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Berlin: Lasten der Vergangenheit und Hoffnungen der Zukunft | APuZ 17/1997 | bpb.de

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APuZ 17/1997 Die beiden Stadtzentren Berlins: Unter den Linden und Kurfürstendamm Berlin: Lasten der Vergangenheit und Hoffnungen der Zukunft Stadtentwicklungspolitik und lokale Demokratie in vier Großstädten. Eine empirische Untersuchung Entwicklungs-, Planungs-und Partizipationsprozesse in ostdeutschen Mittelstädten Tübingen: Neue Wege der Planung und der Bürgeraktivität beim Städtebau

Berlin: Lasten der Vergangenheit und Hoffnungen der Zukunft

Hartmut Häußermann

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Stadt Berlin befindet sich im siebten Jahr nach der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften in einem Übergangsstadium. Die Phase euphorischer Wachstumserwartungen, die nach der staatlichen Vereinigung und der Umzugsentscheidung des Bundestages einsetzte, hat zwar zahlreiche Großinvestitionen im Immobilienbereich in Gang gesetzt, die gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklung der Stadt ist jedoch vor allem von den Folgen eines aufgestauten Strukturwandels geprägt, der sich nun innerhalb kürzester Zeit vollzieht und schwere Belastungen für den Arbeitsmarkt und für die öffentlichen Finanzen mit sich bringt. Da der umfangreiche Zufluß von Haushaltszuschüssen und Subventionen, mit denen die Existenz der Stadt aus politischen Gründen während der Zeit der Teilung gesichert worden war, innerhalb weniger Jahre abgebaut wurde, soll Berlin diesen außergewöhnlichen Strukturwandel mit den gewöhnlichen Mitteln bewältigen, wie sie sich aus Eigeneinnahmen und Länderfinanzausgleich ergeben. Weder die ökonomischen Strukturprobleme noch die Arbeitsmarktprobleme werden durch den bevorstehenden Regierungsumzug wesentlich verändert. Das Problem für die Stadt besteht darin, in einer sich verändernden europäischen Regionalstruktur eine neue Rolle zu finden, in der sich die in der Stadt vorhandenen Potentiale entfalten können. Diese neue Rolle kann nur in einer neuen europäischen Entwicklung gefunden werden.

I. Vorbemerkungen

Tabelle 1: Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen in Berlin (in 1 000) Quelle: Statistisches Landesamt Berlin.

Die Befreiung der Stadt von der kommunistischen Diktatur, die Beendigung der geographischen Isolation und die Entscheidung, wieder Hauptstadt in einem vereinigten Deutschland zu werden, hatten in Berlin in den Jahren 1991/92 hohe Erwartungen hinsichtlich einer raschen Überwindung der Teilung, einer ökonomischen Regeneration und einer glänzenden Zukunft im sich öffnenden Europa geweckt. Nach einer Zeit großer Hoffnungen, in der Improvisationskunst und Aufbruchstimmung das Handeln von Politik, Verwaltung und privaten Investoren beherrschte, befindet sich die Stadt im siebten Jahr nach der Vereinigung in einer tiefen Wirtschafts-und Finanzkrise.

Ein Zeitraum von zwei Generationen, in dem sich die Stadthälften kulturell, baulich und ökonomisch unterschiedlich entwickelten, hat tiefgreifende Spuren hinterlassen, die nicht innerhalb weniger Jahre zu beseitigen sind. Berlin kann nicht einfach wieder seine alte Rolle im deutschen und europäischen Städtesystem übernehmen. Die Folgen der Teilung werden die Stadt und ihre Entwicklung noch lange belasten: Einerseits müssen die städtischen funktionalen und baulichen Strukturen neu geordnet und ergänzt werden, andererseits muß sich die neue ökonomische Funktion der größten Stadt in der Mitte Europas erst noch herausbilden -und zwar in einer Umwelt, die selbst in einem tiefgreifenden Wandel begriffen ist. Auf die Probleme des stadtstrukturellen und ökonomischen Wandels konzentriert sich die folgende Skizze.

II. Bis heute: zwei Städte in Berlin*

Tabelle 2: Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Berlin (1990 = 100) Quelle: Landesarbeitsamt Berlin-Brandenburg; Statistisches Jahrbuch Berlin 1995; eigene Berechnungen.

40 Jahre lang gehörten der westliche und der östliche Teil der Stadt Berlin gegensätzlichen politischen und ökonomischen Systemen an, 28 Jahre lang waren sie durch die Mauer hermetisch voneinander abgeriegelt. Die beiden Stadthälften entwickelten sich unterschiedlich und gegensätzlich. Während im Osten die große sozialistische Umgestaltung 1 ins Werk gesetzt wurde, orientierte man sich im Westen noch lange am Wunschbild einer wiedervereinigten Stadt (z. B. in der Verkehrsplanung) und nahm vor allem Ergänzungen der Infrastruktur in der Teilstadt vor. So wurden z. B. im alten Zentrum gelegene Kultureinrichtungen, die für die Westberliner unzugänglich geworden waren, noch einmal gebaut: Oper, Schauspiel-und Konzerthaus, Nationalgalerie, Zentralbibliothek und eine neue Universität. Die Regierung -der Berliner Senat -wurde in Provisorien untergebracht, das Stadtgefüge nicht grundsätzlich verändert. Nach dem Mauerbau, als das Durchfahren des Zentrums unmöglich geworden war, mußten jedoch einige neue Verkehrswege angelegt werden, um den Süden und Norden der Halbstadt miteinander zu verbinden. S-und U-Bahn unterquerten zwar noch die Mitte, aber die Bahnhöfe waren geschlossen und wurden streng bewacht.

Nachdem die Mauer gefallen und die Stadt wiedervereinigt war, wurden diese Verkehrshindernisse rasch beseitigt, und seit drei Jahren ist auch wieder die alte Ost-West-Verbindung der U-Bahn von Pankow nach Charlottenburg in Betrieb, die über Alexanderplatz und Bahnhof Zoo verläuft. Von den Grenzübergängen, die durch den Kalten Krieg zu historischen Orten geworden waren, findet sich heute keine Spur mehr. Bilder von Flüchtlingsdramen werden von einer Immobilienfirma zur Vermarktung ihres neuen Bürokomplexes am Checkpoint Charlie genutzt, dieser selbst ist jedoch säuberlich beseitigt worden. Touristen suchen vergeblich nach Resten der Mauer am Brandenburger Tor. Es ist, als habe man in Berlin die Spuren der Teilung in einer Art rituellen Reinigung beseitigen wollen -vielleicht ahnend, daß die Trennung in den Köpfen und im Alltag noch lange genug zu schaffen machen werde.

Die beiden Stadthälften sind bis heute kulturell und politisch verschieden, ihre Bevölkerung ist unterschiedlich wohlhabend, die Wohnungen sind unterschiedlich gut und unterschiedlich teuer; die Bewohner haben unterschiedliche Konsumstile und unterschiedliche Mentalitäten, die sich auch in politischen Blockbildungen äußern.

Im , Osten liest man andere Zeitungen, hört andere Radiosender und raucht andere Zigaretten. Die Verbreitungsgebiete von West-und Ost-berliner Zeitungen sowie Rundfunk-und Fernsehsendern sind klar getrennt. Alle Versuche, diese , Lesegrenze zu überwinden, sind bisher gescheitert. Der „Tagesspiegel“ ist eine West-Zeitung geblieben; umgekehrt wird die Ostberliner „Berliner Zeitung“ bisher im Westen kaum gelesen -sie startet jetzt allerdings mit neuem Personal einen großen Versuch, die Berliner Zeitung zu werden. Den SFB (Sender Freies Berlin) hört man nicht im Osten, denn dort bevorzugt man den ORB (Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg) und die in Deutschlandfunk und Deutschlandradio aufgegangenen Reste vom Deutschlandsender. Zigarettenmarken wie Club, F 6 oder Cabinet wird man in keinem Westberliner Automaten finden, und West light gibt’s im Osten nicht mal in jedem Zigarettenladen. Ein Konzert der alten DDR-Rock-band Puhdys wäre im Westen ein totaler Flop, im Osten füllt diese Gruppe noch immer die Säle. Der Cocktail . Weltfrieden steht nur in den Kneipen östlich des Alexanderplatzes auf der Getränkekarte, und wenn die Besucher des Friedrichstadtpalastes nach der Revue-Vorstellung zum Bahnhof Friedrichstraße gehen, besteigen fast alle die S-Bahn Richtung Osten.

U-und S-Bahn in Richtung Westen sind am Morgen gefüllt mit Frauen, die im expandierenden Dienstleistungsbereich des Westteils Arbeitsplätze gefunden haben. Da die Stadtmitte derzeit noch vor allem eine riesige Baustelle ist, steigen auf den dort gelegenen Bahnhöfen wenig Menschen ein oder aus. Zwar nimmt die Zahl der Umzüge zwischen den beiden Stadthälften Jahr für Jahr zu, aber die meisten Wohnungswechsel finden doch innerhalb der jeweiligen Stadthälfte statt. Ein Ossi heiratet keinen Wessi -und umgekehrt. Vor allem Studenten zog es bisher in die östlichen Altbaugebiete, wo billiger Wohnraum zu finden ist.

Die Wahlergebnisse zeigen eine gespaltene Stadt. Bei der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus im Oktober 1995 war die Nachfolgepartei der SED, die PDS, mit 38, 3 Prozent der Erst-und 36, 3 Prozent der Zweitstimmen stärkste Partei in Ost-Berlin, während sie im Westen lediglich 2, 1 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen erzielte. Mit Ausnahme von Kreuzberg wurde die CDU in allen Wahlkreisen von West-Berlin stärkste Partei; im Osten wurde die PDS stärkste Partei, mit Ausnahme von drei Wahlkreisen, in denen die CDU vorn lag. Die CDU erreichte im Westen, verglichen mit dem Osten, einen doppelt so hohen Prozentanteil der Wählerstimmen. Die westlichen 4 Parteien SPD, CDU und FDP zusammen erreichten im Ostteil der Stadt weniger als die Hälfte der Wählerzweitstimmen (46 Prozent) und wurden noch nicht einmal von 30 Prozent der Wahlberechtigten gewählt. Die SPD, die bei den Abgeordnetenhauswahlen von 1990 im Ostteil sogar erfolgreicher als im Westteil gewesen war, verlor 1995 in allen östlichen Bezirken mehr als 10 Prozentpunkte. Besonders deutlich wird die politische Spaltung bei den Direktmandaten. Diese wurden fast ausschließlich von Kandidaten der CDU und der PDS gewonnen, säuberlich nach Ost und West sortiert. Lediglich ein Kandidat der CDU war auch im Ostteil der Stadt erfolgreich. Mit dieser und einer anderen Ausnahme, wo eine SPD-Senatorin mit einem Vorsprung von zwölf Stimmen ihr Mandat verteidigte, konnten sich die Direktbewerber der PDS in allen Wahlkreisen des Ostteils durchsetzen.

III. Wandel

Keine Stadthälfte wird bleiben, wie sie war. Die Erwartungen an das Wirtschafts-und Bevölkerungswachstum waren -insbesondere nach der Umzugsentscheidung des Bundestages -gigantisch, und in der Stadt kam es im Immobilienbereich zu einem wahren Investitionsrausch. Im Westteil stiegen 1990 die Boden-und Mietpreise sprunghaft an, Dachböden der großen Mietshäuser wurden zu Penthäusern ausgebaut, vom Einzelhandel wurden Erweiterungs-und Erneuerungsinvestitionen vorgenommen, um sich für die neue Konkurrenz der alten Mitte zu wappnen, zwischen Zoo und Kurfürstendamm sollen einige neue Hochhäuser entstehen.

Nachhaltiger verändern sich jedoch die Gebiete, die zur . Hauptstadt der DDR gehörten Dieser Teil der wiedervereinigten Stadt ist durch drei sehr unterschiedlich strukturierte Gebiete geprägt: Da ist zum ersten die historische Mitte zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz, in der sowohl die großen Kultureinrichtungen wie Oper, Humboldt-Universität und Museumsinsel als auch die Demonstrativbauten aus der Zeit der sozialistischen Neugestaltung der Stadtmitte liegen. Für diese Neugestaltung wurde der alte Stadtkern (inklusive des Schlosses) vollständig abgeräumt und durch Wohn-und Bürohochhäuser an überdimensional breiten Straßen ersetzt. Der historische Stadtgrundriß ist hier kaum noch erkennbar. Diese Variante des . modernen Städtebaus war mit dem ersten Großbauvorhaben nach dem Zweiten Weltkrieg, der Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee) mitsamt umliegenden Wohnquartieren, zum ersten Mal erprobt worden. Der sozialistische Neuerungseifer ging jedoch an den Altbaugebieten (den Mietskasernenquartieren), die einst im Ring um das historische Zentrum errichtet worden waren, vollkommen vorbei. Diese Gründerzeitquartiere wurden über die gesamte DDR-Zeit weitgehend vernachlässigt und wiesen am Ende einen sehr schlechten Bauzustand auf. Eine dritte Struktur bilden die großen Neubaugebiete am Stadtrand -hier wohnen zirka 40 Prozent der Ostberliner Bevölkerung -, in denen , vorbildliche* Wohnbedingungen in industriell errichteten Wohnkomplexen geschaffen werden sollten. Nach der Wende ergriff der Wandel diese drei Strukturen in unterschiedlicher Weise. 1. Neubaugebiete Die staatlichen Neubauten wurden im Zuge der Auflösung des DDR-Staates an kommunale Wohnungsbaugesellschaften übereignet, und diese starteten mit Hilfe staatlicher Sonderprogramme sofort umfangreiche Sanierungs-und Modernisierungsvorhaben, um die sozialistischen Großsiedlungen als Wohngebiete attraktiv zu erhalten. Für . die Platte, zu DDR-Zeiten der Höhepunkt des Wohnkomforts, wurden nämlich Imageverluste und Abwanderungen befürchtet. Beides ist eingetreten, aber diese neuen Städte bilden nach wie vor ein stabiles Segment in der Wohnungsversorgung. Sie haben sich bisher keineswegs zu solchen . Notstandsgebieten* entwickelt, als die sie vielen westdeutschen Experten zunächst erschienen. Zwar nutzen viele Haushalte mit höherem Einkommen die neuen Möglichkeiten und ziehen in Kleinhaus-Gebiete im Umland, aber die meisten verhalten sich angesichts der prekären Arbeitsmarktsituation lieber abwartend. 2. Altbaugebiete Für die Altbaugebiete erwartete man einen Wandel in Bewertung und Nachfrage in anderer Richtung: Aufgrund der Erfahrungen in westlichen Großstädten wurde für die innenstadtnahen Wohnquartiere mit zum Teil kleinteiliger Nutzungsvielfalt eine rasche bauliche Aufwertung und ein Zuzug höherer Einkommensgruppen prognostiziert. Da faktisch für den gesamten Altbaubereich erheblicher Erneuerungsbedarf besteht, sind für die Sanierung immense Investitionen notwendig, die jedoch über die gesetzlich zulässigen Mieterhöhungen nicht refinanziert werden können -die realen Kostenmieten könnten von den meisten Bewohnern gar nicht bezahlt werden. Daher gibt es Widerstand gegen eine aufwendige Sanierung, und die Stadtplanungsbehörden haben für Quartiere, in denen Verdrängung befürchtet wird, Milieuschutz-bzw. Sanierungssatzungen erlassen, mit denen die privaten Investitionen kontrolliert und die Mieten niedrig gehalten werden sollen.

Aus dem Zielkonflikt, niedrige Mieten und zeitgemäße Wohnstandards zugleich verwirklichen zu wollen, führten früher in den Westberliner Sanierungsgebieten die öffentlichen Zuschüsse heraus. Heute sind diese Mittel, obwohl seit 1990 neue Sanierungsgebiete nur noch im Osten ausgewiesen wurden, arg geschrumpft, und die Stadterneuerungspolitik ist weitgehend auf private Finanzierung angewiesen.

Die Wohnungen waren in der DDR von der kommunalen Wohnungsverwaltung verteilt worden, auch diejenigen in den Altbauten, unabhängig davon, ob sie in das Eigentum des Staates übergegangen oder in privatem Besitz verblieben waren.

Durch die Restitutionsregelung, nach der alle Eigentumsübertragungen zwischen dem 10. Januar 1933 und dem Ende der DDR rückgängig gemacht werden, die nicht auf freiwilliger und/oder rechtmäßiger Grundlage vollzogen worden sind, erlangen nun wieder private Eigentümer die Verfügungsrechte. Allerdings sind es nur in den seltensten Fällen die früheren Eigentümer, die das Hausmanagement übernehmen, vielmehr wird restituiertes Eigentum in der Regel gleich weiterverkauft -und überwiegend geht es in die Hände von Gesellschaften über, deren wirtschaftliches Interesse durch die steuerlichen Sonderabschreibungsmöglichkeiten geweckt worden ist. Zwar können durch diese Abschreibungsgewinne für einige Zeit niedrige Mieteinnahmen kompensiert werden, wenn die Steuerverzichte an die Mieter , weitergegeben* werden, aber in den Ostberliner Altbaugebieten sind nun auch solche Eigentümer aktiv geworden, die rüde mit den Bewohnern umgehen und sie durch einkommensstarke Zuzügler ersetzen wollen. Hier zeigt der Kapitalismus jenes Gesicht, von dem in den DDR-Lehrbüchern immer die Rede war. Erstaunlich viele Häuser in den Ostberliner Altbaugebieten sind inzwischen saniert und modernisiert, aber in vielen Fällen mußten frühere Bewohner die Wohnung räumen, in der sie sich zu DDR-Zeiten mit bescheidenen Mitteln ein Zuhause geschaffen hatten. 3. Stadtmitte Der spektakulärste Wandel vollzieht sich seit 1990 in jenem Bereich der Stadtmitte, in dem sich während der zwanziger Jahre die lebendigste Stadtszenerie entfaltet hatte: am Potsdamer und Leipziger Platz sowie in der Friedrichstraße -in der Friedrichstadt* also. Anknüpfend an die mythischen Orte von Großstadtvitalität und in Erwartung einer immensen Büroflächennachfrage wurden dort -mit Hilfe des Investitionsvorranggesetzes, das Restitutionsansprüche außer Kraft setzt -sehr rasch Investitionsentscheidungen zugunsten von Großkomplexen getroffen, in denen auch kleinere Flächen für Wohnungen und Unterhaltungsindustrie untergebracht werden sollen.

Am Potsdamer Platz, bis 1990 Brachland im Grenzbereich, befindet sich eine gigantische Baustelle für einen neuen Stadtteil. An der Friedrich-straße wurden neben einigen historischen Bauten auch die meisten Neubauten aus sozialistischer Zeit abgerissen und durch neue Gebäude ersetzt. Einige der dortigen Großprojekte sind bereits fertiggestellt, und nach dem aggressiven . Architekturstreit 1, den diese entfacht hatten, ist man über die gediegene Schönheit des nun entstandenen Straßenraums erstaunt. Die Wilhelmstraße, früher Zentrum der Reichsregierung, ist zu DDR-Zeiten in eine Wohnstraße umgebaut worden, und daran wird sich wenig ändern. Weitere Großprojekte in der Friedrichstadt und am Brandenburger Tor (Pariser Platz) sind noch im Bau; für die Umgestaltung des Alexanderplatzes befindet sich ein Bebauungsplan im Verfahren, der mehrere Hochhäuser zulassen soll. Da die Büroflächennachfrage derzeit nicht den Erwartungen entspricht, die bei den Investitionsplanungen zugrunde gelegt worden waren, stehen bezugsfertige Büroflächen leer. Die Investoren aus aller Welt zeigen sich darüber bisher jedoch nicht besonders beunruhigt, denn sie erwarten für die Zeit nach dem Regierungsumzug einen großen Nachfrageboom.

Zwischen Schloßplatz und Alexanderplatz hat sich noch wenig verändert. Der sozialistische Städte-bau hat in diesem Teil der Stadtmitte Zeichen gesetzt: Das Marx-Engels-Denkmal und eine park-ähnliche Freifläche bis zum Fernsehturm, umrahmt von Wohnhochhäusern und der achtspurigen Karl-Liebknecht-Straße, prägen das Bild. Dafür wurde die hoch verdichtete Berliner Altstadt beseitigt, und die historischen Plätze an ihrem Rande sind zu Straßen oder Parkplätzen aufgeweitet worden. Hier wird deutlich, was eine mit umfassender Macht ausgerüstete Planungsbürokratie, die auf Privateigentum und Bodenpreise keine Rücksicht zu nehmen brauchte, zu leisten imstande ist.

Diesem monumentalen Erbe will jetzt der Stadtentwicklungssenator zu Leibe rücken, indem -orientiert an städtebaulichen Strukturen der Vormoderne -der historische Stadtgrundriß dadurch wieder hergestellt werden soll, daß Straßen rückgebaut und locker bebaute Quartiere mit Neubauten ergänzt werden, um Wohnungen für zusätzliche 35 000 Bewohner im Bereich der Innenstadt zu schaffen. Dieser Plan hat zu heftigen Kontroversen geführt. Insbesondere von Ostberliner Stadtplanern wird er völlig abgelehnt, weil -so der Vorwurf -die städtebaulichen Leistungen der DDR in einer geschichtslosen Besserwisserei ausradiert werden sollen. Da die Kompetenz für die Bebauungsplanung beim Bausenator liegt und dieser insbesondere die großdimensionierten Durchgangsstraßen für eine erhaltenswerte Errungenschaft hält, wird sich aber wohl noch für längere Zeit in diesem Bereich nichts ändern.

IV. Regierungsviertel*

In den Jahren 1993 und 1994 gab es in der Stadt vor allem ein Thema: Wann wird der Umzug der Regierung stattfinden? Jeder Beamte oder Politiker in Bonn, der dazu etwas Passendes oder Gehässiges sagen wollte, konnte in der Berliner Öffentlichkeit mit der größten Aufmerksamkeit rechnen. Inzwischen ist Gewißheit eingekehrt, und Bundesbauminister Töpfer genießt, seit er Beauftragter der Bundesregierung für den Umzug ist, höchste Anerkennung, weil er tatsächlich an der Umsetzung dessen arbeitet, was die politischen Gremien beschlossen haben.

Am Umbau des Reichstages wird seit mehr als einem Jahr mit Hochdruck gearbeitet. Die Standortentscheidungen für weitere Parlaments-und Regierungsbauten sind inzwischen getroffen, die ersten Spatenstiche für die Neubauten des Kanzleramtes und des Bundestages getan worden. Die erforderlichen Baugenehmigungen für Bonner Sonderwünsche erregen weniger Konflikte, seit das Bauressort im Berliner Senat von einem CDU-Politiker übernommen wurde, der sich gegenüber den Bundesorganen weit entgegenkommender zeigt als sein SPD-Vorgänger. Die Bezirksverwaltungen, die in Berlin üblicherweise Baugenehmigungen erteilen, sind im Bereich des Entwicklungsgebietes für die Regierungsbauten von den Entscheidungen ohnehin weitgehend ausgeschlossen.

Im Gebiet um das Brandenburger Tor, das die Stadtmitte zum Tiergarten hin abschließt, entstehen die Neubauten für die amerikanische, die britische und die französische Botschaft; die russische Botschaft befindet sich bereits in der Nähe. Andere Länder nutzen die Grundstücke, die sie aus der Vorkriegszeit noch besitzen, was zu einer Wiederbelebung des alten Botschaftsareals am südlichen Tiergartenrand führt. Japanische und italienische Botschaftsgebäude zum Beispiel haben dort als leerstehende Erinnerungen die Nachkriegszeit überlebt. Insgesamt haben von den 183 Staaten, mit denen die Bundesrepublik diplomatisehe Beziehungen unterhält, inzwischen 47 neue Grundstücke erworben; die Bauplanungen haben begonnen.

So entsteht in Berlin zwar kein geschlossenes Regierungsviertel, denn die Standorte der Ministerien verteilen sich über den Bereich der Friedrichstadt, der von der Leipziger Straße im Süden bis zur Invalidenstraße im Norden und vom Schloßplatz im Osten bis zum Reichstag am Brandenburger Tor reicht, aber die Sitze der Bundesorgane werden sich doch innerhalb jenes Areals in der Mitte der Stadt konzentrieren, das früher von den Einrichtungen der Reichsregierungen geprägt war. Das DDR-Regime hatte seine politische Zentrale mit dem Staatsratsgebäude, mit dem ZK der SED, dem Außenministerium (das inzwischen abgerissen wurde) und dem Palast der Republik, in dem auch die Volkskammer tagte, auf dem Areal um den Schloßplatz herum -also weiter östlich -konzentriert. In das Staatsratsgebäude, das inzwischen unter Denkmalschutz steht, wird vorübergehend der Bundeskanzler einziehen, weil der Neubau des Bundeskanzleramtes nicht bis zum Umzug des Parlaments abgeschlossen sein wird. Im alten Reichsbankkomplex, in dem das ZK der SED residiert hatte, wird sich das Außenministerium einrichten. Offen ist bis heute, was mit der Fläche geschehen soll, auf der bis in die sechziger Jahre das vom Bombenkrieg beschädigte Stadtschloß der preußischen Könige gestanden hatte. Soll der dort stehende Palast der Republik abgerissen werden? Was könnte an seiner Stelle, im Zentrum der Mitte, neu entstehen? Dafür gibt es bisher weder ein akzeptiertes Bau-noch ein Nutzungs-oder Finanzierungskonzept. Entschieden ist bisher allein, daß der Palast vom Asbest befreit werden soll -und das heißt, daß danach nur noch ein Stahlgerippe stehen bleiben wird. Befürworter einer historischen Rekonstruktion des Schlosses gibt es bis in die Landesregierung hinein, Verteidiger des Palastes der Republik vor allem aus der östlichen Stadthälfte, und fast wöchentlich werden neue Ideen für eine völlige Neubebauung vorgestellt, wobei es an Beschwörungen historischer Tiefe und erlösender Identitätsstiftung nie mangelt. Niemand mag sich vorstellen, in welche Situation Berlin mit seiner großräumigen Mitte gekommen wäre, wenn der Bundestag am 20. Juni 1991 anders entschieden hätte.

Die Situation in der Stadt war nach der Beseitigung der Grenzanlagen, nach der Auflösung des DDR-Regierungsapparates und nach der Vereinigung der beiden Stadtregierungen historisch einmalig: Im Zentrum einer Millionenstadt waren plötzlich riesige unbebaute Flächen verfügbar; für eine große Zahl von Gebäuden in öffentlichem Eigentum mußten neue Nutzungen bestimmt werden, und aufgrund einer horrenden Wachstumserwartung war im Immobiliengewerbe das Investitionsfieber ausgebrochen. Berlin war aus seiner politisch begründeten Isolation ins Zentrum der Aufmerksamkeit des internationalen Immobilien-kapitals gerückt. Private und öffentliche Interessenten planten gegen-und miteinander, außer einigen gestalterischen Grundsätzen zur Traufhöhe der Gebäude und zum Straßenraum gab es kein zusammenhängendes Konzept für den überraschend hereingebrochenen Wandel. Wo hätte es auch herkommen sollen, und wer hätte es erstellen können? Architekten warfen, noch ehe sich die neu zusammengesetzte Stadtgesellschaft finden und über ihre zukünftige Gestalt befinden konnte, rasch ihre großvolumigen , Visionen aufs Papier, die von Investoren begeistert aufgegriffen und von einem tapferen Stadtbaudirektor in bescheidenere Bahnen gelenkt wurden. Noch ehe die säkulare Zäsur richtig begriffen, geschweige denn verarbeitet werden konnte, wurde Berlin zu dem, was es heute noch ist: zu einer gigantischen Baustelle, auf der jetzt Hüllen und Strukturen für ein neues Gebilde gebaut werden, dessen Stadtqualitäten erst im nächsten Jahrtausend zutage treten und beurteilt werden können.

V. Wirtschaftlicher Strukturwandel

Daß es noch viele Leerstellen im Bild der neuen Mitte und noch viele veränderungsbedürftige Strukturen aus der Vergangenheit gibt, ist unvermeidlich -und wohl auch gut, denn eine lebendige Stadt entsteht weniger durch Zeichnungen am Reißbrett als durch die Aktivitäten ihrer Bewohner, Geschäftsleute und sonstigen Nutzer. Die Stadt hat überdies zur Zeit andere Probleme, die eigentlich die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen müßten, und die aus einem Zustand resultieren, den sich in dieser Stadt vor fünf Jahren noch niemand vorstellen konnte: dem der Wachstums-schwäche. Da nun auch die Berliner im Umland wohnen können, ist die Bevölkerungszahl der Stadt seit dem vergangenen Jahr rückläufig, die Zahl der Arbeitsplätze nimmt ab und die Finanz-not der öffentlichen Haushalte ist dramatisch. Dies sind Gegebenheiten, die die meisten Großstädte der westlichen Welt seit 20 Jahren gut kennen, aber in Berlin hatte man sich in den letzten Jahren vor allem mit Wachstumsszenarien beschäftigt, und der Strukturwandel, der nun in kürzester Zeit abläuft, entfaltet seine Wirkungen mit aller Wucht. Dies hat vor allem politische Ursachen. 1. Arbeitsplätze Seit der Vereinigung vollzieht sich auf dem Berliner Arbeitsmarkt ein tiefgreifender Strukturwandel, der das Ergebnis vor allem von zwei Veränderungen ist: Zum einen ist das produzierende Gewerbe einem quantitativen und qualitativen Anpassungsprozeß unterworfen, in dem sich Zahl und Art der Arbeitsplätze den Strukturen annähern, die inzwischen auch in anderen Großstädten normal geworden sind; und zum anderen wird der vergleichsweise hohe Besatz mit Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst abgebaut. Im Ergebnis heißt dies, daß in Berlin -bei gestiegener Bevölkerungszahl -im Jahre 1995 insgesamt etwa zwölf Prozent weniger Arbeitsplätze als im Jahr 1990 zu verzeichnen waren.

Aus verschiedenen Gründen hatten sich bis 1989 in beiden Teilen der Stadt Beschäftigungsstrukturen herausgebildet, denen nach der Vereinigung die Grundlage entzogen wurde. Der Ostteil war . Hauptstadt der DDR 1, und daher beschäftigte der aufgeblähte Staatsapparat (inklusive der horrenden Zahlen von Beschäftigten im , Sicherheitsbereich 1) einen ungewöhnlich hohen Anteil der Erwerbstätigen. Außerdem befanden sich auf OstBerliner Gebiet viele große Industriebetriebe, die aufgrund ihrer niedrigen Produktivität eine große Masse von Industriearbeitern beschäftigten. Wie in den neuen Bundesländern allgemein brachen mit der Auflösung des Staates und im Zuge der Privatisierung der Gewerbebetriebe die meisten dieser Arbeitsplätze weg. Zwischen 1990 und 1995 gingen in Ost-Berlin 56 Prozent der Arbeitsplätze beim Staat und 48 Prozent im produzierenden Gewerbe verloren -im verarbeitenden Gewerbe blieben sogar nur 29 Prozent der Arbeitsplätze von 1990 übrig.

Der Westteil der Stadt wäre aufgrund seiner politisch verursachten ökonomisch isolierten Lage seit 1950 aus eigener Kraft nicht überlebensfähig gewesen. Da West-Berlin in der globalen Konfrontation zwischen dem kommunistischen Block und den NATO-Staaten eine exponierte Position einnahm, wurde die Teilstadt durch Geldzufuhr subventioniert. Um die Abwanderung der Bevölkerung zu verhindern, erhielten die Beschäftigten eine , Berlin-Zulage von acht Prozent ihres Bruttolohns, , Zitterprämie genannt; die Unternehmen wurden vielfältig subventioniert, wobei fataler-weise solche Fertigungsarbeitsplätze angelockt bzw. konserviert wurden, deren Anzahl in anderen Großstädten bereits seit den siebziger Jahren konstant abnahm. Nach der . Berlin-Blockade 1948/49 hatten die meisten Leitungen großer Betriebe die Stadt verlassen und sich in krisensicheren westdeutschen Regionen (vor allem in Süddeutschland) angesiedelt. Damit verlor das produzierende Gewerbe in West-Berlin einen Großteil derjenigen Beschäftigungsbereiche, die für die wirtschaftliche Entwicklung heute von höchster Bedeutung wären: die hochrangigen Unternehmensfunktionen mitsamt ihren Forschungs-und Entwicklungsabteilungen. Das sagenhafte Wachstum einiger westdeutscher Städte in der Nachkriegszeit verdankte sich der politisch verursachten Dezentralisierung von Funktionen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Berlins wirtschaftliche Stärke ausgemacht hatten: Das Bankenzentrum wurde nach Frankfurt am Main verlagert, die zentral-staatliche Regierung nach Bonn, die Medienwirtschaft expandierte in Hamburg und München.

Aufgrund ihrer besonderen staatsrechtlichen Situation -die Stadt stand formell bis 1990 unter Besatzungsrecht -wurden während der gesamten Nachkriegszeit auch keine hochrangigen interna-15 tionalen Institutionen angesiedelt. Neben einer konservierenden Subventionspolitik, die die Modernisierung der Berliner Industrie aufhielt, wurde aus arbeitsmarktpolitischen Gründen in West-Berlin außerdem die Beschäftigung im öffentlich finanzierten Bereich ausgedehnt, vor allem in Bundesämtern und im Bereich Wissenschaft und Kultur.

Nach der Vereinigung brach im Ostteil Berlins das staatlich finanzierte Beschäftigungssystem zusammen, im Westteil wurden innerhalb kurzer Zeit alle Berlin-spezifischen Subventionen abgebaut, was Betriebsschließungen und Arbeitsplatzabbau und damit einen Verlust von insgesamt über 200 000 Arbeitsplätzen seit 1990 zur Folge hatte. Während im Ostteil die Gesamtzahl der Arbeitsplätze zwischen 1990 und 1995 um etwa ein Drittel abnahm, war im Westteil ein Anstieg um ca. 10 Prozent zu verzeichnen (vgl. Tabelle 1). Im verarbeitenden Gewerbe fielen in Ost-Berlin innerhalb von zwei Jahren mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze weg, 1995 waren nur noch weniger als ein Drittel des Bestandes von 1990 vorhanden; in West-Berlin sank die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Bereich zunächst noch langsam, um dann ebenfalls kräftig zu fallen. Diese Entwicklung im Westteil ist auf den , Vereinigungsboom'zurückzuführen, der eine hohe Nachfrage nach Konsumgütern bewirkte und damit vorübergehend den ebenfalls negativen Trend in diesem Beschäftigungsbereich aufhielt. Beim Staat wurde die Zahl der Arbeitsplätze im Ostteil zwischen 1990 und 1995 von 229 000 auf 100 000 reduziert.

Vergleicht man den Strukturwandel in Ost-Berlin mit Städten in den alten Bundesländern, dann lassen sich Veränderungen in ähnlich dramatischem Ausmaß nur bei den Industriestädten des Ruhrgebiets beobachten. So ist z. B. die Zahl der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe auch in Oberhausen um 53 Prozent und in Gelsenkirchen um 54

Prozent gefallen -allerdings im Zeitraum von 1960 bis 1985, also in 25 Jahren, während sich der Arbeitsplatzabbau in Ost-Berlin in gleichem Umfang innerhalb von nur fünf Jahren vollzog! 2. Arbeitsmarkt Der Strukturwandel hat zwischen 1990 und 1996 zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Stadt insgesamt um 69 Prozent geführt; in West-Berlin nahm die Zahl der Arbeitslosen dabei um 77 Prozent zu, in Ost-Berlin um 56 Prozent (vgl. Tabelle 2). Die Arbeitslosigkeit im Ostteil ist geringer als im Westteil, weil dort der Arbeitsmarkt durch Frühverrentung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und durch ca. 130 000 Pendler in den Westteil , entlastet'wird. Die Arbeitslosenquote im Januar 1997 lag in West-Berlin bei 17, 4 Prozent, im Ost-teil bei 15, 9 Prozent. Da im Westen die Beschäftigung im Dienstleistungsbereich expandiert, während sie bei industriellen Fertigungstätigkeiten stark abnimmt und zusätzlich zirka 150 000 Arbeitsplätze von Umlandbewohnern (Einpendler) besetzt sind, sind vor allem die in der Stadt lebenden Ausländer vom Anstieg der Arbeitslosigkeit betroffen. Bei den Ausländern in West-Berlin ist die Zahl der Arbeitslosen seit 1990 um 169 Prozent gestiegen, hat sich also mehr als verdoppelt. 3. Finanzen Vor der , Wende'wurde der Haushalt von West-Berlin zuletzt zu 60 Prozent aus dem Bundeshaushalt finanziert. Dies wurde politisch begründet mit dem Standortnachteil der Stadt, der zu niedrigeren Steuereinnahmen als anderswo führte, und mit der Notwendigkeit, die Wirkung dieser Standortnachteile auf dem Arbeitsmarkt durch eine stärkere Beschäftigung im öffentlichen Dienst zu kompensieren. Außerdem sollte die Infrastruktur der Stadt in attraktiver Weise ausgebaut werden, um Abwanderungen zu verhindern und Besucher indie Stadt zu locken. Andere Möglichkeiten, der politischen Rolle West-Berlins eine materielle Grundlage zu geben, sahen weder Bundestag noch Bundesregierung.

Nach einer kurzen Übergangszeit wurden diese Subventionen gestrichen. Berlin ist heute in den Länderfinanzausgleich einbezogen und erhält -wie jedes Bundesland in vergleichbarer Situation -Ergänzungszuweisungen des Bundes sowie Mittel aus dem Aufbauprogramm Ost. Der Umfang dieser Transfers, die im Jahre 1994 auf einen Einwohner der gesamten Stadt Berlin entfielen, ist um mehr als die Hälfte niedriger als der Betrag, der noch 1990 pro Westberliner Einwohner in den Landeshaushalt floß. Das Finanzierungsdefizit hat sich dadurch vervielfacht, die Kreditmarktschulden haben sich von 1989 bis 1994 auf 9 054 DM/Einwohner nahezu verdoppelt

Die Haushaltssituation der Stadt ist nicht nur aktuell dramatisch, vielmehr ist bisher auch noch nicht zu erkennen, wann und auf welchem Niveau eine Konsolidierung zu erwarten wäre. Seit der Regierungsbildung im Frühjahr 1996 wird von der sozialdemokratischen Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing versucht, die finanzielle Schieflage durch eine Politik der strikten Ausgabenkürzung zu bewältigen. Dafür werden eine Verschärfung der konjunkturellen Krise und der Arbeitsmarkt-probleme sowie ein unkalkulierbarer Kahlschlag im Wissenschaftsbereich in Kauf genommen.

Die Situation ist äußerst verzwickt: Der Abbau von 23 000 Vollzeitstellen im öffentlichen Dienst zwischen 1992 und 1995 hat noch zu keiner Absenkung der Personalausgaben geführt, weil die Einsparungen durch Tariferhöhungen und dem Land verbleibende Kosten für pensionierte oder in den Ruhestand versetzte Beamte überkompensiert werden. Die Kürzungen bei Sachausgaben führen zu geringeren Steuereinnahmen und erhöhten Sozialausgaben -insgesamt ein Teufelskreis, bei dem noch nicht absehbar ist, ob ihm die Landesregierung auf dem eingeschlagenen Kurs, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu wollen, überhaupt entkommen kann. Denn es handelt sich ja nicht um die normalen Probleme, die angesichts des ökonomischen Strukturwandels in jeder Großstadt auftreten, sondern um einen Problemstau, der durch die Teilung Deutschlands und deren politische Bearbeitung geschaffen wurde und der nun innerhalb kürzester Zeit seine ganze Dramatik entfaltet, weil zu seiner Bewältigung nur noch Mittel in einer Höhe zur Verfügung stehen, die auch anderen Ländern ohne dieses spezifische Erbe zugestanden wird.

Seit das Finanzdebakel offenbar und bewußt geworden ist, traut sich in Berlin keine politisch relevante Partei, weitere Zuwendungen aus dem Bundeshaushalt zu verlangen. Zu groß sind die Wunden und Befürchtungen, die der immer wieder in Frage gestellte Vollzug des Umzugsbeschlusses für Bundestag und Bundesregierung in den letzten Jahren hinterlassen hat. , Die Bonner'sollen auf keinen Fall gereizt oder dadurch erschreckt werden, daß sich die neue Hauptstadt als hilfsbedürftige Metropole darstellt. Daß sich in Berlin die SPD zum Vorreiter einer , Lösung aus eigener Kraft'gemacht hat, mag ihr vielleicht einst die Bewunderung von Finanzhistorikern eintragen, bei den nächsten Parlamentswahlen wird sie dies voraussichtlich aber weitere Stimmen kosten.

Die Auswirkungen der Finanzkrise auf Ost-und West-Berlin können nur sehr schwer miteinander verglichen werden. Im Ostteil ändert sich der gesamte gesellschaftliche Kontext der alltäglichen Lebensführung, und innerhalb dieses Wandels machen die unterschiedlich betroffenen Gruppen ihre je eigenen Bilanzen auf: Einem allgemeinen Einkommenszuwachs und einer raschen Verbesserung der Wohnverhältnisse stehen Arbeitsplatzverluste und stark steigende Wohnkostenbelastungen gegenüber. Mittel für den Infrastrukturausbau, für Wohnungsbau und Stadt-erneuerung sind in den vergangenen fünf Jahren auf den Ostteil der Stadt konzentriert worden. Viele West-Berliner haben durch den Wegfall der Berlin-Zulage reale Einkommensverluste erlitten, während die Wohnkosten auch ohne tatsächliche Verbesserungen im Durchschnitt um 30 Prozent gestiegen sind. Die Arbeitslosigkeit ist auch im Westen gestiegen, und die ökonomischen Perspektiven lassen noch keine nachhaltige Verbesserung der Lage erkennen.

Die Zahl der Erwerbstätigen in der Stadt wird nach einer Prognose des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bis zum Jahre 2010 weiter abnehmen, da sowohl die Dezentralisierung der Arbeitsplatzentwicklung (Berlin hat ja nun wieder ein Umland!), die sich in allen Ballungsregionen vollzieht, als auch der noch keineswegs abgeschlossene Strukturwandel der städtischen Ökonomie per Saldo zu keinem Arbeitsplatzwachstum im kommenden Jahrzehnt führen werden.

Diese Entwicklung wird auch dadurch nicht umgekehrt, daß die Stadt Berlin Sitz von Bundestag, Bundesrat, Kanzleramt und einigen Bundesministerien wird. Zwar wären ohne diesen Bedeutungsgewinn der Stadt im nationalen und internationalen Kontext die Perspektiven der ökonomischenEntwicklung vollkommen düster, aber daß dieser einen so raschen und nachhaltigen Effekt haben könnte, daß Schrumpfen in starkes Wachstum verkehrt wird, glaubt kein seriöser Betrachter der Szene. Die möglichen ökonomischen Effekte des Umzugs der , Verfassungsorgane sind lediglich indirekte, die Kompensationseffekte für die Beschäftigung in der Stadt gegenüber den Wirkungen des aufgestauten Strukturwandels eher gering. Berlin wird genau so viele Arbeitsplätze bei Bundesbehörden durch Verlagerung verlieren wie die Stadt durch den Umzug von Kanzleramt, Ministerien und Parlament gewinnen wird. Diese NullLösung kann die großen Hoffnungen, die von der Berliner Politik und Wirtschaft auf den Umzug als Problemloser gesetzt werden, also nicht rechtfertigen. Die Wachstumshoffnungen können sich nur auf den Bedeutungszuwachs gründen, denn selbst wenn man die Zahl der Folgeumzüge von Botschaften und Verbänden sowie die durch unmittelbare Nachfrage des Regierungsapparats entstehenden Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich auf 20 000 schätzt, ist dies in einer 3, 5-Millionen-Stadt quantitativ kein übermäßig gewichtiger Beitrag zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme.

VI. Zukunft

Die Stadt Berlin befindet sich in einer Übergangsphase, in der ihre wirtschaftlichen Strukturen in einer neuen Umwelt neu formatiert werden müssen. In der Zeit der Teilung wurden frühere Funktionen unwiederbringlich verlagert. Die exponierte Rolle als , Schaufenster des Westens einerseits, Zentrale des DDR-Sozialismus andererseits hat sich durch die Auflösung des kommunistischen Systems und das Ende des Ost-West-Konflikts in ein schweres Erbe verwandelt. Die von politischen Bekenntnissen getragene Solidarität mit der geteilten Stadt ist ohne langen Zeitverzug einer Konkurrenzsituation gewichen.

Die Entscheidung, den Sitz der Verfassungsorgane von Bonn nach Berlin zu verlagern, fiel nur mit äußerst knapper Mehrheit, und die folgenden Revisions-bzw. Verhinderungsversuche zeigten, in welch rauhem Wind die Bemühungen der Stadt in der Zukunft stehen werden, sich den veränderten Verhältnissen anzupassen. Die in Berlin vielfach geäußerte Ansicht, die politische Rolle als Sitz der Bundesregierung werde genügen, das Fundament für die Bewältigung der nun aufgebrochenen Strukturprobleme abzugeben, ist vollkommen unrealistisch, denn aus dieser Funktion ergeben sich keine hinreichenden Anstöße für die Entwick-lung einer neuen ökonomischen Struktur für eine Stadtregion mit nahezu fünf Millionen Einwohnern. Berlin war im ersten Drittel dieses Jahrhunderts der Prototyp einer , Stadt der Moderne 1. Gerade weil sich die Stadt erst im 18. und 19. Jahrhundert zu einem Ort mit überregionaler Bedeutung entwickelt hatte, stellten sich der stürmischen Entwicklung so wenig Hindernisse entgegen. Weder ein alteingesessenes Bürgertum noch eine lokale Folklore behinderten den Aufstieg einer offenen Stadt -offen für Zuwanderer und offen für eine neue Kultur. Die jüdischen Bewohner waren ein wesentliches Element der innovativen und weltoffenen Urbanität. Berlin war das Zentrum eines mittelosteuropäischen Entwicklungsraumes. Neben Maschinenbau und Elektroindustrie und den mit der Bildung des Kaiserreiches verbundenen Funktionen eines Zentrums für Politik, Militär und Finanzkapital konzentrierten sich in Berlin die Institutionen, die den Aufstieg der Medienindustrie einleiteten: Presse, Film und Rundfunk. Die Vitalität der Stadt ergab sich aus ihren Verbindungen nach Osten und Westen. Die Medien verbreiteten dieses Bild der modernen Stadt -und das brachte Berlin schon damals ebenso viele Bewunderer wie Gegner ein.

Deutscher Faschismus und sowjetischer Kommunismus haben die Zukunft, die sich darauf hätte bauen lassen, zerstört. Die Aufteilung der Zentrumsfunktionen und die funktionale Integration der Bundesrepublik in die Ökonomie der westlichen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg haben eine Struktur geschaffen, in die die neue Hauptstadt heute nicht umstandslos wieder eingebaut werden kann. Berlin wird neue Funktionen ausbilden müssen, außer dem Regierungssitz wird der Stadt nichts zurückgegeben werden. Die deutsche Vereinigung hat weder den Föderalismus bedroht, noch haben die westdeutschen Regionen nach der Vereinigung Funktionen abgeben müssen -Rezentralisierung ist weder eine wünschenswerte noch eine mögliche Zukunft für Berlin. Die neuen Funktionen können sich nur aus der Wiederbelebung des mitteleuropäischen Kultur-und Wirtschaftsraumes ergeben, nur in einer solchen neuen Struktur wird Berlin wieder eine europäische Metropole werden. Das heißt auch, daß die neue deutsche Hauptstadt in der Republik, die sich nach dem Ende der kommunistischen Systeme neu formiert hat, nur dann in ihrer neuen Rolle akzeptiert wird, wenn sich die Koordinaten in Europa (und damit in Deutschland) insgesamt verschieben. Wie Berlin mit seinen Strukturbrüchen fertig werden kann, hängt also wie in den vergangenen 50 Jahren -mehr als bei anderen Städten -von internationalen Entwicklungen ab. Die Perspektiven, die sich aus der Prognose von Trends und aus dem Vergleich mit der Entwicklung in anderen Großstädten ergeben, sind nicht besonders ermutigend, aber dabei handelt es sich doch immer um Einschätzungen, die auf der Verlängerung von Bekanntem beruhen. In Zeiten eines globalen Strukturwandels sind solche Projektionen allerdings unsicherer denn je.

Daß jedes Ende der Anfang von etwas Neuem sein kann, ist nicht nur eine Phrase. Subventionskultur und Subventionsökonomie haben ein abruptes Ende gefunden. Die ökonomischen Akteure in der Stadt sind dabei, sich in dem radikal veränderten Umfeld neu zu orientieren -und dieser Prozeß dauert länger, als am Anfang dieses Jahrzehnts alle gedacht haben. Durch politische Steuerung ist nur wenig zu beeinflussen, welche ihrer vielfältigen Potentiale die Stadt zukünftig entfalten kann. Wie es immer in Zeiten des Über-gangsder Fall ist, zeigen sich auch jetzt in Berlin Transformationen und Transzendierungen des Hergebrachten -und seien es vorläufig nur Orte einer innovativen Kultur und einer schrägen Szene, wie sie sich z. B. in der östlichen Stadthälfte herausgebildet haben, die ungeklärte Eigentumsverhältnisse und eine verrottete Bausubstanz zu nutzen verstanden. Sie nähren sich aus dem Reiz-klima der nachwirkenden Spaltung -Orte einer experimentellen Nach-Teilungs-Kultur. Im Scheunenviertel und im Prenzlauer Berg wird erkennbar, welche urbane Vitalität von einer Umbruchssituation ausgehen kann, in der noch keine einzelne Macht die zentrale Regie übernehmen konnte. Mit der Beseitigung der Ost-West-Grenze in Europa ging die Nachkriegszeit zu Ende, damit ist auch Berlin in ein neues Zeitalter eingetreten. Seine noch unklare Zukunft wird sich nur in diesem neuen Europa herausbilden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hartmut Häußermann, Von der Stadt im Sozialismus zur Stadt im Kapitalismus, in: Hartmut Häußermann/Rainer Neef (Hrsg.), Stadtentwicklung in Ostdeutschland, Opladen 1996, S. 5-47.

  2. Vgl. DIW-Wochenbericht, 22 (1995) 45, S. 773 f.

  3. f.

Weitere Inhalte

Hartmut Häußermann, Dr. rer. pol., geb. 1943; Professor für Stadt-und Regionalsoziologie im Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin; bis 1993 an der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Jürgen Friedrichs und Walter Siebel) Süd-Nord-Gefälle in der Bundesrepublik?, Opladen 1986; (zus. mit Walter Siebel) Neue Urbanität, Frankfurt am Main 1987; (Hrsg.) Ökonomie und Politik in alten Industrieregionen Europas, Basel 1992; (Hrsg. zus. mit Rainer Neef) Stadtentwicklung in Ostdeutschland, Opladen 1996; (zus. mit Walter Siebel) Soziologie des Wohnens, Weinheim 1996; Von der sozialistischen’ zur kapitalistischen’ Stadt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/95.