Indien nach den Parlamentswahlen 1996. Innenpolitische Entwicklung und regionale außenpolitische Interessenlage
Justus Richter
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Zusammenfassung
Die Ablösung der seit der Unabhängigkeit nahezu ununterbrochen regierenden Kongreßpartei im Mai 1996 markiert einen Wendepunkt in der „größten Demokratie“ der Welt. Für die pluralistische Demokratie des indischen Vielvölkerstaats bildet der Säkularismus eine unabdingbare Voraussetzung, die jedoch durch das Erstarken des Hindunationalismus bedroht ist. Diese gegenwärtige Hauptströmung der indischen Politik hat sich in der BJP (Indische Volkspartei) organisiert, die als parlamentarisch stärkste Kraft aus den Wahlen hervorging. Die Machtübernahme durch die BJP konnte jedoch durch die Bildung einer Vielparteienkoalition, die auf die Duldung der Kongreßpartei angewiesen ist, abgewendet werden. Im Jahre 1991 wurde eine tiefgreifende Wirtschaftsreform eingeleitet, die auf eine Privatisierung, Liberalisierung und marktwirtschaftliche Öffnung abzielt. Die neue Regierung der United Front steht vor der wirtschaftlichen Herausforderung, das unumkehrbar gewordene Reformwerk fortzuführen. In der Außenpolitik ist die südasiatische Führungsmacht bestrebt, die Beziehungen zur wirtschaftlich florierenden südostasiatischen Region auszubauen und den Status Indiens in den internationalen Organisationen aufzuwerten.
I. Die innenpolitische Situation Indiens
Indien kann mit einer sich unaufhaltsam der Milliardengrenze nähernden Bevölkerungszahl sehr plausibel als die größte Demokratie der Welt -begrifflich schärfer als die „volkreichste Demokratie“ -gelten. Der demokratische Charakter des politischen Systems wurde mit den im Frühjahr 1996 durchgeführten Wahlen zum indischen Unterhaus neuerlich unter Beweis gestellt. Die Ablösung der traditionsreichen Kongreßpartei, die seit der Unabhängigkeit im Jahre 1947 das indische Parteiensystem dominierte, und die Entstehung der hindunationalistischen BJP als parlamentarisch stärkste Kraft kommen einem politischen Erdbeben gleich und bedeuten eine tiefe Zäsur in der Geschichte Indiens. Aufgrund seiner geopolitischen Lage und seiner räumlichen Ausmaße -der Subkontinent mißt in der Nord-Süd-und in der West-Ost-Ausdehnung jeweils etwa 3 000 Kilometer -übt Indien nicht nur erheblichen Einfluß auf die südasiatischen Nachbarländer aus, sondern strahlt seit der außen-und wirtschaftspolitischen Öffnung zu Beginn der neunziger Jahre zunehmend auch nach Südostasien aus. Als südasiatische Führungsmacht tritt Indien zudem selbstbewußt auf internationalem Parkett auf, was sich beispielsweise im Anspruch auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dokumentiert.
Der historische Wendepunkt, der sich mit dem Ausgang der Wahlen ergeben hat, eröffnet günstige Möglichkeiten, die gesell 000 Kilometer -übt Indien nicht nur erheblichen Einfluß auf die südasiatischen Nachbarländer aus, sondern strahlt seit der außen-und wirtschaftspolitischen Öffnung zu Beginn der neunziger Jahre zunehmend auch nach Südostasien aus. Als südasiatische Führungsmacht tritt Indien zudem selbstbewußt auf internationalem Parkett auf, was sich beispielsweise im Anspruch auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dokumentiert.
Der historische Wendepunkt, der sich mit dem Ausgang der Wahlen ergeben hat, eröffnet günstige Möglichkeiten, die gesellschaftliche Entwicklung und die politische Kultur Indiens in einer Phase hoher politischer Mobilisierung zu beleuchten. Über das aktuelle innenpolitische Bild hinaus, zu dem auch die Themenkomplexe der Minderheitenproblematik und der Wirtschaftspolitik zählen, interessiert die Frage, welche Answirkungen auf die indische Außenpolitik zu erwarten sind.
1. Grundzüge des politischen Systems
Die indische Verfassung gilt als eine der umfangreichsten der Welt und sieht, insgesamt unverkennbar am Westminster-Modell orientiert, eine klare Trennung von Exekutive, Legislative und Judikative vor. Die exekutive Doppelspitze wird vom Staatspräsidenten als dem Staatsoberhaupt und dem Premierminister gebildet, der im Zusammenwirken mit seinem Kabinett die Regierungsgeschäfte ausübt und dabei nach britischem Vorbild dem Parlament gegenüber verantwortlich ist 2.
Die Legislative besteht aus zwei Kammern: Das Oberhaus, Council of States (Rajya Sabha), nimmt als die Länderkammer dem Deutschen Bundesrat vergleichbare Funktionen innerhalb des indischen föderativen Systems wahr. Von den maximal 250 Mitgliedern des Oberhauses werden bis zu 238 von den Bundesstaaten entsandt und zwölf weitere vom Staatspräsidenten ernannt 3. Ihre Amtszeit beträgt sechs Jahre, und jeweils ein Drittel der Sitze wird im Zweijahresrhythmus neu besetzt.
Das Unterhaus, House of the People (Lok Sabha), setzt sich aus maximal 530 in den 25 Bundesstaaten direkt gewählten Volksvertretern zusammen, deren Zahl sich um bis zu 20 durch die Mandats-träger der Union Territories erhöht
Das Zweikammersystem spiegelt die föderative Struktur Indiens wider. Die Exekutive der einzelnen Staaten wird aus einem auf fünf Jahre ernannten Gouverneur und einem Chief Minister gebildet, der im Regelfall aus der Mehrheitsfraktion des jeweiligen Länderparlaments hervorgeht und etwa dem Ministerpräsidenten in der Bundesrepublik Deutschland entspricht. Nach Artikel 356 der indischen Verfassung können die Bundesstaaten unter bestimmten Voraussetzungen -zum Beispiel bei einer Staatskrise -der Exekutive der Zentralregierung (President’s rule) unterstellt werden. Im Jahre 1992 wurden durch eine Verfassungsergänzung die Voraussetzungen für eine weitere Dezentralisierung des politischen Systems verbessert und die Möglichkeiten zur politischen Partizipation auf der kommunalen Ebene erweitert.
Die Judikative gilt in besonderem Maße als unabhängig und genießt in der öffentlichen Meinung ein sehr hohes Ansehen. Innerhalb des politischen Systems erfüllt die Gerichtsbarkeit wichtige Kontroll-und Korrektivfunktionen.
2. Das Erstarken des Hindunationalismus
In der Präambel der Verfassung hat sich Indien als eine „souveräne demokratische Republik“ konstituiert, und durch eine Ergänzung im Jahre 1976 wurde eine Präzisierung durch die Begriffe „sozialistisch“ und „säkular“ vorgenommen. Die Abkehr vom sozialistischen Erbe ist inzwischen durch die Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen und eine außenpolitische Neuorientierung erfolgreich vollzogen worden, ohne daß dadurch der demokratische Charakter der Republik gelitten hätte. Das Aufweichen des Verfassungsgrundsatzes des Säkularismus könnte jedoch weitreichende Konsequenzen im ethnisch und religiös überaus vielschichtigen Indien nach sich ziehen Der Hindunationalismus bildet gegenwärtig eine Hauptströmung der indischen Politik und läßt sich als eine populistische und chauvinistische Ideologie definieren, die an das religiöse und nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der hinduistischen Mehrheitsbevölkerung appelliert, um deren Vorherrschaft über die ethnischen und religiösen Minderheiten zu erlangen. Die hindunationalistische Ideologie, die sich auf der parteipolitischen Ebene in der BJP institutionalisiert hat, steht dem in der Verfassung verankerten Prinzip des Säkularismus diametral entgegen. Im indischen verfassungsrechtlichen Sinne ist unter „Säkularismus“ der Schutz und die Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften zu verstehen. Aus diesen beiden Kurzdefinitionen ergibt sich eine Unvereinbarkeit von hindunationalistischem und säkularistischem Staats-verständnis. Im indischen Vielvölkerstaat erweist sich jedoch das Prinzip des Säkularismus als eine unabdingbare Voraussetzung für die pluralistische Demokratie, weil sich die religiösen und ethnischen Minderheiten nur unter der Voraussetzung der Religionsfreiheit mit einem säkular ausgerichteten Rechtsstaat identifizieren können. Eine Abkehr von der säkularen Ordnung müßte zwangsläufig latent vorhandene und bereits überwunden geglaubte ethnisch-religiöse Spannungen verstärken. Führt man dieses Szenario fort, könnte sich insbesondere das Verhältnis zwischen den Hindus und den Muslimen als der zweitgrößten Bevölkerungsgruppe als eine antagonistische Konfliktlinie erweisen
Das Erstarken des Hindunationalismus kann auf eine Reihe von Faktoren zurückgeführt werden Als historischer Erklärungsansatz ist bedeutsam, daß die der britischen Herrschaft vorausgehende präkoloniale Herrschaftselite der islamischen Minderheit angehörte. Aus hindunationalistischer Sicht wurde mit der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1947 lediglich eine Gleichstellung der Religionsgemeinschaften erreicht, in der sich die überwältigende Mehrheit der hinduistischen Bevölkerung unterrepräsentiert fühlen müsse. Demzufolge sei der Zeitpunkt für eine Machtübernahme durch die Hindus und eine Ausgestaltung von Staat und Gesellschaft nach hinduistischen Grundsätzen gekommen. Bei einer psychosozialen Betrachtungsweise erscheint für das Aufleben des Hindunationalismus eine innere Identitätskrise maßgeblich zu sein, die die Rückbesinnung auf eigene normative Wertvorstellungen begünstigt. Demnach erscheint Indien bei gleichzeitiger wirtschaftlicher, politischer und soziokultureller Öffnung im Zuge der allgemeinen Globalisierung als eine vermeintlich unterlegene und um die eigene Identität ringende Defensivkultur. Auch wenn diese Faktoren eine Rolle für den Aufstieg des Hindunationalismus gespielt haben mögen, lassen sich zwei weitere Gründe anführen, die sich primär aus der Struktur des Parteiensystems ergeben: Zum einen hat die Kongreßpartei durch ihre Defizite als Volkspartei und ihre innere Verkrustung zur Entstehung einer hindunationalistischen Partei beigetragen, zum anderen können die politischen Rahmenbedingungen in einer weitgehend traditionell geprägten Gesellschaft einer Entwicklung Vorschub leisten, in der die politischen Parteien im Wettbewerb miteinander aus Gründen des Machterhalts oder der Machterlangung populistische Zugeständnisse an die religiös bestimmte politische Kultur machen. Die Wahrscheinlichkeit für eine solche Tendenz nimmt zu, da die säkulare Ordnung von der Elite initiiert wurde und überwiegend von ihr getragen wird, aber diese Werte von den in der traditionellen Kultur verhafteten Bevölkerungsmassen nicht verinnerlicht wurden. Im Unterschied etwa zur islamischen Staatsidee hat der Hinduismus nur sehr vage politische Ordungsvorstellungen entwickelt Die Pro-grammatik der Hindunationalisten bleibt daher für die Masse der Wähler und selbst für den politischen Beobachter eher diffus. Die Zerstörung der Moschee von Ayodhya durch fanatisierte Hindus im Dezember 1992 und die anschließenden gewalttätigen Ausschreitungen in Bombay lassen den Umfang des Konfliktpotentials erahnen Vor dem Hintergrund der Konfliktlinie aus säkularem und hindunationalistischem Staatsverständnis ist die Polarisierung des Parteiensystems zwischen der Kongreßpartei und der BJP zu verstehen.
3. Das indische Mehrheitswahlrecht und die Strukturen des gegenwärtigen Parteiensystems
Ein Mehrheitswahlrecht führt tendenziell zur Herausbildung eines Zweiparteiensystems, da es die Orientierung der Wählerschaft an den Kandidaten derjenigen Parteien begünstigt, die Aussicht auf die Erlangung des Mandats in einem bestimmten Wahlkreis haben. Im Unterschied zum Verhältnis-wahlrecht, das vielfach als „gerechter“ empfunden wird, finden die Stimmenanteile der im Wahlkreis unterlegenen Parteien nämlich keine Berücksichtigung. In Indien scheinen diese Gesetzmäßigkeiten im Wahlverhalten jedoch nur eine beschränkte Gültigkeit aufzuweisen Die Erklärung hierfür liegt in der ethnisch-religiösen Vielfältigkeit, den sozioökonomischen Ungleichgewichten, vor allem aber in den regionalen Unterschieden Indiens.
Aufgrund dieser Vielschichtigkeit der indischen Gesellschaft haben sich innerhalb des föderativen Systems -trotz der Zwänge des Mehrheitswahlrechts — zahlreiche kleinere Parteien herausgebildet, die oftmals lediglich über eine regionale Machtbasis verfügen und aus ihrem Selbstverständnis heraus nur sekundär eine Machtbeteiligung auf der zentralstaatlichen Ebene anstreben.
Durch die regionale Zersplitterung und die mangelnde Geschlossenheit auf Seiten der Oppositionsparteien dominierte die Kongreßpartei seit der Unabhängigkeit allein oder in einer Koalitionsregierung nahezu ununterbrochen die indische Parteienlandschaft. Zumindest bis zur Parlamentswähl des Jahres 1996 kann vom Typus des asymmetrischen oder prädominanten Vielparteiensystems gesprochen werden 1-1. Der Aufstieg der BJP zur stärksten Partei bei den jüngsten Wahlen zum indischen Unterhaus ist daher von historischer Tragweite. Die positive Entwicklung in Richtung auf ein Mehrparteiensystem mit einer größeren Chance des Machtwechsels wird jedoch durch die hindunationalistische Orientierung der BJP erheblich relativiert.
4. Die Parlamentswahlen von 1996
Bei den Wahlen zum indischen Unterhaus waren etwa 590 Millionen Wahlberechtigte zur Stimmabgabe aufgerufen. Aus organisatorischen Gründen, zu denen vor allem die Gewährung der Sicherheit von ca. 820 000 Wahllokalen zählte, wurden die Wahlen für das Gros der Sitze in mehreren Etappen vom 27. April bis 7. Mai 1996 durchgeführt.
Aus den zuletzt im Jahre 1991 abgehaltenen Wahlen zum indisichen Unterhaus war die Kongreßpartei unter Führung von P. V. Narasimha Rao mit 36, 5 Prozent Stimmenanteil und 232 Sitzen als stärkste Partei hervorgegangen 12. Die hindunationalistische BJP err Die hindunationalistische BJP erreichte damals 20, 1 Prozent und 120 Mandate. Die sozialistische Janata Dal erzielte 11, 8 Prozent und 56 Sitze. Die beiden wichtigsten kommunistischen Parteien CPM und CPI kamen trotz ihres getrennten Auftretens zusammen nur auf 49 Sitze, und die übrigen Mandate entfielen auf Splitter-und Regionalparteien.
Bei den indischen Unterhauswahlen des Jahres 1996 fiel die Kongreßpartei auf 28, 1 Prozent -den niedrigsten Stimmenanteil in ihrer Parteigeschichte seit 1947 -zurück Durch den geringeren Zuspruch in der Wählerschaft nach parteiinternen Auseinandersetzungen sowie durch die im Vergleich zu den übrigen Parteien regional gleichmäßigere Verteilung erreichte die traditionsreiche Volkspartei lediglich 136 Sitze. Die BJP konnte zwar ihren Stimmenanteil nur unwesentlich ausbauen, nutzte aber die Arithmetik des Mehrheitswahlrechts geschickter als die bisherige Regierungspartei. Mit der Strategie der Konzentration auf bestimmte Wahlkreise gelang es den Hindunationalisten, 23, 5 Prozent der Stimmen in 160 Mandate umzusetzen. Mit dieser höheren Erfolgsquote wurde die BJP in der neuen Legislaturperiode zur stärksten parlamentarischen Kraft. Die mit ihr durch eine Koalitionsregierung in Maharashtra verbundene ultranationalistische Shiv Sena Partei, wörtlich Armee Shivas, war auch auf nationaler Ebene mit einer Koalitionsaussage angetreten und erreichte an der Seite der BJP 15 Mandate. Ein Mitte-links-Bündnis formierte sich als NF/LF (National Front/Left Front) und konnte sich mit insgesamt 111 Sitzen als dritte Kraft etablieren.
Mit der Entstehung von drei Blöcken -Kongreßpartei, BJP/Alliierte sowie NF/LF -führte das Wählervotum zu keiner regierungsfähigen Mehrheit und zu einer für Mehrheitswahlsysteme untypischen Situation. Zur Mandate. Ein Mitte-links-Bündnis formierte sich als NF/LF (National Front/Left Front) und konnte sich mit insgesamt 111 Sitzen als dritte Kraft etablieren.
Mit der Entstehung von drei Blöcken -Kongreßpartei, BJP/Alliierte sowie NF/LF -führte das Wählervotum zu keiner regierungsfähigen Mehrheit und zu einer für Mehrheitswahlsysteme untypischen Situation. Zur Verhinderung der Machtübernahme durch die Hindunationalisten verkündete die unterlegene Kongreßpartei sogleich, die Bildung einer säkularen und stabilen Regierung zu unterstützen, was rechnerisch nur in einer Koalition mit den Linksparteien möglich war. Staatspräsident Shankar Dayal Sharma erteilte jedoch zunächst dem Kandidaten der BJP für das Amt des Premierministers, dem als gemäßigt geltenden Atal Behari Vajpayee 14, den Auftrag zur Regierungsbildung. Es gelang ihm jedoch nicht, innerhalb des Parlaments eine Sogwirkung zugunsten der BJP auszulösen. Bei der geringen indischen Fraktionsdisziplin hätten prinzipiell günstige „Zukaufsmöglichkeiten“ bestanden; die BJP wollte jedoch ohne Abgeordnetenkauf, in Indien „horse trading“ genannt, eine parlamentarische Mehrheit bilden. Bereits am 28. Mai 1996 trat Vajpayee als Premierminister zurück, um einer Vertrauensabstimmung zuvorzukommen.
Nach dem Rücktritt Vajpayees wurde Deve Gowda 15, der 63jährige Chief Minister des südindischen Bundesstaates Karnataka, als der Führer der United Front mit der Regierungsbildung beauftragt. Er führt eine aus vierzehn Parteien bestehende Vielparteienkoalition an, der nur geringe Chancen für eine mittel-oder langfristige Machtausübung eingeräumt werden. Die größte Partei der United Front ist die linksorientierte Janata Dal (Volkspartei), die mit nur 45 Sitzen über weniger als zehn Prozent der Mandate verfügt. Zur Koalition der United Front zählen eine Reihe von Splitterparteien, die sich primär auf eine regionale Machtbasis in einzelnen Bundesstaaten stützen. Innerhalb des indischen föderativen Systems kam es somit zu einer Machtübernahme im Zentrum durch die Peripherie. Nach anfänglichem Zögern traten die reformkommunistischen Splitterparteien, die ebenfalls nur auf regionaler Ebene -namentlich im Bundesstaat West Bengalen und im südindischen Musterstaat Kerala -eine Rolle spielen, der United Front bei oder sagten eine Unterstützung „von außen“ zu. Mit insgesamt 177 Mandaten bleibt die Vielparteienkoalition auf eine parlamentarische Duldung durch die Kongreßpartei angewiesen Aus der Heterogenität der Koalition und ihrer Abhängigkeit von der Kongreßpartei ergibt sich eine zweifache Instabilität und eine voraussichtlich geringe Handlungsfähigkeit der neuen Regierung.
Ein Blick auf die Verschiebungen innerhalb des Parteiensystems ergibt kurz zusammengefaßt folgendes Bild: Die Kongreßpartei verfügt -selbst bei einer Wahlniederlage mit historischem Tief-punkt -nach Stimmenanteil landesweit über die prozentual und sozial breitere Basis und erscheint damit als die einzige indische Volkspartei. Die BJP hat demgegenüber weiterhin das Gepräge einer auf den Westen und Norden beschränkten Regionalpartei und findet relativ hohen Zuspruch bei den Höherkastigen und im urbanen Milieu. Die Hindunationalisten fanden vor allem in den westlichen Bundesstaaten Maharashtra und Gujarat Unterstützung, in den besonders dicht besiedelten hindisprachigen Staaten des sogenannten „cow belt" profitierte die Partei von der wahltaktischen Uneinigkeit der übrigen Parteien. Nachdem vor der Wahl allgemein von einer Polarisierung zwischen Kongreßpartei und BJP ausgegangen wurde, erscheinen die in der United Front zusammengeschlossenen kleineren Parteien als die Überraschungssieger. Als Gründe für die Wahlniederlage der Kongreßpartei lassen sich die durch überlange Regierungszeit verursachte Degeneration und Verkrustung anführen. Inwieweit die Havala-Affäre, der größte Bestechungsskandal in der Geschichte Indiens, das Wahlverhalten beeinflußt haben könnte, ist schwer abschätzbar, zumal alle führenden Parteien darin involviert waren Deutlich spürbar herrschte in der Vorwahlzeit eine gegen das politische Establishment gerichtete Stimmung, und naturgemäß war davon in erster Linie die Kongreßpartei betroffen. Die Korruptionsaffäre prägte die innenpolitischen Auseinandersetzungen, belastete die demokratische Streit-kultur und offenbarte schließlich die Verquickung politischer und wirtschaftlicher Interessen.
II. Die dynamische Wirtschaftsentwicklung
Abbildung 2
Tabelle 2: Quelle: wie Tabelle 1
Tabelle 2: Quelle: wie Tabelle 1
1. Die Wirtschaftsreformen
Der Amtsantritt von P. V. Narasimha Rao als Premierminister am 21. Juni 1991 markiert den entscheidenden Wendepunkt in der indischen Wirtschaftspolitik Die Abkehr von einer jahrzehntelangen verfehlten, staatlich bevormundeten Wirtschaftsordnung und die Neuorientierung in Richtung auf Privatisierung, Liberalisierung und marktwirtschaftliche Öffnung wurden durch eine Reihe von Faktoren begünstigt. Hierzu zählen das offenkundige Scheitern des von Nehru eingeschlagenen sozialistischen Weges, die Erfolglosigkeit der indischen Wirtschaftspolitik im innerasiatischen Vergleich, der Umbruch in Osteuropa und das Wegbrechen der „Märkte“ in den früher planwirtschaftlich strukturierten Staaten sowie schließlich der unmittelbar bevorstehende Staatsbankrott.
Die wirtschaftlichen Reformkräfte wurden vom angesehenen Finanzminister Manmohan Singh angeführt, der maßgeblich die außenwirtschaftliche Öffnung gestaltete und über die Besetzung seines Schlüsselressorts hinaus als heimlicher Außenminister galt. Ihm gelang es, die Liberalisierung gegen die inneren Widerstände durchzusetzen, die aus der Neigung zum Macht-und Privilegienerhalt bei der früheren Wirtschaftselite resultierten. Die indische Regierung hat mit den zu Beginn der neunziger Jahre eingeleiteten Wirtschaftsreformen die Wende vom Primat der Verteilungs-hin zur Wachstums-orientierung insgesamt sehr erfolgreich vollzogen und damit in kurzer Zeit die indische Volkswirtschaft auf einen steilen Wachstumspfad gebracht. In dem Nebeneinander des staatlichen und privaten Sektors in einer mixed economy konnten die Spielräume für privatwirtschaftliche Aktivitäten und die außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen deutlich verbessert werden. Gleichwohl erscheint Indiens Wirtschaftssystem durch einen in den Schlüsselindustrien noch immer dominierenden staatlichen Sektor geprägt. Die Binnenmarkt-orientierung ergibt sich zum einen aus der wirtschaftsgeographischen Lage und zum anderen aus der Größe des heimischen Marktes.
Die Wirtschaftsreformen wurden in den der Parlamentswahl vorausgehenden Monaten nicht mit letzter Entschlossenheit vorangetrieben. Dieser vermutlich nur vorübergehende Verlangsamungseffekt dürfte durch die Vorwahlphase bestimmt gewesen sein, in der demokratisch gewählte Regierungen aus Gründen des Machterhalts oder der Führungsschwäche dazu neigen können, sich mit der Umsetzung von zwar als richtig erkannten, aber unpopulären Maßnahmen zurückzuhalten. Berücksichtigt man die Übergangsphase der schwierigen Regierungsbildung und die voraussichtlich geringe Handlungsfähigkeit der neuen Koalitionsregierung, droht die Gefahr, daß der Reformprozeß seine Dynamik verliert.
2. Die wirtschaftliche Lage Mitte der neunziger Jahre
Im Haushaltsjahr 1995/96 setzte sich die insgesamt positive wirtschaftliche Entwicklung fort. Die wichtigsten makroökonomischen Eckdaten belegen, daß die 1991 eingeleiteten Reformen eine stetige Aufwärtsbewegung der indischen Wirtschaft bewirkt haben Das Bruttosozialprodukt konnte 1995/96 mit reichlich sechs Prozent nochmals in der Größenordnung des vorangegangenen Haushaltsjahres gesteigert werden. Dieser beeindruckende Wert ist jedoch vor dem Hintergrund einer niedrigen Ausgangsbasis mit einer geringen Produktivität und im Zusammenhang mit einem immensen Nachholbedarf zu sehen. Mit Blick auf die ost-und südostasiatischen Volkswirtschaften, die mit deutlich höheren Zuwachsraten expandieren, ergibt sich eine weitere Relativierung. Im Agrarsektor wurde lediglich das Vorjahresniveau knapp behauptet. In der Industrie setzte sich demgegenüber mit 12 Prozent (Vorjahr 8, 6 Prozent) der kräftige, den Strukturwandel beschleunigende Aufschwung fort.
Die neue Finanzpolitik strebt die volle Konvertibilität der Indischen Rupie an, ein Ziel, das indessen zumindest kurzfristig nicht erreichbar scheint. Gegenüber dem US-Dollar als der wichtigsten Leitwährung verlor die Rupie 1994/95 lediglich 0, 1 Prozent. Erst im Oktober 1995 mußte ein . Abgleiten der indischen Währung auf den Devisenmärkten notiert werden, wodurch sich für das zweite bis vierte Quartal 1995 eine Wertminderung um 4, 9 Prozent ergab. Die Inflationsrate konnte von 10, 4 Prozent (1994/95) auf etwa fünf . Prozent im Haushaltsjahr 1995/96 zurückgeschraubt werden.
Problematisch stellt sich weiterhin die Lage auf dem indischen Arbeitsmarkt dar. Etwa zwei Drittel aller Arbeitskräfte sind in der Landwirtschaft tätig, wobei viele Landarbeiter auf das gesamte Jahr gesehen nur in der Erntezeit gewissermaßen einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen und in der übrigen Zeit versteckt arbeitslos sind. Ein Großteil dieser kaum quantifizierbaren Arbeitslosen oder Unterbeschäftigten findet im ländlichen Milieu ein Minimum an sozialer Sicherheit in den traditionellen Familienstrukturen. In den Städten drängt dieser Personenkreis bevorzugt in den informellen Sektor und lebt am Rande des Existenzminimums oder fällt unter die Armutsgrenze (poverty line) zurück. Eine Verschärfung der Arbeitsmarktsituation ergibt sich durch den demographischen Druck und in den Städten noch zusätzlich durch die Landflucht. Im Jahre 1994/95 wurden 7, 18 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Diese Zahl entspricht jedoch nur einem relativen Anstieg um 2, 03 Prozent, der durch das Bevölkerungswachstum ausgeglichen oder gar überkompensiert wird.
Im Zuge positiver gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen und infolge der außenwirtschaftlichen Öffnung konnten im Außenhandel besonders hohe Zuwachsraten erzielt werden. So stiegen die Exporte von April bis Dezember 1995 mit 24, 2 Prozent noch stärker als in den beiden vorangegangenen Jahren, in denen bereits beachtliche Steigerungen von 20, 0 und 18, 4 Prozent erreicht worden waren. In vergleichbaren Größenordnungen stiegen die Importe um 22, 9 Prozent (1994/95) und um 29, 3 Prozent für das zweite bis vierte Quartal 1995. Die Bundesrepublik Deutschland ist mit einem Anteil von etwa 6, 5 Prozent bei den Exporten und über acht Prozent an den Importen nach den USA und Japan der drittwichtigste Handelspartner Indiens.
3. Wirtschaftliche Herausforderungen der neuen Regierung
Über die Unumkehrbarkeit der 1991 eingeleiteten Reformpolitik bestand zumindest vor den Wahlen unter den wichtigsten politischen Parteien und bei den politischen Meinungsführern weitgehender Konsens. Von der linksorientierten Koalitionsregierung werden voraussichtlich nur geringe Akzentverschiebungen in der Wirtschaftspolitik ausgehen, da die United Front existentiell von der parlamentarischen Duldung durch die Kongreßpartei abhängt. In Medien und Finanzkreisen wurde mit einer gewissen Erleichterung aufgenommen, daß der frühere Handelsminister Chidambaram in der neuen Regierung das Finanzministerium übernimmt. Die Besetzung dieses Schlüsselressorts durch einen prominenten Vertreter der früheren Kongreßregierung spricht für die Fortsetzung der bisherigen Wirtschafts-und Finanzpolitik. Es sind dabei jedoch langwierige Abstimmungsprozesse zu erwarten, die zu einer insgesamt etwas verlangsamten Fortführung der Reformen führen dürften. Premierminister Deve Gowda kündigte bei seinem Amtsantritt am l. Juni 1996 an, die Wirtschaftsreformen zu verstärken und Indien für ausländische Investoren weiter zu öffnen. Inwieweit diese Ankündigung unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen umsetzbar ist, bleibt abzuwarten.
Insbesondere die ländliche Bevölkerung profitiert noch nicht von den Vorteilen der Marktwirtschaft. Demgegenüber haben sich die städtischen Ballungsräume im vergangenen Jahrfünft überaus dynamisch entwickelt. In einem regional ausgeglicheneren wirtschaftlichen Aufschwung kommt dem privaten kleinen und mittleren Unternehmertum eine Schlüssel-funktion zu. Indien verfügt inzwischen über einen Mittelstand von etwa 200 Millionen Menschen und bietet von den westlichen Industrieländern vielfach noch nicht wahrgenommene wirtschaftliche Möglichkeiten.
Die größte Herausforderung für die indische Wirtschaft besteht in der Erzielung armutsbekämpfender Effekte. Hierzu bedarf es eines langanhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs, der nicht nur bestehende Wachstumsinseln vergrößert, die Aufwärtsentwicklung einzelner Sektoren forciert und die Exportorientierung verstärkt. Ebenso wichtig -auch für die politische Stabilität -ist es, daß die wirtschaftliche Dynamik eine Breitenwirkung entfaltet, die den ländlichen Bevölkerungsmassen neue Einkommensmöglichkeiten bietet und ihren Lebensstandard anhebt.
III. Die indische Gesellschaft im Umbruch
1. Kastenwesen und soziale Schichtung
Indien ist soziokulturell, ethnisch, religiös und sprachlich überaus vielschichtig. Das kulturelle Erbe wird maßgeblich durch die jahrtausendealte hinduistische Kultur geprägt, die in weiten Teilen Indiens durch den Islam überlagert wurde beziehungsweise mit ihm in einer Synthese verschmolz. Im Unterschied zum christlich-abendländischen Kulturraum, in dem die Gesellschaft wesentlich auf dem Individualismus beruht, besteht in Indien traditionellerweise eine soziale Gliederung auf der Grundlage von Gruppe und Großfamilie sowie dem Nebeneinander -und nicht etwa dem Untereinander -verschiedener Kasten. Auf der religiös-rituellen Ebene unterteilt das hinduistische Kastenwesen die Gesellschaft in folgende Gruppen: Priester (Brahmins), Adelige (Kshatriyas), Kaufleute (Vaishyas) und Dienerschaft (Sudras) Diese grundsätzliche Einteilung differenzierte sich durch Unterkasten und Berufsgruppen weiter aus. Die soziale Schichtung in einer traditionell ländlich strukturierten Gesellschaft hängt demgegenüber vom Umfang des Landeigentums ab. Demnach sind Kaste und Klasse gegensätzliche Kategorien, denn die Zugehörigkeit zu einer Kaste ist durch Geburt bestimmt, während die zu einer Klasse sich nach dem ökonomischen Status richtet, der sich ändern kann Die gesellschaftlichen Trennungslinien des Kastenwesens verlaufen daher nicht zwingend parallel zu denen der sozialen Klassen, so daß beispielsweise ein Brahmane materiell oder sozial durchaus arm sein kann.
Während der Kolonialzeit wurden westliche Erziehungs-und Bildungsmethoden eingeführt und die traditionelle Gesellschaftsstruktur durch die Entstehung neuer Eliten sowie durch Migration und soziale Mobilität überlagert. In der Oberschicht sind nach westlichem Vorbild der berufliche Erfolg und der materielle Wohlstand insbesondere in den Städten maßgebend, in den unteren Schichten hingegen und vor allem im ländlichen Milieu geben traditionelle soziale Zuordnungsmuster einen stärkeren Ausschlag.
2. Eckdaten der gesellschaftlichen Entwicklung
Seit der Unabhängigkeit hat sich in Indien ein tief-greifender sozialer Wandel vollzogen. Ein Blick auf wichtige gesellschaftliche Indikatoren veranschaulicht die Entwicklung seit Anfang der fünfziger Jahre (siehe Tabelle 1).
Die Lebenserwartung hat sich von 32, 1 auf 60, 8 Jahre innerhalb von vierzig Jahren nahezu verdoppelt. Die Analphabetenrate wurde seit 1951 von 81, 7 Prozent in jeder Dekade um etwa zehn Prozentpunkte zurückgeschraubt, und nach der Volkszählung von 1991 war nur noch etwa jeder Zweite (47, 8 Prozent) des Lesens unkundig. Die Geburtenrate lag bis Anfang der achtziger Jahre bei einem jährlichen Zuwachs von etwa vier Prozent und konnte bis 1994 auf 2, 86 Prozent gesenkt werden. Die Kindersterblichkeit halbierte sich von 14, 6 Prozent (1951) auf ca. 7, 3 Prozent (1994). Das monatliche Durchschnittseinkommen schließlich konnte seit 1951 lediglich verdoppelt werden und erhöhte sich seit Anfang der neunziger Jahre nur unwesentlich
Die Indikatoren für die soziale Entwicklung gewinnen noch an Aussagekraft, wenn man neben der zeitlichen Dimension einen Vergleich mit anderen asiatischen Staaten anstellt:
Danach weist Indien mit 60, 8 Jahren die niedrigste Lebenserwartung auf, die von Singapur und anderen hochentwickelten ost-und südostasiatischen Staaten um bis zu 14 Jahren übertroffen wird. Die Säuglingssterblichkeit ist in Pakistan mit 91 auf 1 000 Geburten deutlich höher als in Indien (73) und wiederum am niedrigsten in Singapur mit 6, gefolgt von Südkorea mit 11. In der Analphabetenrate kommt das starke Entwicklungsgefälle innerhalb Indiens deutlich zum Ausdruck. Bei einem nationalen Mittelwert von 47, 8 Prozent liegt im südindischen Bundesstaat Kerala die Quote bei nur 10, 2 Prozent und damit in der Größenordnung des Stadtstaates Singapur. Im Unterschied zu den ökonomisch fortgeschrittenen, scheindemokratischen Erziehungs-oder Modernisierungsdiktaturen Ost-und Südostasiens verfügt die indische Gesellschaft über eine demokratische politische Kultur. 3. Die politische Kultur der indischen Gesellschaft Vor dem Hintergrund des skizzierten sozioökonomischen Entwicklungsstandes und des niedrigen Bildungsniveaus weiter Bevölkerungsteile stellt sich die Frage nach der politischen Kultur, dem politischen Bewußtsein und dem Demokratieverständnis in Indien. Das in New Delhi ansässige renommierte Centre for the Studies of Developing Societies (CSDS) nutzte die indischen Parlamentswahlen von 1996, um in einer Phase erhöhter politischer Mobilisierung diese Fragen zu beleuchten. Die Untersuchung stützte sich auf eine landesweite, repräsentative Umfrage, bei der 9 705 Personen etwa vier Wochen vor den Wahlen interviewt wurden Danach hatten 37, 1 Prozent der Befragten noch keine Kenntnis von den Wahlen erlangt. Selbstverständlich hängt dieser Wert stark vom Bildungsgrad der Befragten ab. So waren 95, 6 Prozent der Hochschulabsolventen über die bevorstehenden Wahlen im Bilde, während der Prozentsatz bei den Analphabeten lediglich 45, 2 betrug. Eine weite Kluft im politischen Bewußtsein besteht bei geschlechtsspezifischer Betrachtungsweise: 74, 6 Prozent der Männer, aber lediglich 51, 3 Prozent der Frauen zeigten sich über die Wahlen informiert. Wenige Wochen vor dem Urnengang hatten sich etwa 45 Prozent der Befragten in ihrer Wahlentscheidung noch nicht festgelegt. Die Wechselwähler machen -bei großen regionalen Unterschieden innerhalb Indiens -nahezu die Hälfte der Wählerschaft aus Besonders hoch liegt der Anteil der Unentschlossenen bei den Minderheiten; so nutzen beispielsweise die Muslime durch rationales und taktisches Wahlverhalten ihre Stellung in zahlreichen Wahlkreisen als Zünglein an der Waage. Deutliche Unterschiede bestehen zwischen den Wahlkampfthemen der politischen Parteien und den Problemen, die aus der Sicht der Wähler vordringlich gelöst werden sollten. Nicht die Arbeitslosigkeit, die Inflation oder die Korruption erschienen der Wählerschaft vorrangig, sondern 58 Prozent gaben an erster Stelle die Verbesserung der Wasser-und Stromversorgung an. Eine auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse gerichtete Politik wurde jedoch von den Parteien kaum als Streitfrage im Wahlkampf thematisiert.
Indien sah sich in den vergangenen Jahren mit dem scheinbar allen offenen Gesellschaften inne-wohnenden Phänomen der Partei-und Politikverdrossenheit konfrontiert. Die vom CSDS durchgeführte Studie ergab jedoch, daß nahezu alle Befragten von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen wollten. Eine Kultur der Protest-oder Nichtwähler scheint es in Indien demnach nicht zu geben. Schließlich zeigte die Befragung eine deutliche Zunahme in der Bejahung der Demokratie: Die Zustimmung zur bestehenden politischen Ordnung stieg in den vergangenen 25 Jahren von 43, 4 auf 67, 9 Prozent an. Das politische Gewicht Indiens bietet günstige Voraussetzungen, die Demokratisierung in anderen asiatischen Staaten zu stimulieren.
IV. Die Neuorientierung der indischen Außenpolitik
1. Indiens regionale Führungsrolle in Südasien Zum Verständnis des Wandels in der indischen Außenpolitik bedarf es einer kurzen zeitlichen Rückblende und einer Einordnung Indiens in die globalen Machtkonstellationen. Indien spielte als Vorreiter und Wortführer eine wichtige Rolle im Dekolonisationsprozeß. Während des Ost-West-Konflikts war Indien außen-und sicherheitspolitisch enger an die Sowjetunion angelehnt und stand an der Spitze der Blockfreienbewegung. Im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten entwickelten sich seit den frühen fünfziger Jahren Interessengegensätze, denn die USA strebten den Aufbau eines globalen Paktsystems zur Abwehr des Kommunismus an, wohingegen die indische Außenpolitik bemüht war, die nationale Unabhängigkeit der blockfreien Staaten zu fördern. Ein allmählicher Abbau dieses Spannungsverhältnisses und eine Neuorientierung der indischen Außenpolitik konnte erst mit der Zäsur des Jahres 1991 eingeleitet werden, die international durch das Ende des Ost-West-Konflikts und auf nationaler Ebene durch die Amtsübernahme von Premierminister P. V. Narasimha Rao markiert wird.
Den bedeutsamsten Regionalkonflikt in Südasien bildet weiterhin die zwischen Indien und Pakistan ungelöste Kaschmirfrage. Dieser Konflikt erwies sich auch nach 1991 als vom Ost-West-Konflikt unabhängig, obgleich die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten in einem strategischen Viereck klare Positionen zugunsten Indiens bezie37 hungsweise Pakistans ergriffen hatten Die historischen Wurzeln des Konflikts reichen in das Jahr 1947 zurück, als der Subkontinent in die unabhängigen Staaten Indien und Pakistan geteilt wurde. Der völkerrechtliche Status Kaschmirs blieb bei der Teilung ungeklärt und ist seither umstritten. Die Kaschmirfrage bildet den Kern der Erzfeindschaft zwischen Indien und Pakistan.
Die Beziehungen zur Volksrepublik China sind seit dem Grenzkrieg im Jahre 1962, den Indien in einer demütigenden und noch nicht verwundenen Niederlage verlor, gespannt. Das Verhältnis ist durch eine Rivalität im Ringen um die regionale Vormachtstellung und das Streben Indiens nach Erlangung eines vergleichbaren internationalen Status gekennzeichnet. Indien bemüht sich intensiv, ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu werden, um auf internationalem Parkett mit China auf der gleichen Stufe zu stehen. Indien hat daher eine sehr aktive Rolle innerhalb der Vereinten Nationen, beispielsweise im Rahmen der friedenssichernden Maßnahmen in Kambodscha, gespielt Auf der sicherheitspolitischen Ebene strebte es die Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen an, um auch auf diesem Gebiet einen mit China vergleichbaren Status zu erlangen. Der nukleare Rüstungswettlauf in Asien entwickelte sich zudem aus der in Indien als Bedrohung angesehenen Empfindung, von China und Pakistan umklammert zu sein.
Das Königreich Nepal erfüllt die sicherheitspolitisch wichtige Funktion eines Pufferstaats zwischen den beiden Rivalen Indien und China. Demgegenüber ist Indiens Position als regionale Ordnungsmacht relativ unangefochten in den Beziehungen zu Bangladesh und zu Sri Lanka. Im Jahre 1971 intervenierte Indien in Ostpakistan, dem heutigen Bangladesh, und spaltete einen neuen, vom westlichen Teil Pakistans unabhängigen Staat ab. Indien konnte zumindest anfänglich ein gutes Verhältnis zu Bangladesh entwickeln. Für das internationale Machtgefüge Südasiens bedeutete die Entstehung des Staates Bangladesh eine nachhaltige Schwächung Pakistans und das Hervortreten Indiens als regionale Ordnungsmacht.
Das der südindischen Küste vorgelagerte Nachbarland Sri Lanka befindet sich seit 1983 in einem Bürgerkrieg zwischen der Mehrheitsbevölkerung der überwiegend buddhistischen Singhalesen und der meist hinduistischen tamilischen Minderheit. Aus innen-und außenpolitisch motivierten Interessenlagen griff Indien im Jahre 1987 in diesen Konflikt ein Aus indischer Sicht galt es, die Entstehung eines unabhängigen Tamilenstaates im Norden der Insel zu verhindern, die die sezessionistischen Bewegungen im eigenen Land ermutigt hätte. Außenpolitisch verfolgte Indien mit der Intervention die Zielsetzung, den Einfluß Dritter, namentlich der Vereinigten Staaten, Chinas und Pakistans, auf die politische Entwicklung des Nachbarlandes zurückzudrängen. Die indischen Friedenstruppen vermochten jedoch nicht entscheidend zu einer Befriedung des Bürgerkriegs beizutragen und wurden nach einem außenpolitischen und militärischen Debakel im Jahre 1991 zurückgezogen.
Die Unterschiedlichkeit der politischen und wirtschaftlichen Systeme sowie die tiefgreifenden außenpolitischen Interessengegensätze der süd-asiatischen Staaten haben bisher eine regionale Zusammenarbeit verhindert. Zudem wehren sich insbesondere die kleineren Staaten gegen eine Integration, die die indische Hegemonie auf dem Subkontinent verfestigen würde. Die im Jahre 1985 gegründete Organisation SAARC (South Asian Association of Regional Cooperation), mit der den positiven Vorbildern der Europäischen Union und der südostasiatischen Staatengruppe ASEAN (Association of South East Asian Nations) nachgeeifert wurde, blieb profillos und strukturell handlungsunfähig Für Indien war daher eine außen-und wirtschaftspolitische Orientierung in Richtung auf die südostasiatischen Staaten naheliegend.
2. Indiens Öffnung gegenüber Südostasien
Indien hat sich erst zu Beginn der neunziger Jahre im Zuge seiner wirtschaftlichen Liberalisierung und außenpolitischen Öffnung mit einer „Look East Policy“ Südostasien zugewandt Diese Neuorientierung ergab sich nicht allein aus den begrenzten Möglichkeiten innerhalb Südasiens, sondern vor allem aus der wirtschaftlichen Dynamik der südostasiatischen Region. Darüber hinaus strebte Indien eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den ASEAN-Staaten an, um den chinesischen Einfluß zurückzudrängen. Das spät erwachte indische Interesse an Südostasien bringt Indien in den internationalen Gremien der Region in die Position des Außenstehenden oder gar des Bittstellers, dem man bestenfalls einen Beobachterstatus einzuräumen gewillt ist. Von den Schwellenländern der Region haben einige, namentlich Singapur, den Sprung in die Gruppe der Industriestaaten geschafft. Daraus resultiert ein bisweilen überzogenes Selbstbewußtsein in einigen ASEAN-Staaten selbst den Industriestaaten gegenüber. Danach stehen in der neuen weltwirtschaftlichen Ordnung unterhalb der Kategorie der NICs (Newly Industrialized Countries) die FDCs (Formerly Developed Countries), eine Staatengruppe, die von Großbritannien angeführt wird. Welcher Stellenwert kommt Indien zu?
Indien hat in seinen Beziehungen zur ASEAN lediglich den Status eines „Dialogpartners“ erreicht und strebt über den Weg der Assoziierung langfristig die Vollmitgliedschaft in der Organisation an Aufgrund des starken Entwicklungsgefälles erscheint die Entwicklung einer „Special Relationship“, etwa vergleichbar mit den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, als ein realistischeres Szenario.
Vor dem Hintergrund der statusorientierten indischen Außenpolitik wiegt die Enttäuschung besonders schwer, zu der neugebildeten APEC (Asia Pacific Economic Cooperation) nicht als Mitglied zugelassen worden zu sein Die 18 Mitglieder zählende Organisation verfolgt als Ziel die Intensivierung der Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum Als in der Jahresmitte 1994 das ASEAN Regional Forum (ARF) gegründet wurde, war man in Indien enttäuscht, nicht zum Kreis der Gründungsmitglieder zu zählen Nach anfänglichen Vorbehalten erkannten die USA die Vorzüge, das Gewicht Chinas im ARF durch Indien auszubalancieren Der niedrige Entwicklungsstand und die geringe wirtschaftliche Integration in die Weltmärkte erweisen sich somit für Indien als schwerwiegende Hemmnisse, um als Mitspieler in der regionalen und internationalen Politik eine führende Rolle auszuüben.
V. Quo vadis India?
Indien verfügt über den Vorteil einer nunmehr fast ein halbes Jahrhundert währenden demokratischen politischen Ordnung und hebt sich diesbezüglich positiv von denjenigen asiatischen Staaten ab, deren Primat in der Erzielung des größtmöglichen Wirtschaftswachstums -bei Vernachlässigung der politischen Sphäre -besteht. Aber auch im ökonomischen Bereich hat Indien komparative Vorteile, die insbesondere im niedrigen Lohnniveau und in den Humanressourcen liegen. Die geschickte Verknüpfung dieser Stärken hat Indien in einigen Hochtechnologien, beispielsweise in der Entwicklung von Software, Mikroelektronik und Gentechnologie, in die Gruppe der international führenden Staaten gebracht. Nimmt man die Möglichkeiten hinzu, die sich aus den erst vor fünf Jahren begonnenen Wirtschaftsreformen ergeben, verfügt Indien über ein außerordentliches Entwicklungspotential.
Vier Wochen nach Amtsantritt hat sich die Vielparteienkoalition der United Front weitgehend stabilisiert, jedoch werden die ersten Friktionen innerhalb der Janata Dal (Volkspartei) als der führenden Kraft erkennbar Jüngsten Umfragen zufolge werden der Vielparteienkoalition von über der Hälfte der Befragten keine Chancen eingeräumt, länger als zwölf Monate an der Macht zu bleiben Die Erhebungen zeigen, daß die BJP aus Neuwahlen gestärkt hervorginge. Die Kongreßpartei dürfte sich daher vorerst zur weiteren Duldung der United Front gezwungen sehen.
Indien verdient in seinen Bemühungen im Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung alle Formen der Unterstützung, wie sie beispielsweise durch ausländische Investitionen und Joint-ventures oder durch Wissenschaftskooperation und entwicklungspolitische Zusammenarbeit geleistet wird. Der Bundesrepublik Deutschland als dritt-wichtigstem Handelspartner kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu, und es bleibt zu hoffen, daß die Chancen, die der indische Markt bietet, in Zukunft von deutscher Seite noch intensiver genutzt werden.
Justus Richter, Dr. phil., geb. 1957; Studium der Politischen Wissenschaft, Orientalischen Philologie und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Kiel; 1987 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Kiel; 1993 und 1994 für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunesien tätig und seit Anfang 1995 Auslandsmitarbeiter in Indien. Veröffentlichungen u. a.: Konflikte aus laizistischem und islamischem Staatsverständnis, dargestellt am Beispiel der Türkei, Diss., Kiel 1991; zahlreiche Aufsätze zum Thema Islam und Demokratie in Tunesien und Algerien sowie zur politischen Entwicklung Indiens.
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