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Die beiden Stadtzentren Berlins: Unter den Linden und Kurfürstendamm | APuZ 17/1997 | bpb.de

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APuZ 17/1997 Die beiden Stadtzentren Berlins: Unter den Linden und Kurfürstendamm Berlin: Lasten der Vergangenheit und Hoffnungen der Zukunft Stadtentwicklungspolitik und lokale Demokratie in vier Großstädten. Eine empirische Untersuchung Entwicklungs-, Planungs-und Partizipationsprozesse in ostdeutschen Mittelstädten Tübingen: Neue Wege der Planung und der Bürgeraktivität beim Städtebau

Die beiden Stadtzentren Berlins: Unter den Linden und Kurfürstendamm

Wolf Jobst Siedler

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit der unverhofften Wiedervereinigung Deutschlands erhielt Berlin über Nacht auch die alte Allee der Residenzstadt -„Unter den Linden“ -zurück. Plötzlich war die Chance gegeben, daß man anstelle des erst nach dem Krieg ruinierten wilhelminischen Kurfürstendamms die Avenue aus der Epoche Friedrichs des Großen wiedergewann. Nun könnte sozusagen das Vergangene das Zukünftige werden: die „Linden“, der Corso des 18., und der Kurfürstendamm, der Boulevard der Jahrhundertwende, als die Flaniermeilen des 21. Jahrhunderts. Das Hochkommen des Kurfürstendamms hatte mit dem Absinken der alten aristokratischen Promenade „Unter den Linden“ zu tun, aus der um die Jahrhundertwende das Leben langsam verdrängt worden war. Doch auch der Kurfürstendamm ist längst nicht mehr der Boulevard, der er von 1920 bis 1970 war. Er ist heute eine Einkaufs-und Geschäftsstraße, wie es sie überall in der Stadt gibt. Es stellt sich die Frage, ob die egalitäre Massengesellschaft des zu Ende gehenden Jahrhunderts im Osten wie im Westen eines Boulevards noch fähig und bedürftig ist. Diese Frage, die den Wiederaufbau der zerstörten oder ruinierten Stadtmitte aufwirft, gilt also der Fähigkeit unserer Zeit, neue Bühnen zu bereiten. Kann die Gegenwart, um es auf eine Formel zu bringen, noch einen Boulevard konzipieren, zu dem es den Besucher zieht? Oder wird wieder nur eine Ansammlung von Regierungsgebäuden, eine Bürolandschaftsund Ladenketten-Meile daraus, aus der das Leben in die unversehrten Räume flieht?

Die Linden: Der preußische Corso

Mit der unverhofften Wiedervereinigung des Landes wie der Stadt erhielt Berlin über Nacht auch die „Linden“, die alte Allee der Residenzstadt, zurück. Plötzlich war die Chance gegeben, daß man anstelle des erst nach dem Krieg ruinierten wilhelminischen Kurfürstendamms die Avenue aus der Epoche Friedrichs des Großen wiedergewann. Sie hatte ja den Krieg, zwar schwer beschädigt, aber doch in der Substanz ungemindert, überdauert. Nun könnte sozusagen das Vergangene das Zukünftige werden: die „Linden“, der Corso des achtzehnten Jahrhunderts, und der Kurfürstendamm, der Boulevard der Jahrhundertwende, als die Flaniermeilen des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Ging man 1950 vom Brandenburger Tor her über die nur kulissenhaft ausgeglühten „Linden“ an Nerings und Schlüters Zeughaus auf der einen und Knobelsdorffs Königlicher Oper und Stracks Kronprinzenpalais auf der anderen Seite vorbei in Richtung des Schlosses, so schien die historische Stadtmitte leidlich durch den Krieg gekommen zu sein. Zwar wurden das Stadtschloß von Andreas Schlüter, in dem in den ersten Jahren nach dem Kriege schon wieder Ausstellungen stattgefunden hatten, und der Pariser Platz, wo im Hotel Adlon in den Trümmern des Kriegsendes ärmliche Menüs serviert worden waren, in den fünfziger und sechziger Jahren abgerissen. Aber der östliche, der eigentlich dynastische Teil der „Linden“ mit Boumanns Palais des Prinzen Heinrich, das nach Jena und Auerstedt Universität geworden war, und dem gegenüberliegenden, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aufgestockten und „embellezierten"

Kronprinzenpalais, dem anschließenden Prinzessinnenpalais von Gentz und dem Alten Palais von Langhans wurde doch wiederhergestellt. Das Politbüro brauchte eine repräsentative Allee, um die Genossen aus Moskau gebührend empfangen zu können, da man selber in einem halben Jahrhundert nur der barackenartigen „Protokollstrecke“ zum jahrzehntelang provisorischen Flughafen Schönefeld fähig gewesen war.

Aber der im Grunde bürgerliche Teil der „Linden“ im Westen, also der Abschnitt zwischen der Friedrich-und der Wilhelmstraße, wurde sonderbarer-weise vom Sozialismus nach dem Kriege abgeräumt. Die ja nur ausgeglühte spätklassizistische Preußische Akademie der Künste fiel dem Wahn einer sozialistischen „Magistrale“ ebenso zum Opfer wie die Botschaftsgebäude Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und Frankreichs auf dem alten „Quarree“, das dann nach den Freiheitskriegen der Pariser Platz geworden war. Noch jahrzehntelang führten rauchgeschwärzte Fassaden vor Augen, weshalb man im alten Sankt Petersburg die „Linden“ den glänzendsten Prospekt Europas und den Platz am Brandenburger Tor den Salon Berlins genannt hatte.

Einen Boulevard dieser Art hatte es ja tatsächlich nirgendwo sonst in Europa gegeben, und die wilhelminischen Zutaten seiner westlichen Hälfte störten im Grunde nicht sonderlich. Es war eine Allee, die von dem Renaissance-Erker des Schlosses gegenüber dem Lustgarten bis zu dem Vorklassizismus des Tores von Langhans am Saum des Tiergartens reichte. Von Schlüter über Knobelsdorff und Schinkel bis zu Persius und Stüler hin reihte sich hier eine klassische Architektur an die andere, bis in das Frühjahr des Jahres 1945. Was waren die Champs-Elysees aus dem Kaiserreich Napoleons III. und was Roms Via Veneto mit ihren Bürgerpalästen aus dem Fin de siecle dagegen? Noch bis in die Straßenkämpfe der Eroberung hinein war Berlin -sonst doch, nach Fontanes Wort, nicht viel mehr als eine hochgebuffte Ansammlung von Häusern -wenigstens an dieser Stelle eine der großen Städte Europas.

Hatte der Sozialismus noch Spuren der Visionen aus der Aufbruchszeit vom Jahrhundertbeginn, oder folgte er nur willenlos den Direktiven aus Moskau, wo inzwischen der Stalinsche Spätstil über den Elan der zwanziger Jahre triumphiert hatte? Jedenfalls war man gleich rücksichtslos wie die Zukunftsenthusiasten der anderen Stadthälfte. Westlich des Brandenburger Tors träumte man ja anstelle des verachteten Häusermeers von einer heiteren „Stadtlandschaft“ inmitten grüner Parkanlagen, die sich aus Trümmern erheben sollte. Der erste Entwurf des „Planungskollektivs“ nachdem Kriege, dem Hans Scharoun vorstand und der noch im Stadtschloß ausgestellt wurde, sah nicht einmal den Straßenzug der „Linden“ vor. Die erhaltenen Bauten aus Berlins klassischer Epoche sollten nicht mehr entlang einer Straße „aufgereiht“ sein, sondern als Erinnerung an die historische Stadt vereinzelt für sich auf Rasenflächen stehen. Dazwischen aber über-und unterirdische Schnellstraßen -„Verteiler“, „Anbinder“ und „Anschließer“ in der Scharounschen Terminologie. Einer der großen Architekten der deutschen Moderne als der große Stadtzerstörer der Nachkriegszeit.

In der anderen Stadthälfte war es nicht viel anders. Die Wandlung der Visionen in den vier Jahrzehnten von der Zukunftseuphorie des Kriegsendes über die proletarische Palastarchitektur der StalinÄra bis zu den Notdurftbauten des untergehenden Honecker-Staates spiegelt die ganze Misere der sozialistischen Welt. Die Mai-Aufzüge der fünfziger Jahre hatten noch in den Resten der aristokratischen und der bürgerlichen Welt stattgefunden; zum vierzigjährigen Jubiläum des Oststaates zogen Nationale Volksarmee und Freie Deutsche Jugend vorbei an Plattenbauten oder durch leere Quartiere, durch die der Wind strich.

Die alten „Linden“ bildeten das Gehäuse der aristokratischen Welt, die bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein hier ihre Bühne gehabt hatte. Der Kurfürstendamm aber war das Wohnquartier der bürgerlichen Gesellschaft, in die dann in der Republik die Geschäftswelt drängte, so daß er neben den Champs-Elysees den eigentlichen Boulevard des Europas der Zwischenkriegszeit darstellte. Aber nach der äristokratischen und der bürgerlichen Gesellschaft war nicht die verheißene proletarische Kultur gekommen, wie sie einst Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und wohl auch der entlaufene Bürgersohn Bertolt Brecht verkündet hatten. Die neuen Städte oder Stadtteile zwischen Marzahn, Nowa Huta und Bratislava zeigen, daß der Sozialismus auch im Städtebau die Gesellschaft nicht reformiert, sondern abgeschafft hat.

Die „Linden“ stehen in engem Bezug zu dem Schloß Andreas Schlüters, von dem sie ihren Anfang nehmen, und sie enden am Brandenburger Tor, hinter dem der Tiergarten beginnt. An diesen „Linden“ liegen fast alle Bauten der staatlichen Repräsentation, das Zeughaus wie das Kronprinzenpalais, das Prinzessinnenpalais und das Alte Palais, das seine historische Würde vorzugsweise daraus bezog, daß sich der neunzigjährige Monarch hier hinter dem „historischen“ Fenster beim Aufzug der Wache sehen ließ. Dazwischen treten dann im Lauf der Jahrhunderte Opernhäuser, Museen und Bibliotheken, die alle eng mit dem

Staat verbunden sind. Aber am westlichen Teil der „Linden“ zum Tiergarten hin stehen die Häuser der Bürger, und es findet sich in ganz Europa kaum eine Parallele zu jener Mischung der Stände, die hier Gardeoffiziere und Generalswitwen neben Handschuhmachern und Konditormeistern, Stadt-häuser des Adels neben Häusern von Handwerkern versammelt. Selbst der sie abschließende Pariser Platz ist ursprünglich bürgerlichen Zu-schnitts, bis dann hohe Offiziere wie Zieten und Schwerin im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert und fremde Gesandtschaften, später Botschaften, hier Quartier nehmen.

Diese Mischung des Aristokratischen mit dem Bürgerlichen und der Handwerkerwelt machte den einzigartigen Charakter der „Linden“ aus, die übrigens noch lang ungepflastert blieben; noch im achtzehnten Jahrhundert mußte eine Verfügung ausdrücklich festlegen, daß kein Vieh mehr zwischen den vier Lindenreihen getrieben werden dürfe. Auf der „Linden-Rolle“ von 1820 sind wenige kleine Hotels und einige Gasthöfe eingezeichnet, so unter anderem das berühmte „Hotel Petersbourg“. In der Mitte des Jahrhunderts kamen dann Thee-Stuben und schließlich Cafes hinzu, bis am Ende des Jahrhunderts die „Linden“ weniger eine Wohnstraße als ein Treffpunkt der Gesellschaft sind, die sich mit dem Cafe Bauer und dem Cafe Kranzier hier ihre eigenen Begegnungsstätten schuf.

Diese „Linden“ wechseln alle dreißig Jahre ihr soziales Gepränge und ihren architektonischen Zuschnitt. Eben beherrschten noch zweigeschossige barocke Häuser das Straßenbild, unter denen einige Bauten mit drei Stockwerken in die Augen fallen. Aber das Biedermeier, das ja auch Schinkels im barocken Berlin monumental wirkende Bauten vom Alten Museum am östlichen bis zum Palais Redern am westlichen Ende der „Linden“ entstehen sieht, ist in seinen späten Jahren eine Epoche des Baufiebers. In der Mitte des Jahrhunderts sind die „Linden“ durchgängig drei-, meist sogar viergeschossig mit klassizistischen Häusern bebaut. Aber wiederum eine Generation später werden um 1880 auch diese Häuser abgerissen, um „Pracht-Palais“ im neuesten Geschmack Platz zu machen.

Berlin war eben noch immer eine ländliche -auswärtige Besucher sagten: eine provinzielle -Residenz, die sich mit den anderen Kapitalen Europas nicht messen konnte. In Rom stehen am Corso noch heute die Häuser, in denen Goethe, Thorwaldsen, Humboldt und Thomas Mann verkehrten; in Berlin waren schon lange vor dem Bomben-krieg und den Straßenkämpfen die Gebäude verschwunden, die einst Lessing, E. T A. Hoffmann und Mendelssohn bewohnten, weshalb man hier schon vor dem Ersten Weltkrieg die Orte suchen mußte, mit denen sich stadtgeschichtliche Erinnerungen verbinden.

Der schnelle Wandel der jeweils neuesten Bebauung hatte den ganzen Stilwirrwarr des neunzehnten Jahrhunderts über die „Linden“ hereinbrechen lassen, so daß Photographien aus den achtziger Jahren vor Augen führen, weshalb es seine Berechtigung hatte, wenn man von Paris und London aus mitleidig auf die Stillosigkeit Berlins heruntersah. Aber nach wenigen Jahrzehnten ging auch das vorüber, und kurz bevor der Erste Weltkrieg herein-brach, machte sich die Stilreinigung des neuen Jahrhunderts bemerkbar, die sich eher mit Alfred Messels Kaufhaus Wertheim am nahen Leipziger Platz als mit den immer wieder ins Feld geführten Fabrikbauten von Peter Behrens ihre eigentlichen Tempel errichtete. In den letzten zehn Jahren vor dem Krieg war die Weltstadt dabei, eine eigene Architektur-Sprache zu finden, wie der Schriftsteller Arthur Moeller van dem Bruck in seinem Buch „Der preussische Stil“ beobachtete. Das galt für die beiden Boulevards ebenso wie draußen vor der Stadt, wo sich die großen Konzerne in Siemens-stadt und Borsigwalde Stadtrandsiedlungen bauten. Diese gebändigte Modernität lag gleich weit von dem vorausgegangenen Eklektizismus wie von der Ort-und Zeitlosigkeit des kommenden „Internationalen Stils“, der dann die ganze Welt prägen sollte.

In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, ob die egalitäre Massengesellschaft des zu Ende gehenden Jahrhunderts im Osten wie im Westen eines Boulevards noch fähig und bedürftig ist. Ein Boulevard hat die zweckfreie Aufgabe aller großen Straßen der Welt, der Menge mit sich selbst zu imponieren, wie Goethe angesichts von Veronas Arena über solche Versammlungsorte sagte. Das nämlich und nicht die Bereitstellung von Arbeitsraum für Angestellte oder das Feilbieten von Gütern -Bürokomplexe und Warenhäuser also -ist der erste und vornehmste Sinn aller Plätze dieser Art.

Geht man heute den Broadway oder die Fifth Avenue entlang oder schlendert man über Londons Regent Street und die Oxford Street, so lehrt einen der Augenschein, daß auch die Gesellschaft, die nach der bürgerlichen kam, solche Bedürfnisse zu haben scheint, nur sucht sie sich andere Orte, die ihre Kulisse bilden. Straßen sterben, und andere werden geboren; fast immer kann man die Ersatzstraßen nennen, die sich das Verlangen geschaffen hat, wo ihm seine angestammte Kulisse genommen wurde. Der Kurfürstendamm ist wie die Via Veneto und die Champs-Elysees zwar als Boulevard verdorben, aber die Menschen sind noch da, die ihn, einst bevölkerten. Sie erobern sich stille Nebenstraßen, in die nun mit den Geschäften auch die zugehörigen Menschen einziehen, in Berlin in die Nebenstraßen des Kurfürstendamms, in denen sich heute jene Restaurants und Geschäfte finden, die früher dem Boulevard vorbehalten waren. So ist es überall, in Wien in den Seitengassen der Kärntner Straße wie in Zürich neben der Bahnhofstraße.

Die Frage, die der Wiederaufbau der zerstörten oder ruinierten Stadtmitte aufwirft, gilt also der Fähigkeit unserer Zeit, neue Bühnen zu bereiten, auf denen das alte Stück stattfinden soll. Kann die Gegenwart, um es auf eine Formel zu bringen, noch einen Boulevard als Boulevard konzipieren, zu dem es den Besucher zieht, weil er, ein Flaneur in nachbürgerlicher Zeit, sich selber begegnen will? Oder wird wieder nur eine Ansammlung von Regierungsgebäuden, eine Bürolandschafts-und Ladenketten-Meile daraus, aus der das Leben in die unversehrten Räume flieht?

Das ist die wirkliche Aufgabe, vor die sich Berlin mit seinen beiden Stadtzentren gestellt sah und die nicht in erster Linie an die Architekten und Stadtplaner gerichtet ist. Stadtquartiere und Straßen-räume werden von dem Leben bestimmt, das dort einzieht, nicht von der Architektur, die preisgekrönt wird. Insofern hat die gedankliche Anstrengung der formalen Bemühung vorauszugehen. Tatsächlich ist es der Mangel des Denkens, der an dem Mißlingen der Nachkriegsarchitektur noch mehr ins Auge fällt als das Versagen der Kunst.

Über die banale Fassade eines Hauses kommt man hinweg; was einen Boulevard als Boulevard ruiniert, ist die Verkennung seiner Idee oder, schlimmer noch, daß niemand mehr zu sehen scheint, daß einer Straße eine bestimmte Aufgabe im Stadtzusammenhang zukommt. Die Logik der Sprache weiß das sehr genau; sie sprach früher von den Stadtvätern; die Architekten sind demgegenüber nur die Geburtshelfer. Sie sollen lediglich dem von einem Gemeinwesen Gewollten zum bestmöglichen Ausdruck verhelfen.

Die Misere des Nachkriegsbauens hat viel mit der Umkehrung dieses Verhältnisses zu tun. Immer wenn der Staat nicht weiterwußte, blickte er fragend auf die Architekten. Er schrieb also einen Wettbewerb aus, der ihm Ideen geben sollte. Im Grunde sollten die Architekten nicht zeichnen, sondern denken. Da die Architekten selber aber auch keinen zureichenden Begriff von der zukünftigen Gesellschaft hatten, lief das darauf hinaus, daß der Lahme den Hinkenden stützte.

Es ging also bei dem Neuentwurf von Berlins historischer Mitte um die Verständigung über dasLeben, das zwischen dem Pariser Platz im Westen, dem Gendarmenmarkt und dem Wilhelmsplatz im Süden und dem Alexanderplatz im Osten der „Linden“ stattfinden sollte. Darüber hätte sich Berlin erst einmal verständigen müssen. Die Architekturwelt zeigte sich in den Monaten nach der Vereinigung jedoch vor allem besorgt, ob die. Stadt auch die einzigartige Chance begreife, die ihr zugefallen sei, nämlich die Avantgarde nach Berlin zu holen. Die Architektur interessierte sie, nicht die Stadt. Der Architektur wurde eine Rolle zugebilligt, die ihr nicht zukommt. Die Stadt ging den alten Weg, der sie seit Jahrzehnten schon in die Irre führt: Sie trat die eigentlich an sie gestellte Aufgabe an die sogenannten Fachleute ab. Nicht das Stadtparlament beriet über Sinn und Zweck und Funktion des historischen Zentrums, sondern delegierte diese vornehmste und wichtigste Pflicht an die, denen sie doch ihrerseits Direktiven geben sollte: an die Architekten, aus deren Reihen dann die üblichen Gremien gebildet wurden.

Es lag dem ein merkwürdiger Glaube an die Weisheit von Beiräten zugrunde, der trotz allen Mißlingens der Vergangenheit unausrottbar scheint. Ein einziger Blick auf die Ergebnisse von solchen Preisausschreibungen während der letzten hundert Jahre zeigt aber, daß die Akademien, Hochschulen und Architektenverbände besonders schlechte Ratgeber in Fragen der Stadtplanung sind. Es ist nicht so, daß die Stadt bei den katastrophalen Fehlentscheidungen der letzten Jahrzehnte -der Abrißeuphorie der fünfziger wie der Großsiedlungsideologie der sechziger Jahre -sich über die Empfehlungen der Fachleute hinweggesetzt hätte; sie ist ihnen nur allzu getreu gefolgt. Fast unter jedem verhängnisvollen Beschluß steht der Name eines Akademiepräsidenten, meist sekundiert von den Architektenverbänden.

So war es schon seit dem Verlust eines verbindlichen Stilkanons in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Mustert man zum Beispiel die Wettbewerbsentwürfe für den Reichstag aus den siebziger, für den Dom aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts oder für den Königsplatz, den späteren Platz der Republik, aus dem Anfang dieses Jahrhunderts, so fällt es ins Auge, wie der Zeitgeist die Koryphäen in höherem Maße noch beherrscht als die öffentliche Meinung. Wilhelm II. hatte für die neue Hofkirche neben dem Stadtschloß, die an die Stelle der von Schinkel umgebauten barocken Domkirche treten sollte, alles erwogen -eine gotische Kathedralkirche, einen Dom im Stil der italienischen Hochrenaissance und ein romanisches Münster (das er dann in Gestalt der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am jetzigen Breitscheid-Platz, dem einstigen Auguste-Viktoriaplatz,baute). Entscheidend war für ihn, daß dieser Dom am Ende der „Linden“ die Macht des neugewonnenen Kaiserreichs darstellte und in seiner Zuordnung zum Schloß ein Sinnbild der Verbindung von Thron und Altar war.

Dies aber waren nicht nur Phantasien eines zeit-enthobenen Monarchen, der ja auch sonst seinen Adlerhelm über die Industriewirklichkeit der Epoche stülpte; es waren Träume einer ganzen Generation, die sich nach vergangener Größe zurücksehnte. In den Preisrichterkollegien, die all das trugen, saßen alle prominenten Vertreter von Raschdorffs Architektenschaft und Anton von Werners Akademie Aus dem Abstand eines Jahrhunderts fallen die damals so umkämpften Unterschiede ins Nichts zusammen; das gemeinsam Wilhelminische drängt sich statt dessen in den Vordergrund.

Es ist üblich geworden, das alles dem Kaiser aufs Konto zu schreiben, der an der wirklichen Moderne vorbeigegangen sei, für die die Architekten vergeblich gestritten hätten. Aber als seine Untertanen ihr eigenes Haus in Gestalt des Parlamentsgebäudes des neuen Reichs gleich neben dem Brandenburger Tor zu entwerfen hatten, fielen die Ergebnisse der Wettbewerbe fast noch trostloser aus. Sieht man heute die damals zur Debatte stehenden Entwürfe, so hat man die ganze Misere eines Zeitgeschmacks vor Augen, der die Hochschulen im selben Maße prägte wie die Hofgesellschaft.

Stadtplanung aber, die nicht das Spektakuläre, sondern die Stadt im Auge hat, geht genau umgekehrt vor. Sie kommt zuerst mit sich selbst darüber ins reine, welche Funktionen im Stadtzusammenhang ein Areal haben soll und was daraus für die Straße folgt. Daraus geht dann alles Weitere hervor, auch und vor allem die Nutzung der Straße, also der Anteil und die Verteilung von Wohnungen, Geschäftsräumen und Büroflächen in den einzelnen Häusern. Dann müßte festgelegt werden, welchen Charakter der Straßenraum haben soll; Gestaltungsrichtlinien nannte man das in der Weimarer Zeit. Erst wenn alle diese Fragen entschieden sind, kommen die Baumeister zum Zug, um mit den Mitteln der Architektur zu klären, wie die verschiedenen Baukörper, also die Häuser und deren der Straße zugewandten Fassaden, aussehen sollen. Nur so könnte der moderne Boulevard einer Metropole entstehen: der lebendige Schauplatz städtischen Lebens.Natürlich, die „Linden“ waren schon in den Modernisierungswellen des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts als Flaniermeile verdorben, Firmenniederlassungen verdrängten die alten Bewohner. Längst hatten die Mieten eine Höhe erreicht, die es gerade jenen Geschäften, die doch zu einem Boulevard gehören, unmöglich machten, hier ihren Platz zu behaupten. Auch die letzten privaten Wohnungen sahen sich zuletzt einem Verdrängungswettbewerb ausgesetzt. Die Anwaltskanzleien und Arztpraxen mußten ebenso jenen Konzernniederlassungen weichen wie die Stadtwohnungen des Adels und die wenigen verbliebenen Quartiere der Bürger, unter denen Max Liebermann bis ganz zuletzt am Pariser Platz aushielt. Liest man die Tagebücher und Briefe, in denen vom Fackelzug der Machtergreifung am 30. Januar 1933 oder den Bombenangriffen der zweiten Kriegshälfte berichtet wird, so wird aber deutlich, wie offensichtlich noch bis in den Untergang des Mai 1945 hinein Einsprengsel des bürgerlichen Lebens an den „Linden“ zu Hause waren. Die Tagebücher von Hans Georg von Studnitz, Ursula von Kardorff und Mane „Missie“ Wassiltschikow halten in Momentaufnahmen fest, was die Adreßbücher der dreißiger Jahre belegen -bis hin zu jenem Herrenschneider Ludwig, der in seinem ausgebombten Haus noch nach dem Kriege sein Geschäft betrieb. Ein Kunde prägte sich ihm besonders ein, weil der stets Arbeiteranzüge und Schiebermützen bestellte, aber aus feinstem englischen Stoff. Sein Name war Bertolt Brecht.

Insofern läuft jeder Prolog zu den neuen „Linden“ auf einen Nekrolog hinaus. Bevor noch die ersten Gerüste stehen, wußte man schon, was alles mißlingen würde. Natürlich wird der einstige „Prachtboulevard“, als den die Stadtführer des Kaiserreiches die Straße feierten, schon irgendwie wiedererstehen. Hie und da werden Neubauten die Lücken schließen, deren ästhetische Banalität sich mit dem Namen des Boulevards ein wenig Glanz zu entleihen sucht, „Lindenhotel“ und „Lindencorso“. Sonst werden die Plattenbauten des Sozialismus den Luxusfassaden des Kapitalismus weichen, und inzwischen wird schon sichtbar, wie in die Ministerien des untergegangenen Staates die Behörden der neuen Republik einziehen. Ihre Nutzer, hohe Beamte und kleine Angestellte, werden das Personal stellen, das in den Büropausen und nach Dienstschluß die Straße bevölkern wird, bevor sie allabendlich ihren Wohnquartieren am Stadtrand zustreben.

Aber nichts spricht dafür, daß der Boulevard als Boulevard wiederersteht.

Der Kurfürstendamm: Der Boulevard der republikanischen Weltstadt

Das Hochkommen der wilhelminischen Bürger-straße im Westen der Stadt hatte mit dem Absinken der alten aristokratischen Promenade in der Mitte zu tun. Niederlassungen großer Unternehmen verdrängten dort um die Jahrhundertwende jene Wohnhäuser, Gaststätten, Cafes und kleinen Hotels, die der Allee zwei Jahrhunderte lang ihren Charakter gegeben hatten, und die in der berühmten „Lindenrolle“ aus den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bewahrt sind. So zog sich das Leben der Stadt im neuen Jahrhundert an den Kurfürstendamm zurück, der zwischen den beiden Weltkriegen in seiner Mischung von großbürgerlichen Wohnungen, Anwalts-und Arztpraxen, Luxusgeschäften, Vorgartencafes, Restaurants, Max-Reinhardt-Theatern und Uraufführungs-Kinos das eigentliche Schaufenster der republikanischen Reichshauptstadt wurde. Zuletzt waren die „Linden“ entthront; in der Zwischenkriegszeit war der Kurfürstendamm die Meile der Metropole geworden. Hier, zwischen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und dem Vergnügungsetablissement Lunapark am Halensee, trafen sich auch die Schriftsteller von Giraudoux über Isherwood bis zu Thomas Wolfe und die Künstler der Weimarer Epoche von Ernst Ludwig Kirchner bis zu Max Beckmann.

Der Kurfürstendamm war der Boulevard der neuen Zeit, und er war dabei, die Champs-Elysees zu verdrängen; er schickte sich damals an, neben den Broadway oder die Fifth Avenue zu treten. Die Halbwelt, die immer die andere Seite der großen Welt ist, hatte sich längst von den „Linden“ zurückgezogen. George Grosz wie Otto Dix fanden ihre Modelle vorzugsweise in der Gegend des Kurfürstendamms, auf jeden Fall im „Neuen Westen“; dort lebten natürlich auch ihre Kunst-händler wie Flechtheim und Cassirer. Übrigens zogen jetzt auch die jungen Diplomaten an den Kurfürstendamm. George E Kennan erzählt in seinen Berliner Erinnerungen, wie er morgens von seiner Wohnung in der Giesebrechtstraße aus die Reiter auf dem Mittelstreifen des Kurfürsten-damms gleich neben der Straßenbahn zum Grunewald ziehen sieht.

Diese Welt hatte sich in Ruinenkulissen noch nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten, als sich auch die Literatur der Epoche, von Andre Gide und Jean-Paul Sartre bis zu Arthur Koestler und Thornton Wilder, noch einmal auf dem Kurfürstendamm traf. Weit vor Roms Via Veneto und LondonsOxford Street war Berlins Kurfürstendamm die literarische Flanierstraße der Nachkriegszeit. Im „Monat“, der wichtigsten Zeitschrift dieses Jahrzehnts, erschien in den fünfziger Jahren ein geistreicher Aufsatz seines Herausgebers, Melvin J. Lasky, wonach die Dazugehörigen wie auf allen großen Bummelstraßen der Welt vom Boulevard St. -Germain des Pres bis zu Barcelonas Ramblas auch auf dem Kurfürstendamm nur auf einer Straßenseite, der meteorologischen Sonnenseite, in den Vorgartencafes sitzen dürfen, wenn sie zu erkennen geben wollen, daß sie Eingeweihte sind.

Das Entscheidende ist: Der Kurfürstendamm wurde damals ganz selbstverständlich zu den großen Straßen der Welt gezählt. Würde heute noch jemand auf diesen Gedanken kommen? Die eigentliche Zerstörung Berlins kam erst nach den Bomben, und sie wurde vom Zeitgeist als Fortschritt gefeiert. Wer in den siebziger Jahren aus dem Ausland in die eingemauerte Stadt kam, erkannte die ramponierte und doch glanzvolle Metropole der Nachkriegszeit nicht wieder. Noch immer war ja in dem Trümmermeer von 1950 die Weltstadt der Kaiserzeit und der Republik sichtbar gewesen, wie an einer gealterten Kokotte der Zauber von einst erkennbar ist.

Hier suchte man das Verlorengegangene nicht wiederherzustellen, wie man das in München oder in Hamburg tat; man hatte eine neue Konzeption von Stadt, und man hielt sich etwas darauf zugute, daß man nicht an das Alte anknüpfte. Wahrscheinlich hängt dieser städtebauliche Neuentwurf von Berlin mit der Jugendlichkeit der Stadt zusammen und ihrem Verhältnis zur Kategorie der Zukunft, die sie in den Umbrüchen der Zeit stets hatte. Das Kurfürstentum hatte sich ja mit einem Mal als Deutschlands jüngstes Königreich verstehen müssen, aber auch das hatte nur wenig mehr als anderthalb Jahrhunderte vorgehalten, dann war Deutschland ein Kaiserreich. Aus diesem unaufhörlichen Avancement des historischen Nachzüglers war ein Bevölkerungswachstum gefolgt, wie es die anderen Hauptstädte der europäischen Mächte nicht kannten. Eben hatte die Stadt gerade einmal 150 000 Einwohner gezählt, jetzt waren es 250 000 gewesen und nun sprengte die Zuwanderung jedes Maß. Von einer halben Million ging es in wenigen Jahrzehnten auf eine Million Einwohner, und dann vermehrte sich die Einwohnerschaft auf anderthalb, dann auf zweieinhalb und schließlich auf vier Millionen.

Als der Zweite Weltkrieg begann, hatte Berlin mit viereinhalb Millionen bald soviel Einwohner wie die Hauptstädte Englands und Frankreichs; Albert Speers Planungen gingen kurzfristig von sechs, mittelfristig von acht Millionen aus. Neue Stadtviertel, die man nach dem Krieg Satellitenstädte genannt hätte, sahen Hunderttausende von Einwohnern in neuen „Südstädten“ vor, die von Hitlers Triumphstraße, Speers Nord-Süd-Achse, erschlossen werden sollten. Das wird gemeinhin als Gigantomanie des Dritten Reiches verstanden, aber dieses Emporschnellen der Bevölkerung Berlins ist gering im Vergleich zu dem Wachstum in jenem einzigen Jahrhundert zwischen 1840 und 1940.

Es sind solche demographische Daten, die hinter der städtebaulichen Kurzatmigkeit der Baugeschichte Berlins stehen, auch hinter der Konzeption der „Linden“ wie des Kurfürstendamms, die beide als reine Wohnstraßen beginnen und als Luxusstraßen enden. Zugleich wird immer ins Nichts hinein entworfen, soll ein Noch-nie-Dagewesenes entstehen, im Kaiserreich wie im Dritten Reich und dann auch in der Nachkriegszeit. Man will jedesmal etwas ganz anderes, und dieses Neue ist immer ein gewollter Bruch mit allem Bestehenden. Aber der Geist, der sich darin ausspricht, ist nicht neuartig, ob nun eine Nord-Süd-Achse konzipiert wird oder eine Großsiedlung wie das Märkische Viertel, das ja auch mit der historischen Stadt brechen wollte. Bei alldem glaubt man stets, die besten Beziehungen zum Fortschritt zu unterhalten; man hat das gute Gewissen dessen, der mit den Sünden der Vergangenheit zu brechen vermeint. Berlins Architektur des letzten halben Jahrhunderts ist nicht von Nachlässigkeit geprägt, sondern von überanstrengtem guten Willen. „Wir entwerfen“, sagte Hans Scharoun, der Präsident der Akademie der Künste und einflußreichste Stadtarchitekt der Nachkriegszeit, „eine neue Gesellschaft. Wir werden doch nicht in die ausgebrannten Gehäuse der alten Gesellschaft gehen.“ Das gab der Generation nach 1945 das moralische Selbstverständnis, als sie die leidlich durch den Bombenkrieg gekommenen Quartiere abriß und sowohl die Kroll-Oper von Persius auf dem Platz der Republik als auch den Anhalter Bahnhof von Schwechten demolierte.

Am schlimmsten spielte diese Neuerungssucht dem Kurfürstendamm mit. Sicher war er architektonisch niemals bedeutend gewesen, genausowenig übrigens wie die Champs-Elysees oder die Fifth Avenue. Keiner der namhaften Architekten von 1900 baute hier ein einziges Haus; aber er hatte die lebendige Bühne einer bürgerlichen Welt dargestellt. Nun, meist Ende der fünfziger, mitunter erst in den sechziger Jahren, wurden die oft nur in den oberen Geschossen ausgebrannten Gründerzeithäuser abgerissen und die einstige Kleinteiligkeit der Parzellen in übergroße Komplexe zusammengefaßt; mitunter wurden ganze Boulevardabschnitte mitsamt den Nebenstraßen in einen einzigen Block zusammengezogen und einheitlich bebaut, sozusagen als Ouvertüre zu der Art, in der man nun nach der Vereinigung der beiden Stadt-hälften die alte Stadtmitte wiederherstellt. Das war es ja, was auch die neue Friedrichstraße ruinierte, bevor die ersten Mieter einzogen.

Zugleich ergriff ein anderes Leben von dem Boulevard Besitz. Nicht mehr Ärzte, Rechtsanwälte und Geschäftsleute wohnten am Kurfürstendamm, sondern es sind jetzt Firmenniederlassungen, die ihre Büros hier einquartierten. Fährt man heute nach Geschäftsschluß die drei Kilometer von Halensee zum Zoo-Revier entlang, so sind nur die Ladenzeilen noch erleuchtet. Darüber erstrecken sich geschoßweise dunkle Etagen, die sich erst in den frühen Morgenstunden mit dem Einzug der Reinigungsfirmen wieder beleben.

So wurde aus dem ausgebombten Boulevard der Nachkriegszeit die banale Straße, die sich in den siebziger und achtziger Jahren dem Besucher darstellte. Zum dritten Mal in einem Dreivierteljahr-hundert wandelte sich damit auch das Publikum, das den Kurfürstendamm bevölkerte. An die Stelle der großbürgerlichen, wenn auch nicht eigentlich zur aristokratischen Gesellschaft gehörenden Familien der Kaiserzeit und der demokratischen, oft jüdischen Anwälte, Ärzte und Geschäftsleute der Republik war eine ganz andere Welt getreten -jene Menge, die ihre Bedürfnisse in Fast-food-Ketten und in Discountläden befriedigt und deren Anblick Besucher aus München wie aus Düsseldorf und Hamburg, die ihre zukünftige Hauptstadt besichtigen wollen, immer wieder verblüfft.

Man kann fast auf das Jahr genau festlegen, wann einer dieser Kolosse errichtet wurde -die Travertinfassaden der fünfziger Jahre, das Marmor-gesicht der sechziger Jahre, die Kunststoffhaut der siebziger und das Granit der neunziger Jahre. Stets aber hat die Stadt darauf verzichtet, durch soziale und ästhetische Vorgaben festzulegen, welches Gesicht der Boulevard haben soll. Das ist übrigens keine Frage der Parteien. Das konservative München hat für seine Ludwigstraße zwischen Feldherrnhalle und Siegestor ebenso wie das sozialdemokratische Hamburg für seinen Binnen-alster-Bereich vor allen Architektur-Entscheidungen festgelegt, welche Art der Bebauung zulässig ist: Sogar die Farbe der Dächer oder die Farbe der Lichtreklamen sind vorgeschrieben. Das gibt dem Jungfernstieg oder der Maximilianstraße ihre Einheitlichkeit, während in Berlin die Beliebigkeit der Häuser der der Bewohner entspricht.

Wahrscheinlich rächt sich in der topographischen Banalität und typographischen Vulgarität der Lichtreklamen, daß Berlin seit der Weimarer Zeit weder einen „Stadtbaudirektor“ noch einen „Reichskunstwart“ besessen hat. Nun handelt jeder Bausenator nach seinem persönlichen Geschmack, und damit nur ja keine Einheitlichkeit aufkommt, beharren auch die einzelnen Stadtbezirke auf ihrer Hoheit. Die Bezirksbürgermeister pochen auf ihre Souveränität -die Rathäuser aneinandergrenzender Bezirke können sich sehr oft nicht einigen. Dann wechselt auf der Kantstraße, einer Parallelstraße zum Kurfürstendamm, alle paar hundert Meter der Laternentypus, weil diese Straße durch verschiedene Bezirke verläuft. „An meinem Kurfürstendamm soll sich jeder Türke mit einer Boulette festmachen können“, so Hans Müller, der damalige Senatsbaudirektor, in einem berühmt gewordenen Satz, der den Verlust der Boulevardqualität zum offiziellen Programm erhob. Vielleicht hat er sogar recht gehabt. Nicht nur die großen Stadtbaumeister von einst fehlten, sondern auch die Gesellschaft, für die alle großen Boulevards gedacht sind, existierte nicht mehr. Die Turnschuh-und Stretchhosenwelt hielt Einzug und vulgarisierte den Boulevard in höherem Maße, als das für alle anderen Metropolen gilt. Nun kam die Zeit jener vom Senat inszenierten Skulpturen-Boulevards und City-Feste, mit denen sich die zukünftige Haupt-und Regierungsstadt der staunenden Umwelt empfiehlt.

Die Geschichte des Kurfürstendamms dauert einhundert Jahre. Im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts werden seine ersten Häuser gebaut, und kurz vor dem Ersten Weltkrieg fallen die letzten Baugerüste; er ist die jüngste Straße unter den großen Avenuen Europas. Als Boulevard existiert er sogar nur ein halbes Jahrhundert, von 1920 bis 1970. Vorher ist er Wohnstraße mit Staketenzäunen und Vorgärten; hinterher ist er eine jener Einkaufs-und Geschäftsstraßen, wie es sie in der ganzen Stadt gibt.

Was unterscheidet diesen Kurfürstendamm von Roms Via Condotti? Die Juweliere und die Boutiquen, deren Niederlassung diesen Straßen einen Anstrich von Weltläufigkeit geben, sind ohnehin überall die gleichen. Aber darin teilt der Kurfürstendamm vielleicht das Schicksal aller großen Boulevards von Paris bis New York, nicht nur der Champs-Elysees und der Via Veneto, sondern auch des Broadway. Dann wäre der Kurfürstendamm noch einmal repräsentativ für die bürgerliche Welt. Mit ihr wurde er geboren, und mit ihr starb er.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Julius Raschdorff, 1854-1872 Stadtbaumeister in Köln, seit 1878 Professor der TH in Berlin-Charlottenburg; Anton von Werner, Maler, seit 1875 Direktor der Berliner Akademie.

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Wolf Jobst Siedler, Dr. phil. h. c., geb. 1926; Verleger, Journalist und Publizist; 1953-1956 Generalsekretär des Kongresses für kulturelle Freiheit Berlin; 1954/55 Feuilletonredakteur der Berliner „Neue Zeitung“; 1955-1963 Feuilletonchef des „Tagesspiegels“; 1963 Eintritt in die Ullstein Verlagsgruppe als Leiter des Propyläen-Verlags; 1967-1979 Vorsitzender des Direktoriums der in der Verlag Ullstein GmbH zusammengeschlossenen Verlage; 1980-1983 Geschäftsführer und Mitinhaber der Verlage Severin und Siedler und Quadriga, Berlin; seit 1983 Geschäftsführer des Wolf Jobst Siedler Verlages Berlin; zahlreiche Ehrungen und Preise. Veröffentlichungen u. a.: Die gemordete Stadt, Berlin 1964; Weder Maas noch Memel, Berlin 1982; Auf der Pfaueninsel, Berlin 1986; Wanderungen zwischen Oder und Nirgendwo, Berlin 1988; Abschied von Preußen, Berlin 1991; Der Verlust des alten Europa, Berlin 1996.