösbares Dilemma festgeschrieben? Muß „Rationalisierung“ mit Öffentlichkeitsscheu erkauft werden? Glücklicherweise lehrt uns die Anwendung der Logik kollektiven Handelns auf die Neigung von Parlamentsausschüssen zur Informationsgewinnung durch Keith Krehbiel, daß eine solche auf den ersten Blick unausweichlich erscheinende Alternative viel zu eng und irreführend wäre Allerdings deduziert er aus den Prämissen der Institutionsökonomik, der Anreiz zur Informationsgewinnung in spezialisierten Fachausschüssen des Parlamentes müßte durch Beschneidung der nachträglichen Abänderungsmöglichkeiten im Plenum zwecks „Draufsatteln“ durch flüchtige oder bunt zusammengewürfelte interessierte Mehrheiten flankiert werden.
Die vorstehenden Theorien sind kein im Elfenbeinturm ausgeheckter Selbstzweck. Vielmehr haben sie außerhalb Deutschlands bereits die empirische Parlamentsforschung stark beeinflußt Auch im Querschnitt mit Aggregatdaten über die 18 Parlamente Westeuropas hinweg haben sich einige dieser Theorien als ermutigender Ansatz erwiesen. So soll in den folgenden beiden Abschnitten IV und V aus dem Muster der Streuung von Merkmalen in den 17 parlamentarischen Systemen Westeuropas (unter Ausklammerung der das Mißtrauensvotum nicht kennenden Schweiz) gefragt werden: Bestätigen sich die beiden skizzierten Annahmen, daß a) „Rationalisierung“ mit geringerer öffentlicher Kommunikation einhergeht und daß b) „Rationalisierung“ zugleich mit einer Verringerung der durchschnittlichen Anzahl verabschiedeter Gesetze in den Ländern Westeuropas zusammenhängt? Wenden wir uns zunächst dem vermuteten Zielkonflikt zwischen „Rationalisierung“ und Öffentlichkeit durch Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung im Parlament zu.
IV. Kontrolle durch Kommunikation
Abbildung 6
Schaubild: Rationalisierung des Parlaments 1 und Anzahl von Sozialversicherungsgesetzen 2
Spearman’s rho . 69 (0, 001).
Schaubild: Rationalisierung des Parlaments 1 und Anzahl von Sozialversicherungsgesetzen 2
Spearman’s rho . 69 (0, 001).
Ein Großteil parlamentarischer Kontrolle besteht nicht in der nachträglichen Überprüfung von Handlungen der Regierung mit der Sanktionsmöglichkeit eines Ministersturzes durch Mißtrauensvotum. Vielmehr eröffnet die „Befugnis des Parlaments, die Regierung und Verwaltung öffentlich zur rechenschaftsgebenden Auskunft zwingen bzw. anhalten zu können“ einen weiten Spielraum indirekt ausgeübter Kontrolle durch Kommunikation. Dabei liegt in einigen Parlamenten der Akzent stärker auf dem Plenum (Fragestunden, Berichte der Regierung nach Kabinettssitzungen, allgemeine Debatten zum Haushalt und zu Gesetzesvorlagen sowie besonders anberaumte aktuelle Stunden). Zum Arsenal der Informationsgewinnung durch Ausschüsse zählt die Herbeirufung von Ministern und Vorladung von Beamten, soweit diese nicht wie in Deutschland und in der Schweiz ohnehin ständig in großer Anzahl den Beratungen der Ausschüsse beiwohnen. Ferner unterscheiden sich die Länder Westeuropas sehr stark in dem Ausmaß, in welchem Personen von außerhalb des Parlaments durch die Ausschüsse zu öffentlichen oder nicht öffentlichen Anhörungen (Hearings) eingeladen werden können.
Um nun die Frage zu prüfen, ob der rationalisierte Parlamentarismus tendenziell das Licht der Öffentlichkeit scheut, versucht Tabelle 3, aus der Art der Verteilung von Strukturmerkmalen über alle 18 Länder Westeuropas hinweg zu einer aussagefähigen zentralen Tendenz zu gelangen. Das Ausmaß der Rationalisierung, das in Tabelle 2 ermittelt und in den Kategorien I bis IV gruppiert wurde, wird kontrastiert mit der durchschnittlichen Häufigkeit von Anhörungen in den gesetzes-beratenden Ausschüssen aller 18 Länder während der achtziger Jahre. Neigen stark rationalisierte Länder im aggregierten Durchschnitt der querschnittsvergleichenden Tendenz, wie theoretisch zu erwarten ist, auch empirisch tatsächlich dazu, im Durchschnitt weniger Anhörungen zuzulassen? Zeichnen sich umgekehrt die Länder mit schwacher oder nicht vorhandenerRationalisierung (in dem im vorigen Abschnitt definierten Sinne) durch eine um so höhere Häufigkeit von solchen parlamentarischen Anhörungen aus?
Die Daten über die Häufigkeit von Anhörungen in Ausschüssen und die weiterführende Frage, ob solche Anhörungen von nicht dem Ausschuß angehörigen Zeugen und Verbandsvertretern in der Regel öffentlich oder eher hinter verschlossenen Türen stattfanden, wurden von den Länderspezialisten des Potsdamer Parlamentsprojektes aus ihren nationalen Parlamentsstatistiken gesammelt und allen übrigen Projektteilnehmern für querschnittliehe Analysen zur Verfügung gestellt. Ulrike Liebert hat daraus einen zusammenfassenden Indikator des Ausmaßes gebildet, zu dem in den einzelnen Ländern überhaupt Hearings häufig oder eher selten und öffentlich oder hinter verschlossenen Türen stattfanden
Dabei zeigt sich in Tabelle 3: Mit Ausnahme der Bundesrepublik Deutschland (GER), die stark rationalisiert ist und viele öffentliche Anhörungen kennt, und mit Ausnahme von Dänemark (DEN), das schwach rationalisiert ist und trotzdem keine solchen Anhörungen kennt, zeichnet sich ein allgemeines Muster ab. Stark rationalisierte Länder wie Frankreich, Griechenland und Spanien (eingeschränkt auch Portugal) weisen in der Tat eine sehr geringe Kontrollöffentlichkeit mittels öffentlicher Anhörungen in den Ausschüssen auf. Je geringer die Länder rationalisiert sind, desto stärker wächst im Durchschnitt (mit der Ausnahme Österreichs) auch ihre Bereitschaft, in einem stärkeren Ausmaß öffentliche Anhörungen zuzulassen. Ohne die beiden Außenseiter Dänemark und Deutschland berechnet, ist der Zusammenhang sehr stark.
Wie ist der von der zentralen Tendenz abweichende Befund für die Bundesrepublik Deutschland und Dänemark zu erklären? Ein Vorzug dieser Art von Komparatistik, die mit Aggregatdaten für zahlreiche Länder arbeitet und dafür den Nachteil besitzt, auf das in detaillierten Fallstudien zu erzielende Wissen verzichten zu müssen, besteht u. a. darin, gerade die für solche anschließenden Fallstudien wichtigen Fragen aus der Entdeckung „abweichender Fälle“ erkennen zu können, die sich wie Deutschland oder Dänemark der zentralen Tendenz nicht fügen wollen. Für Deutschland gibt es eine plausible, in der Besonderheit der Geschäftsordnung des Bundestags liegende Erklärung. Das uns vertraute Recht einer Minderheit von nur einem Viertel der Ausschußmitglieder, bei überwiesenen Vorlagen eine solche Anhörung (entweder öffentlich oder geschlossen) „verlangen“ und damit erzwingen zu können, stellt eine im westeuropäischen Vergleich einzigartige Besonderheit dar. In den übrigen Ländern bedarf es einer einfachen oder sogar absoluten Mehrheit der Ausschußmitglieder, die normalerweise von den Regierungsfraktionen gestellt werden, um den Gang der routinemäßigen Gesetzesberatung durch eine Ladung von Zeugen, Sachverständigen und Interessengruppenvertreter zu unterbrechen Der hier gegebene quantitative Befund bestätigt eine qualitative Einsicht von Ingeborg Schäfer über den Nutzen von Anfragen und Debatten: „Das Instrument Öffentlichkeit’ und die Bekundung individuellen Interesses sind in gewisser Weise unabhängig von den Mehrheiten und den Strukturen der Parlamente einzusetzen. So können Anfragen und Debatten öffentlich machen, was für Regierung und Verwaltung unangenehm sein kann. Anhörungen und Zeugenvernehmungen -also Untersuchungen in den Ausschüssen -sowie Berichte an die Massenmedien können weitere peinliche Diskussionen in der Öffentlichkeit nach sich ziehen .. .. Damit wird Öffentlichkeit zum zentralen Faustpfand. Erst in ihrem Scheinwerferlicht gewinnen die formalen und institutionellen Kontrollinstrumente ihren vollen Wert. Die Wirkung der Kontrollarbeit hängt damit in besonderer Weise von den Massenmedien ab.“ So werden parlamentarische Mehrheiten versuchen, dieser Art öffentlicher Kontrolle auszuweichen, wenn sie dies nach den Regeln der Geschäftsordnung können.
So zerfällt die parlamentarische Kontrolle in parlamentarischen Regierungssystemen in eine öffentliche (aber der Sanktionsmöglichkeiten beraubte) Kontrolle durch die Opposition und eine wirksame, aber in der Regel nicht öffentlich vermittelte Kontrolle durch die Abgeordneten der Regierungsmehrheit. „Die in der Öffentlichkeit sichtbare Kontrolle der Opposition ist in der Regel nicht effizient, und die effiziente Kontrolle im Schoß der Mehrheit ist in der Regel in der Öffentlichkeit nicht sichtbar.“ Ist dies ein Nachteil, der von Kritikern der Rationalisierung immer befürchtet worden war, so haben wir uns jetzt einem wenig beachteten Vorteil zuzuwenden, der von den Theoretikern des „Social Choice“ betont wird.
V. Kontrolltyp und Zahl der Gesetze
Das folgende Schaubild prüft, ob sich die auf den ersten Blick etwas paradoxe Erwartung bestätigt, daß eine Regierung im Schnitt um so weniger Gesetze verabschiedet, je mehr sie auf Grund der Rationalisierung des Parlamentarismus eigentlich in der Lage wäre, kontroverse Entscheidungen durch das Parlament zu peitschen. In der aus dem Potsdamer Parlamentsprojekt hervorgegangenen Buchpublikation wurde diese These an der aus den nationalen Gesetzgebungsstatistiken berichteten durchschnittlichen Zahl der Gesetze pro Jahr in den achtziger Jahren als zutreffend erwiesen In dem folgendem Schaubild ist eine andere Datenquelle herangezogen worden. Es handelt sich um die von den Mitarbeitern des Internationalen Arbeitsamtes (ILO) in Genf Jahr für Jahr geführte Übersicht über alle Gesetze und Verordnungen ihrer Mitgliedsländer im Politikfeld der Sozialversicherung, das neben dem Arbeitsrecht von der ILO registriert wird.
Das Schaubild stellt die Gesamtzahl der Sozialversicherungsgesetze pro Land in den achtziger Jahren dem Grad der Rationalisierung des Parlamentarismus in diesen Ländern (so wie in Tabelle 2 begründet und bereits in Tabelle 3 als Indikator benutzt) gegenüber. Dabei ergibt sich ein eindeutiger Befund in der systematisch erwarteten Richtung. Zieht man durch den Median der drei Gruppen von stark rationalisierten, mittel/schwach und nicht rationalisierten Ländern eine Linie, so ergibt sich eine ansteigende Tendenz. Die Berechnung der Rangkorrelation mit nicht gruppierten Daten ergibt einen signifikanten und starken Zusammenhang (Spearman’s rho = 0, 69). Die Zahl der Sozial-Versicherungsgesetze ist ein brauchbarer „Anzeiger“ (Indikator) für die Frage, ob materielle Sicherung gewährende Gesetzgebung stark fragmentiert aus vielen kleinen Gesetzen und Änderungsgesetzen besteht oder ob sie eher aus einem Guß mit wenigen großen Gesetzen verabschiedet wird.
Bei einer solchen Analyse mit Häufigkeiten der Anzahl von Gesetzen im Querschnitt über 16 Länder in den achtziger Jahren liegt allerdings immer die Gefahr eines „ökologischen Fehlschlusses“ nahe. Könnte sich hinter dem starken Zusammenhang in dem Schaubild nicht eine Scheinkorrelation verbergen? Könnte der Zusammenhang mit anderen Worten nicht doch auf ganz anderen Einflüssen beruhen? Verschwindet der Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der „Rationalisierung“ und der Anzahl der Gesetze, wenn man ihn auf plausible andere Einflüsse kontrolliert? In der Publikation wurde geprüft, ob bei Kontrolle auf die Zahl der Parteien in einem Parlament, die Bildung der Regierung aus linken oder rechten Parteien und die Entlastung des Zentralparlamentes in der Gesetzgebung durch regionale Parlamente von der positiven Korrelation zwischen der restriktiven Rationalisierung des Parlamentarismus und einer geringeren durchschnittlichen Anzahl der Gesetze in einem Lande überhaupt noch ein nennenswerter Effekt verblieb. Dabei erwies sich der gefundene Zusammenhang auch in der multivariaten Analyse als stabil
Dies gilt vor allem auch für die Prüfung der Frage, ob eine Regierung im rationalisierten Parlamentarismus nicht schlicht Gesetzgebung im Parlament durch Verordnungstätigkeit aufgrund parlamentarischer Ermächtigung ersetzt, so daß die gefundene geringe Zahl der Gesetze eine Scheinkorrelation wäre. Durch die Datenbasis der ILO werden wir in die Lage versetzt, den Anteil von Verordnungen und Gesetzen in den einzelnen Ländern relativ genau bestimmen zu können, weil die ILO-Mitarbeiter in ihrer online abfragbaren maschinenlesbaren Datenbasis alle legislativen Instrumente eines Landes in den beiden Politikfeldern seit den achtziger Jahren registrierten Unser Befund blieb auch bei Kontrolle auf Verordnungstätigkeit stabil.
Auch die von George Tsebelis in seiner Theorie der „Veto Akteure“ formulierten allgemeinen Erwartungen wurden durch die Daten des Potsdamer Parlamentsprojektes bestätigt. Tsebelis’ These lautet, daß Regierungen mit zahlreichen Veto-Akteuren nur wenige wirklich wichtige und die Rechtslage verändernde Gesetze, wohl aber sehr viele kleine und eher symbolisch gemeinte Gesetzesvorhaben verwirklichen können
Das Potential dieser Theorie über den Einfluß der Zahl von Veto-Akteuren auf das Politikergebnis wurde inzwischen auch durch eine querschnittliche Analyse der Veränderungen der Steuerpolitik in industriellen Demokratien zwischen 1986 und 1990 erbracht: Staaten mit mehr als nur einem „Veto-Akteur“ in der Regierung führten vergleichsweise weniger Reformen des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer in einem Zeitraum durch, der als Periode der Steuerreform bekannt ist ,
Für die Richtigkeit des hier querschnittlich mit Daten für die achtziger Jahre als plausibel erwiesenen Zusammenhangs zwischen Rationalisierung des Parlamentarismus und Verringerung der „Normenflut“ spricht auch die Betrachtung im historischen Längsschnitt. Als sich in Großbritannien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bis dahin beispiellose „Rationalisierung“ des Parlamentarismus nicht nur durch das Ansteigen der Fraktionsdisziplin, sondern auch durch die weitreichenden Reformen der Geschäftsordnung vollzog, die die Kontrolle der in der Parlamentsmehrheit verankerten Regierung über das Unterhaus garantierten, verringerte sich die durchschnittliche Anzahl der verabschiedeten Gesetze dramatisch gegenüber der überwiegend partikularen Sonderinteressen des „goldenen Zeitalters“ des Parlamentarismus dienenden Gesetzgebung
VI. Perspektiven
Durch die Befunde von Tabelle 3 und dem Schaubild ist das tendenzielle Vorhandensein zweier Zielkonflikte erwiesen worden. Rationalisierung, die als negative Nebenwirkung in den meisten Ländern mit einer Verringerung von Öffentlichkeit erkauft wird, geht in einem bislang wenig beachteten positiven Effekt eher mit einer Verringerung von „Gesetzes-“ wie „Verordnungsflut“ einher. Doch die darüber hinausführende spannende Frage lautet: Läßt sich nicht durch eine Steigerung der Öffentlichkeit in den Ausschüssen durch Hearings zum Zweck der Informationsgewinnung und -Verarbeitung die Dualität der verabschiedeten Gesetze dann steigern, wenn Informations-und Kontrollöffentlichkeit in den Ausschüssen kombiniert werden mit restriktiven Regeln der Verabschiedung im Plenum?
Das Problem liegt ja nicht in dem „Zuwenig“, sondern weit eher in dem „Zuviel“ an Informationen. „Zudem sind die mitunter mit derartigen Informationen einhergehenden Interessenpositionen nicht immer ohne weiteres oder überhaupt hinreichend erkennbar.“ Ausschüsse werden um so eher die Mühe auf sich nehmen, selbst Informationen zu gewinnen, je stärker ihnen durch restriktive Abstimmungsregeln oder zusammenfassende Koordination der Gesetzgebungstätigkeit durch Führungsstäbe und Arbeitskreise der Fraktionen die Garantie gegeben werden kann, daß das Ergebnis ihrer kostspieligen Recherchen nicht durch wechselnde Zufallsmehrheiten im Plenum mit Abänderungsanträgen disparater Sonderinteressen in letzter Minute wieder zunichte gemacht werden kann.
Zur Prüfung dieser Frage sammelt das Potsdamer Parlamentsprojekt in seiner jetzt begonnenen zweiten Phase weitere Daten. Die hier berichteten Analysen tragen nur vorläufigen Charakter, weil sie mit Aggregatdaten, d. h. für jedes Land mit einer einzigen Kennziffer ihrer durchschnittlichen Anzahl von Gesetzen in den achtziger Jahren, durchgeführt wurden. Für die nächste Phase des laufenden Projektes haben wir aus den beiden Politikfeldern Regulierung von Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen sowie der Sozialversicherungsgesetzgebung für die achtziger Jahre aus der komparativ validen Natlex Datenbasis der ILO in Genf insgesamt etwa 700 Gesetze aus 18 Ländern für eine auf typische Muster zielende Einzelfall-analyse des Gesetzgebungsverlaufs im Parlament und der Länge und Kompaktheit dieser Gesetze ausgewählt.
Gleichviel wie das Ergebnis ausfallen wird, läßt sich bereits jetzt festhalten, daß die auf den ersten Blick in Tabelle 3 so einzigartige Sonderstellung des Deutschen Bundestages durchaus der von Keith Krehbiel für den US-Kongreß und John D. Huber für die Nationalversammlung der französischen V. Republik allgemein theoretisch behaupteten und empirisch hinreichend geprüften Logik entspricht: Das in Westeuropa einzigartige Minderheitenrecht zur Erzwingung öffentlicher Anhörungen geht einher mit der Beschränkung des Rechts einzelner Abgeordneter, im Plenum Abänderungsanträge zu stellen. (In der dritten Lesung dürfen diese nur noch von Fraktionen eingebracht werden.) Somit fügt sich die Steuerung des Gesetzgebungsverfahrens durch die Fraktionen im bundesdeutschen „arbeitsteiligen Fraktionenparlament“ durchaus in eine von der theoretisch inspirierten vergleichenden Parlamentsforschung erst in jüngster Zeit formulierte Neubewertung der Rolle von Kontrolle ein.
Dagegen bläst der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform der Wind ins Gesicht. Wenn der Geschäftsordnungsausschuß des Deutschen Bundestages bei der Ablehnung ihrer Reformvorschläge ausdrücklich betonte, Fraktionen seien „nicht überflüssige Fremdkörper in Parlamenten, sondern notwendige politische Gliederungen“ dann befand er sich nicht nur im Einklang mit der traditionellen Mehrheit der deutschen Parlaments-kultur, sondern handelte auch gemäß einer Logik, die unabhängig vom bundesdeutschen Kontext mit dem Anspruch auf allgemeine, über Zeit und Raum spezieller Parlamente hinausweisende Geltung von den Theoretikern der politischen Handlungs-und Entscheidungstheorie als rationale Entscheidung zur freiwilligen Selbstbeschränkung herausgearbeitet worden ist.Im Gegensatz zu diesen „Rational Choice of Restrictive Rules“ „dürfte für den fehlenden Erfolg der Interfraktionellen Initiative ursächlich sein, , daß die Initiatoren ein klassisch-liberales Parlamentarismuskonzept zum Maßstab nahmen 4, das auf die , klarere 1 Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive rekurriert und die Kontrollfunktion des , ganzen 4 Parlaments hervorhebt“ Ohne einen starken „demokratischen Leviathan“, der die Parlamentsarbeit in Vermeidung flüchtiger wechselnder Mehrheiten koordiniert, könnte die Parlamentsreform leicht zum Trojanischen Pferd der starken Durchsetzung gut organisierter partikularer Sonderinteressen in der Gesetzgebung werden.
Wenn man den hier herangezogenen verschiedenen Theorien des sogenannten „neuen Institutionalismus" in der Parlamentsforschung folgt, der alte Einsichten über den verhaltensprägenden Einfluß restriktiver Zwänge wiederbelebt, dann bedürfen Parlamente zur Vermeidung von wechselnden Zufallsmehrheiten eines „Hüters der Agenda“. Dabei sollte sich die freie Diskussion, unter deren Leitprinzip der Parlamentarismus ideengeschichtlich einmal gerechtfertigt worden war, auf die Informationsgewinnung in spezialisierten Fachausschüssen konzentrieren. Dabei müßte die Freiheit der Informationsgewinnung flankiert werden durch restriktive Regeln hinsichtlich der Beschneidung von Abänderungsanträgen im Plenum.
Herbert Döring, Dr. phil., geb. 1940; seit 1994 Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Potsdam. Veröffentlichungen u. a.: Großbritannien: Regierung, Gesellschaft und politische Kultur, Opladen 1993; (Hrsg.) Parliaments and Majority Rule in Western Europe, Frankfurt/M. -New York 1995; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften.
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