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Spiel -Unterhaltung -Sucht. Die Frage nach den Grenzüberschreitungen | APuZ 19-20/1997 | bpb.de

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APuZ 19-20/1997 Wer trägt die Verantwortung? Zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen Jugendliches Medienhandeln: Szenen, Stile, Kompetenzen Auswirkungen von Medien auf die Entstehung von Gewalt im Kindes-und Jugendalter Spiel -Unterhaltung -Sucht. Die Frage nach den Grenzüberschreitungen

Spiel -Unterhaltung -Sucht. Die Frage nach den Grenzüberschreitungen

Barbara Mettler-v. Meibom

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Angesichts der Ausweitung und Differenzierung der elektronischen Medien wird der Ruf nach Medienkompetenz lauter. Die Förderung eines fähigen Umgangs mit Medien sollte dabei nicht in einer solch beschränkten Weise betrieben werden, als ginge es vorrangig um die möglichst umfassende Beseitigung von Aneignungshemmnissen bei den Rezipientinnen und Rezipienten, die einem breiten Absatz neuer Kommunikationstechnologien entgegenstehen. Vielmehr ist der Erwerb von Medienkompetenz als Teil der Persönlichkeitsentwicklung aufzufassen. Spiel und Unterhaltung mittels Medien dienen dem Ausprobieren von Grenzen, dem spielerischen Selbstentwurf und der Suche nach Kommunikationspartnerinnen und -partnern. Problematisch wird der Umgang mit Medien und Kommunikationstechniken dann, wenn eine mangelhafte sozio-emotionale Einbindung zum suchtartigen Gebrauch von Medien führt und die Suche nach Grenzerfahrung, Unterhaltung und Gemeinschaftlichkeit ins Leere läuft. Indem Medien Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Beziehungsfähigkeit nehmen, ist somit auch die Frage nach der Demokratiefähigkeit von Individuen berührt. Werden Medien von einem selektiv nutzbaren Mittel zum Zweck zu einem permanenten Vehikel einer suchtartigen Suche, können bestimmte Bedürfnisse dauerhaft nicht befriedigt werden. Sich an den eigenen Bedürfnissen orientieren zu können und der Auseinandersetzung mit sich und anderen nicht durch die Sogwirkung allgegenwärtiger medialer Kommunikationsangebote zu entfliehen erfordert die Entwicklung einer „Kultur der Selbstsorge“. Die Herausbildung einer solchen Kultur der Selbstsorge liegt einem kompetenten und verantwortlichen Umgang mit Medien zugrunde.

I Einleitung

Graphik: Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow Quelle: U. Nuber nach Abraham Maslow (Anm. 17), S. 22.

Medienkompetenz ist zum Zauberwort geworden. Seit die neuen Medien endgültig über uns hereinzubrechen scheinen, locken die verwirrenden Möglichkeiten der multimedialen Welt mit Internet, Cyberspace, digitalem Fernsehen und Hörfunk. Doch die Fähigkeiten der Menschen, mit ihnen umzugehen, hinken dem Angebot weit hinterher. Es fehlt die notwendige Medienkompetenz. Dies schmälert die Chancen der Anbieter, Produkte und Dienstleistungen erfolgreich auf den Markt zu bringen.

Die einzelnen Bundesländer scheinen darauf höchst unterschiedlich zu reagieren. Während beispielsweise der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber jedem Bayern den Zugang zum Internet kostenlos verschaffen will, hat NRW die Medienkompetenz entdeckt. Das Bundesland, dem die Medienstandortpolitik ein ganz besonderes Anliegen ist, will nicht nur mit , Infocity 2000’ das bundesweit größte Einführungsprojekt für Multimedia starten und außerdem die Schulen des Landes an das Netz bringen, sondern plant noch weiteres: In der kleinen Industriestadt Marl im nördlichen Ruhrgebiet, wo das renommierte Medieninstitut des Deutschen Volkshochschulverbandes, das Adolf-Grimme-Institut, seit Jahren mit Finanznöten kämpft, wird 1997 ein neues Medienkompetenzzentrum gegründet werden. Es soll helfen, die Menschen des bevölkerungsreichsten Landes der Bundesrepublik zu einem kompetenten Umgang mit den medialen Verheißungen der Informationsgesellschaft zu befähigen.

Doch was heißt Medienkompetenz? Und auf welche Arten von Mediennutzungen bezieht sich Medienkompetenz? Zu unterscheiden sind sicherlich die professionelle und die freizeitorientierte Mediennutzung. Da Menschen im privaten Alltag die elektronischen Medien Fernsehen, Radio, Computer, Videorecorder und Walkman vor allem für Unterhaltung und Spiel nutzen, kann sich Medienkompetenz wohl kaum allein auf die Fähigkeit zum professionellen Bedienen von Geräten oder zum Navigieren in Internet-Welten beschränken. Doch was ist dann gemeint, wenn es um die Förderung der Medienkompetenz geht? Dieser Frage werde ich im folgenden nachgehen.

Ausgehend von den Begriffen Medienkompetenz, Demokratiefähigkeit und Kultur der Selbstsorge wende ich mich drei Grundbedürfnissen des Menschen -Spiel, Unterhaltung und der Suche nach Sinn -zu, um sodann jeweils zu fragen, welche Veränderungen sich unter anderem durch den Gebrauch von Medien eingestellt haben. Abschließend werfe ich die Frage auf, ob wir eine neue „Kultur der Selbstsorge“ brauchen, um mit der Überfülle der Medien kompetent, das heißt in einer für uns und die Gesellschaft zuträglichen Weise, umgehen zu können.

Meine Grundthese lautet: Medienkompetenz setzt in starkem Maße Persönlichkeitsentwicklung voraus. Das gilt insbesondere für Mediennutzungen im privaten Alltag, in dem mit Medien vor allem spielerisch und unterhaltend umgegangen wird. Wer Medienkompetenz (im privaten Alltag) fördern will, muß daher nicht zuletzt Wege der Persönlichkeitsförderung suchen.

Dieser Beitrag geht zurück auf eine Tagung an der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 10. bis 12. Mai 1996 zum Thema: Auf dem Weg zu einer demokratischen Kommunikationskultur?!

II. Medienkompetenz -Demokratie-fähigkeit -Kultur der Selbstsorge

In welchem Zusammenhang steht diese These? Dazu werde ich einige Ausführungen anhand der drei Begriffe Medienkompetenz, Demokratie-fähigkeit und Kultur der Selbstsorge machen. 1. Medienkompetenz Wer möchte, daß Computer gekauft, Software genutzt, CD-ROMs eingespielt und die Welten des Internet durchsurft werden, hat ein hohes Interesse daran, Menschen -welcher Altersgruppe und Lebenssituation auch immer -mit den Geräten und Anwendungen vertraut zu machen. Eine Qualifizierung zur Medienkompetenz bezieht sich bei solchem Verständnis auf ein instrumentelles Bediener-und Benutzerwissen. Wenn sie gelingt, kann man von Medienkompetenz sprechen.

Das Europäische Medieninstitut in Düsseldorf, damit beauftragt, eine Konzeption für das Medienkompetenzzentrum zu entwickeln, greift mit Recht weiter aus. Vier begriffliche Ungetüme nennt es für die Kernbereiche von Medienkompetenz:

1.Selbstbestimmungs-und Orientierungskompetenzen; 2.Selektions-und Entscheidungskompetenzen: 3.instrumentell-qualifikatorische und 4.konstruktiv-qualifikatorische Aneignungskompetenzen

Was dem vorgenannten engeren Verständnis der Medienkompetenz entspräche, ließe sich hier allenfalls unter der drittgenannten „instrumentellqualifikatorischen“ Kompetenz vermuten. Wenn es aber (vgl. Punkt2) um die „Fähigkeit . .. [geht], sich unter bestimmten Bedingungen ... bewußt für oder gegen bestimmte inhaltliche Angebote, Anwendungen, technische Systeme ... zu entscheiden“, dann ist weit mehr im Spiel als nur die Fähigkeit, Maschinen zu bedienen. Dann geht es um das Vermögen auszuwählen, mithin eine Fähigkeit, die nicht nur das Denken, sondern die ganze Persönlichkeit betrifft.

Hier zeigt sich bereits, wie notwendig es ist, über Persönlichkeitsentwicklung im Zusammenhang mit Medienkompetenzentwicklung zu reflektieren. Wie sehr hier manches zu wünschen übrigläßt, zeigen zwei neuere Studien. Eine von mir durchgeführte Untersuchung im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW beschäftigte sich unter Zuhilfenahme qualitativer Methoden (Tiefeninterviews) mit der Frage, wie Mütter in der Erziehung mit dem ausufernden Medienangebot umgehen Dabei zeigte sich: Angesichts anhaltender geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung im privaten Alltag sind es nicht die Eltern, sondern in erster Linie die Frauen, die den Kindern die Grundlagen von Medienkompetenz vermitteln. Zum einen betreuen sie in der Regel die Klein-und Schulkinder und legen damit die Grundsteine der Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Menschen. Zum zweiten fällt ihnen im täglichen Miteinander die immer schwierigere Aufgabe zu, den Umgang mit dem ausufernden Medienangebot einzuüben. Die Folge: Je weniger sozio-emotionale Stabilität die Kinder in dieser Phase entwickeln (können), desto anfälliger werden die jungen Menschen für die Sogwirkung der Medien. Dabei sind die Rahmenbedingungen für Mütter und Kinder, aber auch für die Väter, alles andere als günstig. Einige Stichworte seien genannt: Doppelbelastung der Frauen, Abwesenheit der meisten Väter, verkehrsbelastetes Wohnumfeld und Verhäuslichung von Kindheit, Klein-und Kleinstfamilien mit geringer sozialer Anbindung, Wohnungs-und Wohnortswechsel sowie Arbeitslosigkeit. Im. ungünstigsten Fall haben wir eine überforderte Mutter und ein sozial und emotional nicht ausreichend stabilisiertes Kind, das in dieser Situation der Sogwirkung der Medien wenig entgegenzusetzen hat. Wo Selbstvertrauen und Verständigungsfähigkeit nicht ausreichend erlernt werden können, fehlen die wichtigsten Voraussetzungen, um mit dem ständig verfügbaren Medienangebot so umzugehen, daß das Bedürfnis nach sozio-emotionaler Einbindung nicht überdeckt wird.

Die andere Untersuchung stammt von Bernd Schorb, Professor für Medienpädagogik an der Universität Leipzig. Er untersuchte das Freizeit-verhalten von fünfzehn-bis neunzehnjährigen Jugendlichen, indem er sie einen Videofilm zum Thema , Freizeit -tote Zeit? drehen ließ Bei der Bildanalyse und ihrem Vergleich sowohl mit den transkribierten Texten als auch mit den Aussagen, die die Jugendlichen rund um die Produktion des Videos gemacht hatten, zeigten sich gravierende Unterschiede. Die tiefen Sehnsüchte der Jugendlichen richteten sich auf emotional-kommunikative Beziehungen und bezogen sich auf Eltern, Freunde und andersgeschlechtliche Partnerinnen und Partner. Doch ihren Ausdruck fanden sie weder in den im Video gesprochenen Texten noch in den Gruppendiskussionen. Sie ließen sich „nahezu ausschließlich in nonverbalen Formen, durch Mimik, Gestik, Haptik, durch die unterlegte Musik und durch Gegenstands-und Handlungssymbolik [erschließen]. Sprache als Kommunikationsmittel spielt eine völlig untergeordnete Rolle, dient allenfalls der Verstärkung der nonverbal vermittelten Inhalte.“ Der Autor schließt: „Die Darstellung der Wunschebene steht damit in scharfem Kontrast zu dem Bild von Beziehungen, das von den Jugendlichen in der Filmszene gezeichnet wird, in der sie ihre tatsächliche Freizeitrealität darstellen. Hier sind die Beziehungen der Jugendlichen untereinander distanziert, vermitteln sich ausschließlich über Reden, oft über Aneinander-vorbei-Reden’ und lassen jeden emotionalen und körperlichen Kontakt vermissen.“ Mit anderen Worten: Auf der Persönlichkeitsebene fehlt bislang nicht nur die entscheidende Fähigkeit, im Kontakt mit den eigenen Bedürfnissen zu sein, sondern diese auch zum Ausdruck zu bringen und sich damit befriedigende sozio-emotionale Beziehungen zu verschaffen. Wo die eigenen Bedürfnisse hinter Worthülsen verborgen werden, kann die soziale und emotionale Einbindung nur schwer gelingen. Freizeit wird nicht zur lebendig gefüllten, sondern zur „toten“ Zeit.

Eine ähnliche Beobachtung stammt aus einem Lehrforschungsprojekt, das ich im Sommer 1996 an der Universität mit Studierenden zum Thema Medienaneignung durchgeführt habe, also mit einer Altersgruppe, die rund zehn Jahre älter und somit definitiv aus dem Pubertätsalter heraus ist. Hier sollten das Internet und dessen Wirkungen auf Alltagsorganisation und Zeiteinteilung untersucht werden. Nachdem die Studierenden diese Frage in immer neuen Variationen anhand von Argumenten der Zeitrationalisierung für studentische Arbeiten begründeten, sollten sie sich in Untergruppen mit einzelnen Hypothesen befassen. Bei der freiwilligen Meldung für verschiedene Aspekte war die Überraschung perfekt. Die spontanen Handzeichen ergaben: Niemand wollte sich mit den Aspekten der Zeitrationalisierung befassen, doch alle, bis auf zwei Ausnahmen, mit der Frage, wie sich denn das Internet auf die sozialen Beziehungen und die Partnerschaften auswirken würde -auch hier also eine deutliche Differenz zwischen verbalisierten und motivational angelegten Wünschen und Hoffnungen.

Medienkompetenz entwickelt sich also in einem Kontext, der mehr als die kognitiv-verbale oder handlungsorientierte Ebene berührt. Da Medien-angebote heute ständig verfügbar sind und ein Strom von Bildern und Tönen, ja selbst -virtuell verfügbaren -Gesprächspartnern und -Partnerinnen immer abrufbereit sind, lassen sich Kommunikationsbedürfnisse ohne jede Mühe auf technische Apparate kanalisieren. Daraus resultiert eine beträchtliche Sogwirkung gerade dort, wo Menschen, und nicht nur junge, den Umgang mit diesen Bedürfnissen nicht befriedigend lernen konnten. Die Vermutung drängt sich auf, daß Menschen mit geringer Ich-Stärke und wenig entwickeltem Selbstvertrauen oder Menschen in Krisensituationen (von beiden gibt es mehr als genug) den omnipräsenten elektronischen Medien im privaten Alltag ziemlich hilflos ausgeliefert sind. Statt Selbstfindung und Stabilisierung also Entfremdung sich selbst und der Mitwelt gegenüber? 2. Demokratiefähigkeit Persönlichkeitsentwicklung und Demokratiefähigkeit hängen auf das engste zusammen. Diese Lehre konnten wir spätestens aus den Untersuchungen von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno über die tiefenpsychologischen Ursachen des Nationalsozialismus ziehen. Wenn Menschen ihren eigenen Bedürfnissen entfremdet sind oder unter Zwang entfremdet werden, werden sie leichter zum Spielball manipulativer Übergriffe von anderen. In einer Mediengesellschaft müssen solche Übergriffe nicht mehr von Personen oder Großorganisationen inszeniert werden. Hier können Medien als Agenten und Agenturen der Selbstentfremdung, aber auch der Entfremdung gegenüber der Umwelt oder „Mitwelt“ funktionieren. Wer Mediennutzung und Demokratiefähigkeit diskutiert, beschäftigt sich heute meist mit der Frage, welche journalistische Qualität die Informationsangebote haben und in welchem Maße sie genutzt werden. In der Mediengesellschaft mit dem Leitmedium Fernsehen überwiegen bedeutungsmäßig die elektronisch aufbereiteten Informationen. Untersuchungen zeigen jedoch, daß als Folge des dualen Rundfunks und der Lesemüdigkeit der nachwachsenden Generation politische Informationen insgesamt an Gewicht verlieren. Dies gibt zu Recht Anlaß zu Besorgnis.

Doch bei einem solchen Befund kann man nicht stehenbleiben. Vielmehr stellt sich die Frage, warum Menschen in immer stärkerem Maße Medien für Unterhaltung und Spiel nutzen. Welche Funktion hat dieser in der Forschung vielfach unter dem Stichwort Eskapismus (Flucht) oder Erlebnisorientierung behandelte Umgang mit Medien sowohl individuell wie kollektiv? Was bedeutet es für die Demokratiefähigkeit der Individuen und einer Gesellschaft, wenn Freizeit heute in hohem Maße Medienzeit ist und sich die Mitglieder der Gesellschaft mit solcher Leidenschaft den elektronischen Spiel-und Unterhaltungsangeboten zuwenden? Offenbar sind Spiel und Unterhaltung grundlegende Bedürfnisse des Menschen, sonst könnten sie nicht eine derartige Bedeutungerlangen. Dann aber ist zu fragen, wie es denn hier um Spiel und Unterhaltung bestellt ist und wie sich die Art des Spielens und Unterhaltens auf die Beziehung zu Mensch und Mitwelt auswirkt. 3. Kunst oder „Kultur der Selbstsorge“

Damit komme ich zu dem dritten Begriff, dem der Kunst oder Kultur der Selbstsorge. Dem Philosophen Michel Foucault ist es zu verdanken, daß er mit archäologischer Akribie die Wurzeln der Kultur der Selbstsorge in der hellenistischen und römischen Geschichte freigelegt hat Er hat damit auf die Notwendigkeit und Fähigkeit einer Kultur des Umgangs mit sich selbst hingewiesen. Dabei erweist sich Selbstsorge als wesentliche Voraussetzung für gutes politisches Handeln. Hier soll unter Rückgriff auf die Überlegungen von Foucault gefragt werden, ob wir nicht eine neue Kultur der Selbstsorge brauchen, um mit Medien kompetent umgehen zu können: Kultur der Selbstsorge als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Medienkompetenz?

III. Spiel als Selbstvergewisserung und Selbstüberschreitung

Hochkonzentriert und zugleich versunken -so erscheint uns ein Kind, das mit seinen Klötzchen spielt. Es kennt noch kein zweckgerichtetes Tun. Es tut einfach. Und in diesem spielerischen Tun entdeckt es sich selbst. Es macht Erfahrungen mit sich, indem es sich den Dingen zuwendet, indem es etwas ausprobiert und immer wieder erneut ausprobiert. Spielerisch stellt es sich selbst auf die Probe, mißt seine Grenzen aus, erfährt sein Können und Scheitern, seine Freude und Trauer, und auch, daß mit den immer wieder zusammenpurzelnden Klötzchenburgen die Welt nicht untergeht. Trotz aller Dramatik -die Klötzchen werden am Ende wieder zusammengepackt, in der Spiel-kiste verstaut, und das Leben geht weiter. Was bleibt, sind Erfahrungen. Sie prägen das Bild, das das Kind sich von sich selbst macht, vom Leben, von seinen Bedeutsamkeiten und von seinen großen und kleinen Nichtigkeiten. Es hat sich im spielerischen Tun erfahren und mit ihm einen Erfahrungsraum durchschritten, der ihm hilft, sich in der Welt zu verstehen.

Solch spielerisches Tun ist für Johan Huizinga der Ursprung aller Kultur. Sprachspiele, Körperspiele, Wissensspiele, Kampfspiele durchweben und durchwirken alles, was Menschen als Kulturleistungen hervorgebracht haben. Homo ludens nennt Huizinga deswegen den Menschen. Doch was ist das Besondere des Spiels, auch des Spiels, das selbst der erwachsene Mensch noch spielt?

Mit dem Spiel betreten wir die Sphäre des Besonderen. Wir verlassen den Alltag, lassen uns auf das Überraschende, das Neue, das Nicht-Kontrollierte ein. Im Spiel eröffnen sich neue Welten, neue Perspektiven, können wir probehandeln, uns für einen Moment vergessen und uns auf neue Weise finden. Spielend schütteln wir die Routine, das Bekannte, das Gewohnte, das Festgefügte ab. Spielend läßt sich der Rollentausch, der Perspektivwechsel, das Verrückte und Überraschende denken, fühlen, sagen, tun. Im Spiel verlassen wir den angestammten Ort, die angestammte Zeit, die angestammte Gewohnheit. Im Spiel begeben wir uns in imaginäre Denkräume, Gefühlswelten, Landschaften, die wir durchfühlen, durchschreiten, durchstreifen. Im Spiel werden wir kreativ, lebendig, erweitern unsere Grenzen, unsere Sichtweisen, begegnen immer neuen Aspekten unseres Selbst und kehren, bereichert durch das andere, durch das Unbekannte, das Überraschende, in den Alltag zurück.

Gezähmt ist das Spiel eine produktive schöpferische Kraft, die wir auch in unserem Alltag einsetzen. Das „Brainstorming“ hat ebenso Spielcharakter wie der Wettstreit der Argumente oder das Bemühen um das köstlichste Essen. Doch solche Kraft kann auch eine anarchische und verändernde Dynamik entfalten, die wir als nicht ungefährlich erleben. Sie muß -so will es scheinen -gebannt werden. Denn wer sich im Spiel verliert, wird für sich und die Gesellschaft zum Problem. Die Sphäre des Spiels soll eine Sphäre des Besonderen bleiben. Deswegen gibt es Grenzmarkierungen, Trennungen, Riten und Rituale des Übergangs aus dem Alltäglichen zum Besonderen und vom Besonderen wieder zum Alltäglichen. Und für ganz besonders gefährliche Spiele, Mysterienspiele oder therapeutische oder schamanistische Rituale, gibt es Spielleiter, die die Kunst des Spielens so gelernt haben, daß sie andere durch die Untiefen der transformatorischen Kräfte geleiten können.

Kein Spiel ist ohne Spielregeln, die das Besondere einbinden und damit erst ermöglichen. Sie regeln unsere spielerischen Wege der Selbstvergessenheit und Selbstüberschreitung, entkleiden sie ihres sozialen Sprengstoffes und kanalisieren sie für die Gemeinschaft: im Sport-und Kampfspiel, im spitzfindigen Wort-und Sprachspiel, im Glücks-und Wettspiel.

Es gibt kaum ein Spiel, das nicht auch wohldefinierte Räume als Markierungen des Übergangs kennt: Die Bühne ist nicht nur erhöht, sie trennt auch von der Alltagssphäre so gründlich ab, daß auf ihr alles gezeigt werden kann und darf. Altar-raum und Kanzel sind selbst in einer säkularisierten Gesellschaft sakrosankt. Sie sind der Raum, in den die transformatorische Kraft der Gottesbotschaft gebannt wird. Sport-und Kampffeld bezeichnen die Räume, die zu überschreiten nur bei Strafe oder Legitimationsverlust möglich ist.

Auch die Zeit ist ein Mittel der Grenzmarkierung: Es gibt die Spielzeit und die andere Zeit. Kaum ein Spiel zeigt dies deutlicher als der Karneval, die Zeit des fröhlichen Fleisches*. Hier wird das ganze Leben für kurze Zeit zum Spiel. Die Maske verbirgt das Normale; das Kostüm verrät die Sehnsucht; die gewählte Figur symbolisiert den Raum des Probehandelns, den zu durchschreiten, zu durchtanzen, zu durchhüpfen nur von dem eigenen Wunsch bestimmt wird, sich selbst neu und anders zu erfahren. Um so schärfer sind die Markierungen des Übergangs. Wenn sich in Köln am Faschingsdienstag zur mitternächtlichen Stunde der Wechsel von der Zeit des „lustigen Fleisches“ zur Fastenzeit vollzieht, in der der Leib kasteit wird, dann erfordert dies ein Ritual: Der Fastnachtskerl wird verbrannt, die Totenmesse zelebriert, alle Ausschweifungen und Sünden der vorangehenden Tage werden höheren Mächten übergeben. Wer es weniger dramatisch haben will, kann sich am nächsten Tag das Aschenkreuz holen und sich und der Umwelt zeigen, daß er den Wechsel aus der Sphäre des Spiels in die des Ernstes vollzogen hat.

In dem wohldefinierten Spielraum, in der markierten Spielzeit, in dem Raum des Besonderen erfahren wir uns neu. Indem wir uns in andere Identitäten, andere Vorstellungen, andere Räume und Zeiten versetzen, gewinnen wir Distanz zu uns selbst und kehren doch bereichert zurück. Indem wir spielerisch Erfahrungsräume erschließen, die uns sonst unzugänglich wären, lernen wir uns besser kennen, vergewissern uns unseres Platzes in der Gemeinschaft und Gesellschaft und werden auf eine neue und uns bereichernde Weise lebendig: „Spiele dein Leben -lebe dein Spiel.“

IV. Spiele der Mediengesellschaft, die Medien als Spiel(zeug) e

Die Spiele der Mediengesellschaft sind besondere Spiele. Medien sind Spiel(zeug) e und Medien zeigen Spiele. Und sie tun dies nach Regeln, die die Medien setzen. Dies läßt sich zum Beispiel an den massenmedialen Programmangeboten nachvollziehen. Hier sind unschwer Spielformen in allen Programmsparten zu finden, in Talk-Shows ebenso wie in Dokumentationssendungen. Doch es gibt auch Programme, bei denen der Spielcharakter eindeutig im Vordergrund steht.

Da sind zuerst einmal die Spiel-und Quizzsendungen des Fernsehens. Die letzten Jahre haben eine wahre Flut solcher Sendungen über uns hereinbrechen lassen. Daran sind sicherlich nicht nur die niedrigen Herstellungskosten von Glücksrad und Co. schuld, sondern auch die Intensität des Spiel-wunsches beim Publikum. Wer schon nicht selbst spielt, kann zumindest dem Spiel der anderen zuschauen. Die Erfahrungen machen dabei die anderen. Letztere sind es, die sich der ungewohnten, überraschenden Situation aussetzen, dies auch noch vor einem Millionenpublikum tun und damit ihre Identität in den Spiegeln der Mediengesellschaft erproben.

Wer hingegen am heimischen Fernseher dem Spiel zusieht, steht am Spielrand, hat im Spiel die Rolle des Zuschauenden eingenommen. Doch anders als im Theater, Konzert, beim Straßenfest oder auf der Kleinbühne, bei der die Zuschauenden Mitspieler sind, indem sie für die Protagonisten und Protagonistinnen auf der Bühne den notwendigen Resonanzboden geben, sind die Zuschauer der Medienspiele, wenn sie nicht gerade den TED bedienen oder sich in die Sendung telefonisch einwählen können, funktionslos. Ihr Beitrag erschöpft sich in den Einschaltquoten, über die die Höhe der Werbeeinnahmen berechnet wird. Das offenbart noch einen weiteren Aspekt dieser Spiele: Sie üben ein in die Regeln der materiellen Konsum-befriedigung. Geld oder Güter winken den glücklichen Gewinnern und Gewinnerinnen, und die zwischengeblendete Werbung zeigt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern diesseits des Bildschirms, worauf sich das Sehnen der Spielenden und der Zuschauenden richten kann und darf: auf die lockenden Angebote der werbenden Industrie.

Statt der Selbstbegegnung und Selbsterfahrung im Spiel also die Einübung in die Spiele des Konsums? Und die Grenzmarkierung? Sie besteht nur noch in dem Kasten, ständig verfügbar und -häufig genug -anhaltend benutzt. Die Sphären desAlltäglichen und Besonderen haben sich miteinander verwoben.

Spiele mit Medien haben einen anderen Charakter. Aus der Vielzahl der Möglichkeiten von Spielen mit Medien seien hier drei erwähnt: das Computerspiel, der spielerische Umgang mit dem Internet und Cyberspace als Spiel.

Das Computerspiel erlaubt mehr als einen nur passiven Konsum; es ermöglicht vielfältige eigene Erfahrungen, insbesondere solche emotionaler, zum Teil aber auch sozialer Art. Computerspieler, nicht ohne Grund meist männlichen Geschlechts, durchleben emotionale Höhen und Tiefen im Kampf mit dem Gerät und dem Programm. Die meist auf Sieg, Krieg, Gewinn, Herrschen angelegten Spiele vermögen es, die Spielenden auch über Stunden in ihren Bann zu ziehen. Die Spiele wiederum werden immer komplexer und technisch immer aufwendiger und verlangen immer neue Geräte, um den technischen Aufwand bewältigen zu können. Damit ist ein doppelter Effekt erzeugt: Die Spielenden werden „bei der Stange“ gehalten, denn die Spiele zu knacken, verlangt lang anhaltende Übung und Beschäftigung; und die Anbieter von Spielen und von Geräten stimulieren beständig auf eine effektive Weise die Nachfrage.

Zweifellos können Computerspielende starke Erfahrungen mit sich selbst machen. Die Ohnmachts-/Allmachtserfahrungen gegenüber dem Gerät haben schon manchen zur Spielleidenschaft verführt. Allerdings sind es in der Regel keine sozialen Erfahrungen. Zu diesen kommt es nur dort, wo das Spiel gemeinsam mit anderen gespielt wird, eine Form, die allerdings der Benutzeroberfläche der meisten Videospiele widerspricht, denn die verlangt den Einzelkämpfer. Allenfalls in der Anschlußkommunikation, in der es um die Verfügbarkeit, den Zugang, den Besitz, den Kenntnis-und Geschicklichkeitsreichtum im Umgang mit Computerspielen geht, entsteht eine größere Varianz sozialer Erfahrungen. Das Computerspiel wird hier zur kommunikativen Ressource in der Interaktion mit anderen. Die unmittelbaren Erfahrungen in der sogenannten Mensch-Maschine-Kommunikation sind jedoch auf der Ebene der Materialität und des Sozialen äußerst reduziert: Zeitstreß, maschinelle Benutzerführung, extrem einseitige sensomotorische Anforderungen, Mitwelt- und Umwelterfahrungen, die sich materiell auf das Gerät beschränken und semantisch von den Vorgaben des maschinellen Programms bestimmt werden. Statt Selbst-Erfahrung findet hier m. E. eher eine Form der Selbst-Manipulation statt.

Etwas anders verhält es sich mit der neuesten Form von Medienspielen, nämlich solchen mit Hilfe des Internets, bei denen wiederum die Männer mit über 90 Prozent der Nutzer die Modalitäten bestimmen Der berühmte Surfer im Internet ist ein Alleinunterhalter, der von einer virtuellen Welt in die andere wechselt und sich das ganze Kaleidoskop von Wirklichkeiten im medialen Brennspiegel zusammenholen zu können scheint. Wo hingegen die kommunikative Komponente im Vordergrund steht, wie im Internet Relais-Chat -das Internet Relais-Chat ist ein virtueller Kommunikationsraum, der den Nutzern die Möglichkeit bietet, per Tastatur und Text in Gruppen zu kommunizieren kann die soziale Erfahrung hinzutreten Kommunikation in Echt-Zeit führt hier beliebige Nutzer, die an verschiedensten Orten rund um den Globus jeweils an ihrem Computer sitzen, im schriftlichen . Gespräch zusammen. Daß hier ein vom Medium ermöglichtes Spiel mit anderen stattfindet, ist unverkennbar. Inhalte und Funktion solcher Internet Relais-Chats variieren, ähneln aber zum Teil den Nonsens-Diskussionen, die auch in Partylines und Partytreff-Lines der Telefondienste anzutreffen sind Wie sich derartige mediale Spiele für Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung entwickeln, sollte aufmerksam verfolgt werden. Ganz sicherlich bietet es für spezielle Benutzergruppen wie chronisch Kranke, Behinderte oder Schwerhörige eine unerhörte und nie geahnte Möglichkeit der Erweiterung ihres Wahrnehmungshorizonts und damit ihres Selbst-bildes. Für andere dürfte hingegen die eskapistische Funktion -soweit dies denn noch bezahlbar ist -im Vordergrund stehen.

Als dritter Spieltyp sei das Spiel mit dem Cyberspace erwähnt, hier nicht als eher konventionelles Multimediaspiel verstanden, sondern als dreidimensionales Spiel mit Datenhandschuh und Spezialsicht/Sichtbrille. Mit seinen Charakteristika der individualisierten Nutzung ist es den Video-spielen viel ähnlicher als dem Internet, sofern dessen kommunikative Funktion im Vordergrund steht. Im Cyberspace wird die Ohnmachtserfahrung des Spielers überschritten, ohne doch am Setting der Mensch-Maschine-, Kommunikation etwas zu ändern. Ganz im Gegenteil: Da der Datenhandschuh auf jede Aktion des Spielers reagiert und in Cyberwelten transformiert, in denen sich der Spieler bewegt, erscheint die virtuelle Welt wie eine Verlängerung und Vergrößerung des eigenen Selbst. Es kommt zur narzistischen Überhöhung und Vergrößerung des Ich. Nirgends könnte dies deutlicher werden als dort, wo Cyberspiele als Sexspiele gespielt werden. Im Gegensatz zum Telefonsex, wo noch , Hand angelegt werden muß, verschafft beim Cybersex die Maschine die sexuelle Befriedigung, die per Datenhandschuh beordert wird. Der Verzicht auf das soziale Gegenüber ist total geworden und die Ich-Überhöhung perfekt.

Gemeinsam ist allen diesen Medienspielen, daß sie fast beliebige Grenzüberschreitungen zulassen. Sieht man vom Cyberspace ab, der bislang noch nicht die Massenfertigung erreicht hat, lassen sich in der Alltagsnutzung von Videospielen und Internet die Sphären des Normalen und die des Besonderen zunehmend weniger unterscheiden. Die alltägliche Nutzung der Medien ist derart leicht und beliebig geworden, daß die Rituale des Übergangs zu fehlen scheinen. Der Wechsel zwischen den Welten verläuft quasi unbemerkt, die Wirklichkeitsebenen verwischen sich und die Sphäre des Besonderen verliert allmählich ihren speziellen Charakter. Sie wird zunehmend zur Normalität, somit zum Alltag. Virtuelle Welten werden zu Alltagswelten, Spielwelten zu Normalitäten. Ein wichtiges Ordnungsprinzip der individuellen Psyche und des Sozialen scheint an Wirkmächtigkeit zu verlieren. Je nach individueller Anlage und sozialem Umfeld wird -um es in den jeweiligen Extremen zu formulieren -entweder spielerisch der Weg in die Freizeit-und Erlebnisgesellschaft gebahnt oder der Rückzug in autistische Versuche der Selbstvergewisserung vorgezeichnet.

V. Unterhaltung als soziale Einbindung

Diese moderne Gefährdung des Sozialen wird noch deutlicher, wenn man sich näher mit dem zweiten hier thematisierten Begriff, dem der Unterhaltung, beschäftigt.

Im Begriff Unterhaltung steckt das Unter-Halten. Wer sich unterhält, hält sich unter, ergreift quasi symbolisch einen Arm, um sich leicht zu stützen. Wer Unterhaltung sucht, sucht die Gemeinsamkeit mit anderen, nicht die freie Zeit, die im Zweifel auch alleine verbracht werden kann, sondern das gemeinsame Sich-Unter-Halten. In der sozialen Zuwendung zum anderen, im Prozeß des Sich-Unter-Haltens wird Nöten, Ängsten, Besorgtheiten, Anspannungen und Verärgerungen die Wichtigkeit genommen, wird das innere und äußere Gleichgewicht wiederhergestellt.

Spüren wir dieser Bedeutung von Sich-Unter-Halten nach, dann merken wir, daß Unterhaltung aut Gemeinsamkeit, ja Gemeinschaft ausgerichtet ist. Wer sich unterhalten möchte, sucht das Soziale, er oder sie wünscht Erleichterung in der seelisch-emotionalen Gemeinsamkeit mit anderen. Sich unter-halten zu können ist also ein auf soziales Handeln und soziale Unterstützung gerichtetes menschliches Grundbedürfnis.

Unterhaltung in der Mediengesellschaft hat sich noch viel von dieser Bedeutung bewahrt. Aus Nutzungsstudien wissen wir, wie sehr Medienkonsum zur Entspannung, zum Abspannen, zur Konfliktneutralisierung und zur Streßbewältigung genutzt wird. Und dennoch sind entscheidende Änderungen eingetreten: Wo Medien funktional die Rolle des Unterhalters bekommen, halten wir uns nicht mehr unter, sondern wir werden unterhalten, wir lassen uns unterhalten. Aus einer an wechselseitige soziale Teilhabe gebundenen Aktivität wird eine körperlich passive Konsum-oder Rezeptionshaltung. Dies war schon so mit dem Buch. Das zeitliche Ausmaß, in dem jedoch in der Mediengesellschaft die elektronischen Medien für Unterhaltungszwecke genutzt werden, schafft eine neue Qualität. An die Stelle der sozialen Interaktion tritt zunehmend eine individualisierte Konsumhaltung; ein Apparat und dessen Programm erhält die Funktion einer körperlich-seelisch-geistigen Lebenshilfe. Die ungeheure Popularität der Talk-Shows, die täglich über mehrere Stunden über die Kanäle flimmern, belegen mit ihren Alltagsthemen und Alltagssorgen ein gesellschaftlich und individuell tiefgreifendes Bedürfnis nach Unterhaltung im Sinne des sozialen Unter-Haltens

Doch Zugang und Verfügbarkeit geschehen auf Knopfdruck. Weder bedarf es der Wechselseitigkeit noch der Einbindung in soziale Netzwerke oder der Pflege von Freundschaften, um den gewünschten Effekt zu erreichen. Unterhaltung frei Haus ohne Gegenleistung ist die neue Form, die die Mediengesellschaft für ein altes Bedürfnis bietet. Indem es zu funktionieren scheint, verschafft es nicht nur Entlastung und Erleichterung dort, wo anders ein Unter-Halten nicht möglich ist, sondern schafft auch bequeme Gewohnheiten, die der tieferen Bedeutung des Sich-Unter-Haltens eher abträglich sind. So verlieren die sozialen Netze und Verbindlichkeiten scheinbar an Notwendigkeit und damit an Bedeutung und Wirkkraft Das Soziale wird per Knopfdruck aus dem Apparat geholt.

Selbst da, wo Unterhaltung nicht in der Mensch-Maschine-Kommunikation gesucht, sondern in Sport, Raves oder Love-Parades genossen wird, scheinen sich Muster des sozial Unverbindlichen auszubreiten. Beim Sport setzen sich vor allem Sportarten durch, die ohne den anderen auskommen, vom Mountainbike und Surfen bis hin zum Drachenfliegen oder Bungiespringen. Bei Raves entsteht zwar im Rhythmus der vielen Körper ein Gefühl der Gemeinsamkeit, die Musik aus den Megaboxen gibt den Takt für die gemeinsame Aktion des Tanzens; das Tanzen selbst findet als individualisierte und nur sehr bedingt auf den anderen bezogene Aktivität statt. Ebenso bei der Love-Parade; Love als Ereignis, das sich im Beat der Boxen stimulieren läßt und als freifloatende Gefühlslage in der Masse der Gleichgesinnten auf die Verbindlichkeit gegenüber einem Du verzichten kann. Auch hier also eine Doppelbewegung: Aus dem Sich-Unter-Halten erwächst offenbar immer mehr das Ausleben eines individualisierten Erlebnishungers oder das passive Unterhalten-werden. Wo letzteres der Fall ist und wo die mediale Zufütterung des Sozialen zur unverzichtbaren Gewohnheit geworden ist, ist das Stadium der Sucht erreicht.

VI. Sucht und Suchen

Sucht kommt von Suchen. Wo das Suchen pervertiert ist, wo aus dem Suchen eine selbstzerstörerische Handlung geworden ist, da sprechen wir von Sucht. Sie richtet sich auf ein Suchtmittel im Außen, von dessen Einverleibung Heilung des Suchens erhofft wird. Doch statt Heilung geschieht Zerstörung.

Suchen ist zutiefst menschlich. Wo immer ein Mangel in einem der vitalen Grundbedürfnisse auftritt, wird die Kraft des Suchens geweckt. Sie richtet sich auf die Beseitigung des Mangels, damit ein verlorenes äußeres oder inneres Gleichgewicht wiederhergestellt werden kann.

Der Psychologe Abraham Maslow hat aufgrund umfangreicher Studien eine hierarchische Pyramide von menschlichen Grundbedürfnissen aufgestellt. Wird eines dieser Bedürfnisse grundlegend verletzt, so versetzt dies den ganzen Menschen körperlich, seelisch und geistig in eine Suchbewegung, die so heftig werden kann, daß sie ihn quasi besetzt. Die grundlegendsten Bedürfnisse liegen nach Maslow im physiologischen Bereich und hier insbesondere in der Nahrungsaufnahme. Wird der Hunger nicht befriedigt, erfolgt eine Konzentration aller Kräfte auf die Stillung dieses Bedürfnisses: „Alle Fähigkeiten werden in den Dienst der Hungerbefriedigung gestellt, und die Organisation der Fähigkeiten wird fast vollständig von dem einen Zweck, den Hunger zu stillen, determiniert.“ Ist ein Grundbedürfnis jedoch befriedigt, ist der Prozeß des Suchens nicht zu Ende: „Sofort tauchen andere (und höhere) Bedürfnisse auf, und diese, mehr als physiologischer Hunger, beherrschen den Organismus. Und wenn diese ihrerseits befriedigt sind, kommen neue (und wiederum höhere) Bedürfnisse zum Vorschein, und so weiter. Dies ist, was wir mit der Behauptung meinten, daß die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse in einer Hierarchie der relativen Vormächtigkeit organisiert sind.“

Anschaulich hat Ursula Nuber die Bedürfnispyramide nach Maslow in eine Graphik gebracht (s. Seite 42).

Die Bedürfnisse reichen von den grundlegenden biologisch-physiologischen bis hin zu dem Bedürfnis nach Transzendierung der eigenen Existenz und dem Gefühl des Eingebundenseins in ein kosmisches tragendes Ganzes. Nach vedantischer Philosophie Indiens („Vedanta“ bezeichnet die Texte, die die philosophisch-spirituelle Grundlage der indischen Kultur sind) wird der Mensch so lange wiedergeboren, bis er sich in seinem Verlangen nach Bedürfnisbefriedigung schließlich auf die Suche nach Gott macht, bis er also bei dem letzten Grundbedürfnis menschlicher Existenz angelangt ist und damit den Weg zur Transzendierung des Ich zum kosmischen Selbst finden kann. Die abendländische Psychologie, die nicht von der Lehre der Wiedergeburt ausgeht, bezieht konzeptionell die Hierarchie der Bedürfnisbefriedigung nur auf ein Menschenleben. Dabei lassen sich die individuelle und die kollektive Ebene unterscheiden.

Individuell läßt sich feststellen, daß das Voranschreiten zur nächsten Bedürfnisebene um so leichter fällt, je besser die vorangehenden Bedürfnisse befriedigt wurden; auch die Frustrationstoleranz ist um so höher, je vollständiger ein Bedürfnis immer befriedigt wurde Je mehr Sicherheit etwa ein Kind erfahren hat, desto größer ist das „Urvertrauen“ das auch durch unsichere Lebenssituationen trägt. Je unverletzter sich das Selbstwertgefühl entwickeln durfte, desto weniger anfällig ist ein Mensch für Kränkungen und Verletzungen'die andere willentlich oder unwillentlich ihm zufügen, und so fort.

Umgekehrt heißt dies aber auch, daß bedrohliche Mangelerscheinungen bei grundlegenden Bedürfnissen einen Menschen außerordentlich unfrei machen können. Die gesamte körperlich-seelisch-geistige Energie ist dann darauf gerichtet, den Mangel oder den drohenden Mangel nicht in das Erleben treten zu lassen. Der Griff zum Suchtmittel verspricht die rasche Behebung eines seelisch empfundenen Mangels. Die Varianz dieser Mittel ist schier unbegrenzt: Nahrung, die unmäßig einverleibt werden kann, Alkohol und Drogen, die in Rauschzustände versetzen, Tranquilizer oder Psychopharmaka, die das Denken und Fühlen dämpfen. Aber auch Medien können als Suchtmittel fungieren, dort wo ihr Gebrauch zwanghaft geworden ist, wo die individuelle Freiheit der Selektion nicht mehr gegeben ist. Das gilt für das Telefon, das der Telefonforscher Ulrich Lange den „schnellen Schluck aus der Pulle“ nennt, ebenso wie für das Fernsehen, dessen ständige Präsenz für viele längst zum Suchtmittel geworden ist, oder für den Computer, an den sich der Spieler oder Surfer in einem zwanghaften Nutzungsverhalten gebunden hat. Wo immer es zum Suchtverhalten gekommen ist, wäre zu fragen, auf welcher Ebene nicht-gestillte Grundbedürfnisse verkapselt wurden und wie die Kraft des Suchens auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse gelenkt werden kann, statt sie in der Sucht, versacken und , versaufen zu lassen.

Kollektiv stellt sich der Zusammenhang von Sucht und Suchen nicht unähnlich dar: Was sind die Spezifika der hochindustrialisierten Länder des Westens in bezug auf die Befriedigung und/oder Frustration wesentlicher Grundbedürfnisse? Der Soziologe Ronald Inglehart hat als erster von der heute vorherrschenden Existenz postmaterialistischer Werte innerhalb der westlichen Industriegesellschaften gesprochen. Dieses Konzept läßt sich gut mit den Erkenntnissen von Maslow verbinden: Postmaterialistische Werte tauchen auf, wenn die biologisch-physiologischen und materiellen Bedürfnisse befriedigt sind. Insofern müßte der Weg frei sein für die höheren Ebenen der Maslowschen Bedürfnispyramide. Doch das ist offenbar kollektiv bislang nicht der Fall. Die Sinnbestimmung unserer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaften weist weder individuell noch kollektiv auf höhere Ebenen der Bedürfnisbefriedigung. Ganz im Gegenteil: Statt den Menschen in die postmaterielle Freiheit zu entlassen, fordert die Funktionslogik des Wirtschaftssystems, ihn weiterhin an materielle Werte zu binden. Nichts ist derzeit aus der Sicht der Wachstumsökonomien schlimmer, als wenn Menschen sich dem Konsumismus verweigern.

Dennoch erweist sich die Bindung von Menschen an materielle Güter bzw. die materialistische Grundorientierung unserer Gesellschaften nicht als ungebrochen. Nicht zuletzt zeigt sich dies an der weitverbreiteten Suche nach Selbstverwirklichung, der Überschreitung persönlicher Grenzen und einer Suche nach spirituellem Sinn, der die etablierten Volkskirchen in Alarmstimmung versetzt. So fehl-und mißgeleitet solche Aufbrüche im einzelnen sein mögen, so wenig sie auf eine gesellschaftlich akzeptierte „Kultur der Selbst-sorge“ (Michel Foucault) zurückgreifen können, so sehr deuten dennoch solche Aufbrüche und Grenzüberschreitungen an, daß unsere Epoche erneut eine „Spiritualität der Sehnsucht“ hervorbringt.

Wo im Individuum die natürliche Aufwärtsbewegung der menschlichen Bedürfnisbefriedigung blockiert bleibt, da ist die Schattenseite dieses Prozesses auszumachen. Die Grundlagen für solche Blockierungen werden vor allem im Elternhaus und in der Kindheit gelegt. Deswegen sind die Verwerfungen im Privaten und Persönlichen, die in wachsenden Scheidungszahlen, Vernachlässigung von Kindern und grassierender Einsamkeit im privaten Alltag sichtbar werden, in besonderem Maße geeignet, um Suchtphänomene zu erzeugen. Die Kraft der Seele, sich suchend das zuzuführen, was sie für ihre Entwicklung braucht, wird zuerst blockiert. Richtet sich das Suchen dann auf ein Suchtmittel, an das eine zwanghafte Bindung entsteht, dann wird der Weg in die Sucht solange beschritten, bis schließlich die Konfrontation mit dem Leid dazu führt, sich den wirklichen Bedürfnissen zuzuwenden.

Die Mediengesellschaft stellt ein bislang nicht existierendes Arsenal von Suchtmitteln zur Verfügung. Es sind Mittel, die florierende Industrien hervorbringen, Kapitalbewegungen größten Ausmaßes provozieren und im Budget jedes Haushalts inzwischen erheblich zu Buche schlagen. Nahrung, in Maßen genossen, erhält uns am Leben, und wenn es die richtige ist, auch bei Gesundheit; Alkohol, in Maßen getrunken, kann für Körper und Seele höchst wohltuend sein; dasselbe gilt für (fast) alle anderen Suchtmittel: Wird der Umgang mit ihnen gelernt und beherrscht, so verlieren sie ihre Gefahr; sie werden individuell und kollektiv bewältigt. Wenn menschliche Grundbedürfnisse, die sich auf Sicherheit, emotionale und soziale Einbindung und Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls richten, nicht oder nur unzureichend befriedigt werden, kann die Sogwirkung der Medien ansetzen. Ihre ständige Verfügbarkeit und gesellschaftliche Akzeptanz erleichtern einen suchtartigen Umgang mit ihnen. Wenn die Gebrauchsanweisung für einen Modem, mit dessen Hilfe das Surfen im Internet möglich wird, bereits einen Hinweis auf Suchtgefahren enthält dann wird hier nur die Spitze des Eisbergs für Suchtgefahren sichtbar. Es ist eine Gefahr, die sich im Zusammenhang mit jedem Medium ergibt, das ständig verfügbar ist, dessen Nutzung intensive Gefühle erzeugt und das Zugang zu parasozialen Freunden oder Möglichkeiten für parasoziale Interaktionen eröffnet. Die Suche nach Bedürfnis-befriedigung, die sich von der Grundbefindlichkeit des Menschen zutiefst auf das Personale und Transpersonale richtet, wird in einem solchen Fall auf die Medien kanalisiert. Das Bedürfnis wird medial aufgesogen, jedoch nicht aufgehoben.

Ein vorläufiges Fazit zu den Phänomenen Spiel, Unterhaltung und Suchen sei an dieser Stelle erlaubt: Spiel, Unterhaltung und die Suche nach Bedürfnisbefriedigung erfüllen für den Menschen vitale Funktionen. Während das Spiel vor allem Möglichkeiten der Selbstvergewisserung und Selbstüberschreitung eröffnet, ebnet das Sich-Unter-Halten den Weg in die soziale Einbindung. Daß dies nur einen Ausschnitt menschlicher Grundbedürfnisse umfaßt, zeigt sich, wenn man die Grundtatsache des Suchens mit der hierarchisch angeordneten Pyramide menschlicher Grundbedürfnisse zusammendenkt, die Maslow aufgrund zahlloser Untersuchungen gefunden hat. Die Suche nach Selbstverwirklichung und nach Transzendierung des eigenen Seins, das, was der große Wiener Psychotherapeut Viktor Frankl auch als die Suche nach dem Sinn herausgearbeitet hat, geht noch über die Bedürfnisse nach Sicherheit und sozialer Einbindung hinaus. Die Psychologie lehrt, daß die Frustrationstoleranz von Menschen sehr ungleich verteilt ist und daß eine unzureichende Bedürfnisbefriedigung zu existentiellen Gefährdungen führen kann. Hier ist das Einfallstor für Suchtphänomene, auch solcher, die sich auf den Gebrauch von Medien richten.

Medien sind Kontakt-und Kommunikationsangebote. Sie verschaffen uns Zugang zu weitentfernten Menschen; sie stehen jederzeit zur Verfügung, wenn die Bedürfnisse nach Liebe und sozialer Einbindung im unmittelbaren Umfeld nicht befriedigt werden können; sie liefern uns parasoziale Freunde oder Interaktionspartnerinnen und -partner, sie sind stets da, stets zu Diensten, kritisieren nicht und fordern nichts; man kann mit ihnen kämpfen, man kann an ihnen leiden; sie können in Hochstimmung versetzen und Lust bereiten -all das, was ohne Medien auch möglich ist, doch um den Preis einer größeren Aktivität der Seele und der Bereitschaft, sich selbst im Kontakt zu anderen Menschen zu wagen.

So fördern Medien in der Art, wie sie heute zur Verfügung stehen, eine narzistische Erweiterung des Ich, eine Überhöhung, die die Züge der Ego-manie annehmen kann. Mit ihren individualisierten Nutzungsmöglichkeiten entheben sie der Notwendigkeit (im Sinne einer nötigen Wende), das Suchen auf das zu kanalisieren, was der wirklichen Bedürfnisbefriedigung dient.

Medienkompetenz, wie sie heute von Politikern gefordert wird, bezieht sich in aller Regel nur auf den instrumentellen Umgang mit Medien. Solche Verengung des Verständnisses von Medienkompetenz entbehrt des Wissens um den inneren Zusammenhang von Persönlichkeitsentwicklung und Medienkompetenz. Je ausreichender die Persönlichkeit gefestigt ist, das heißt, je besser sie in ihren wesentlichen Grundbedürfnissen Befriedigung erfahren hat, desto weniger anfällig wird sie für die Sogwirkung der derzeitigen Medienwelten sein und desto eher wird sie die Kraft zu Selektion und förderlichem Umgang mit Medien haben. Dies wirft die Frage nach einem Konzept der Persönlichkeitsentwicklung auf, das den derzeitigen Herausforderungen der Mediengesellschaft besser gerecht wird. Die letzten Arbeiten des Philosophen Michel Foucault, die sich mit der „Kultur der Selbstsorge“ befaßt haben, scheinen mir hierfür einen vielversprechenden Ansatz zu bieten.

VII. „Kultur der Selbstsorge“

Foucaults Interesse richtete sich in den wesentlichen Schaffensperioden auf die Unterdrückungsmechanismen wichtiger gesellschaftlicher Organisationen/Institutionen wie der Psychiatrie oder des Strafwesens. Er wollte wissen, wie derartige Institutionen die Freiheit der Individuen beschneiden.

Erst kurz vor seinem Tod hat er seinen Fragen eine neue Richtung gegeben Ihn interessierte nun, was den Menschen zur Freiheit befähigt. An die Stelle der Herrschaftsperspektive trat also die subjektorientierte Perspektive. Dahinter dürfte auch die Erkenntnis gestanden haben, daß der Beschneidung der Freiheit letztlich nur die Freiheit des Ich entgegengestellt werden kann. Bei seiner Suche stieß er auf das Konzept der Selbstsorge (souci de soi), dessen Ursprünge er im griechischen und römischen Kulturraum mit archäologischer Akribie freigelegt hat.

Der Frage nach der Sorge um das Selbst geht die Frage nach dem Selbst voraus. Unter Rückgriff auf deren erste bekannte Ausformulierung in Platons Alkibiades stellt er ein Beispiel eines Konzeptes der Selbstsorge vor: „Wenn du Sorge um deinen Körper trägst, dann ist das keine Sorge um dich selbst. Das Selbst ist nicht Kleidung, Werkzeuge, Besitztümer. Es findet sich in dem Prinzip, das die Werkzeuge in Gebrauch nimmt, einem Prinzip der Seele und nicht des Körpers. Man muß auf seine Seele Sorgfalt verwenden -das ist die zentrale Aktivität der Sorge um sich selbst. Die Sorge um das Selbst ist die Sorge um die Aktivität, nicht die Sorge um die Seele als Substanz. " Welche Art von Aktivität Alkibiades damit meint, verdeutlicht Foucault: „Die Seele vermag sich

nur erkennen, sie zu selbst dann wenn sich in einem betrachtet. ähnlichen Element, einem Spiegel Also muß sie das Göttliche betrachten. In der Betrachtung Götter entdeckt die Seele Regeln, welche die Grundlage für gerechtes Tun und politisches Handeln " bilden können.

Rechtes Handeln, in welchem Bereich des menschlichen Daseins auch immer, impliziert in diesem Sinne einen Prozeß der Selbstsorge, der auf eine Transformation des Menschen durch Annäherung an sein göttliches Selbst abzielt. Das spirituelle Bedürfnis, das, was Maslow als das oberste auf der Bedürfnispyramide angesiedelt sieht, hat -so ließe sich hier folgern -also die Kraft der Orientierung für alle anderen Bedürfnisse und deren Befriedigung. Mit dieser Auffassung sind wir dem Konzept der Psychosynthese des im deutschsprachigen Kulturraum immer noch wenig bekannten Roberto Assagioli nahe. Assagioli Zeitgenosse von Sigmund Freud, C. G. Jung und A. Adler, hat stärker als alle anderen Vertreter der Tiefenpsychologie die Theorie des Überbewußtseins und des Selbst ausformuliert. Überwindung von seelisch-geistiger (und körperlicher) Krankheit wird für ihn dann möglich, wenn der Mensch seine verschiedenen Teilpersönlichkeiten unter die ordnende Kraft des Selbst und des Überbewußten stellt. Während die Teilpersönlichkeiten -um mit Maslow zu sprechen -aus den Kränkungen menschlicher Grundbedürfnisse entstanden sind, die im „tieferen“ und „mittleren“ Unbewußten vagabundieren, stehen im Überbewußtsein Erfahrungen des Glücks, des Friedens, der Einheit und der Harmonie zur Verfügung, die für das Bewußtsein aktivierbar sind. Die Integration der Teilpersönlichkeiten unter die Führung des Selbst setzt die Erfahrungen des Überbewußtseins frei und ermöglicht wirkliche Heilung, Maslow würde sagen: wirkliche Bedürfnisbefriedigung.

Daß dies nicht ohne menschliches Zutun möglich ist, wußte man schon im antiken Griechenland. Deswegen forderten und förderten die Griechen im Sinne der Kultur der Selbstsorge die „Technologien des Selbst“. Foucault nennt einige von ihnen. Dazu gehören ein Umgang mit Zeit, der die Selbstsorge überhaupt erst ermöglicht: ein paar Augenblicke am Tag oder mehrere Wochen oder Monate im Jahr sich zurückzuziehen -eine aktiv in man studierte, gestaltete Mußezeit, der las, sich auf ein Unglück oder den Tod vorbereitete die Askese (körperlich, in der Ernährung und in vielem anderen mehr die Hinwendung innen das Horchen Regungen nach und auf die der Seele sowie der Selbstausdruck in Form des schreibenden Innehaltens, „um die Wahrheiten, deren man bedurfte, für sich selbst reaktivieren zu können“

Der politische Bezug dieses Konzepts der Selbst-sorge geht aus der Tatsache hervor, daß in den Vorstellungen der Griechen und Römer nur der ein guter Staatsmann sein konnte, der in diesem Sinne einer Kultur der Selbstsorge folgte. Es handelt sich also nicht um ein privatistisches oder individualistisches Konzept, das letztlich einem Egoismus zuarbeitet, sondern um ein zutiefst soziales und politisches Konzept (wiewohl damals nur der herrschenden Oberschicht vorbehalten): Die Sorge um sich selbst war nicht konträr zur sozialen Verantwortlichkeit. Folgt man dem Beispiel von Alkibiades, so wurde erst im Dialog mit den Göttern der Weg zum rechten Tun gefunden.

VIII. Ausblick

Versucht man nun, das Konzept der Selbstsorge auf die heutige Zeit, den Umgang mit Medien und die Frage der Medienkompetenz und der Demokratiefähigkeit zu beziehen, so lassen sich daraus eine Reihe von Anregungen ableiten:

-Selbstsorge kann als Konzept der Persönlichkeitsentwicklung verstanden werden, das zu einem kompetenten Umgang mit Medien führt. -Solche Selbstsorge findet ihre orientierende Kraft in dem grundlegendsten und zugleich in der Hierarchie menschlicher Grundbedürfnisse am höchsten angesiedelten Bedürfnis, dem nach Transzendierung des Ich. Es ließe sich auch als die Suche nach geistiger Transformation, nach Transzendenz, allumfassender Liebe, Gott, verstehen.

-Das Konzept der Selbstsorge kann eine wesentliche Hilfe darstellen, um mit der Sogwirkung der Medienangebote so umzugehen, daß sie ihres suchterzeugenden Charakters enthoben werden und die Bedürfnisse nach Spiel (Selbstüberschreitung) und Unterhaltung (soziale Einbindung) gelebt werden können. -Selbstsorge erfordert bzw.setzt Technologien voraus, die die Begegnung mit dem Selbst ermöglichen. Die Hinwendung nach innen und das Schaffen von Bedingungen, die diese Hin-wendung erlauben und für spätere Zeiten erinnerbar machen, ist dabei vordringlich. -Selbstsorge in diesem Sinne erzwingt einen sparsamen und selektiven Gebrauch von Medien, damit deren Kontakt-und Beziehungsangebote der Hinwendung nach innen eher förderlich als abträglich sind.

-Selbstsorge ist somit Voraussetzung von Medienkompetenz und impliziert diese zugleich.

Sie erweist sich damit als eine notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung für eine demokratische Kultur in einer Medien-gesellschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bernd-Peter Lange/Harald Kapski/Annette Hillebrand/Peter Seeger, Einrichtung eines europäischen Zentrums für Medienkompetenz (EZfM) und Initiierung eines Netzwerkes in NRW. Werkstattbericht: Konzept und weitere Arbeitsschritte, Düsseldorf 1996 (unveröff., 2., überarb. Fassung), S. 15.

  2. Vgl. Barbara Mettler-v. Meibom (unter Mitwirkung von Monika Pater und Anja Kolshofer), Handlungsstrategien von Müttern bei ausuferndem Medienangebot oder: „Jetzt muß man immer diskutieren, wie und warum nicht“. Arbeits-und Orientierungshilfen für Familienbildung, hrsg. vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1995.

  3. Vgl. Bernd Schorb, Medienalltag und Handeln. Medien-pädagogik in Geschichte, Forschung und Praxis, Opladen 1995, 229 ff.

  4. Ebd., S. 229.

  5. Ebd.

  6. Klaus Meyer-Abich, Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt, München 1990.

  7. Vgl. Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt am Main 1986, sowie ders., Die Sorge um sich, Frankfurt am Main 1986.

  8. Vgl. Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1938), Reinbek 1994.

  9. So lautet der Untertitel des „Forums Spiel mit im Spiel“, das das Spiel als initiatisches Medium der individuellen Transformation lehrt und Vgl. Barbara Mettlerv. Meibom, Schau-Spiel als Weg. Eine Initiatische Kunst-therapie (i. E.).

  10. Vgl. Susanne Fittkau/Holger Maaß, Das deutschsprachige World Wide Web. W 3B-Ergebnisband, Hamburg 1996.

  11. Vgl. Waldemar Vogelgesang, Virtuelle Robinsonaden, in: Universitas, 51 (1996) 600, S. 540-552; Howard Rhein-gold, Virtuelle Gemeinschaft, Bonn u. a. 1994. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von W. Vogelgesang in diesem Heft.

  12. Vgl. Barbara Mettler-v. Meibom (Hrsg.), Einsamkeit in der Mediengesellschaft, Münster 1996 (bes. Teil III u. Anhang).

  13. Vgl. Gary Bente/Bettina Fromm, Affektfernsehen. Motive, Angebotsweisen und Wirkung. Zwischenbericht zum Forschungsprojekt im Auftrag der Landesanstalt für Rundfunk: Psychologisches Institut, Universität zu Köln 1996.

  14. Vgl. Martin Diewald, Soziale Beziehungen: Verlust oder Liberalisierung? Soziale Unterstützung in informellen Netzwerken, Berlin 1991; Frank Schimmel, Informelle soziale Netzwerke und Telefonkommunikation. Überlegungen zu einem ungeklärten Verhältnis. Unveröff. Magisterarbeit an der Univ. GH Essen 1995.

  15. Abraham H. Maslow, Motivation und Persönlichkeit (1954), Reinbek 1996, S. 64.

  16. Ebd., S. 65.

  17. Vgl. Ursula Nuber, Die Wiederentdeckung der Geborgenheit, in: Psychologie Heute, 22 (1995) 12, S. 22.

  18. Vgl. A. Maslow (Anm. 15), S. 65.

  19. Vgl. Erik Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Zürich 1957; ders., Jugend und Krise, Stuttgart 1974.

  20. Vgl. Ulrich Lange, Telefonkommunikation im privaten Alltag und die Grenzen der Interpretation, in: Sibylle Meyer/Eva Schulze (Hrsg.), Technisiertes Familienleben, Berlin 1993, S. 203-232.

  21. Klaus Eurich, Die Kraft der Sehnsucht, München 1996.

  22. „Wer beim Nachschlagen im Lexikon dazu neigt, an ganz anderen Artikeln als dem ursprünglich gesuchten hängenzubleiben, und irgendwann sogar den eigentlichen Anlaß, um nach dem Lexikon zu greifen, aus den Augen verliert, gehört zur Risikogruppe. (...) Wer sich also bei online-Streifzügen durch Mailboxen und Datendienste gerne in der unüberschaubaren Vielzahl von Angeboten verliert, riskiert den wirtschaftlichen Ruin, der ihn unter Umständen sehr schnell in Form der Telefonrechnung ereilt.“ Computer Software Manuals: BZT-Faxmodem Benutzerhandbuch, bearb. von Jürgen Jakobi/Christian Schmitz-Moormann, Bayreuth 1994, S. 87 f.

  23. Vgl. Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, Frankfurt am Main 1987 (4., durchges., verbesserte und ergänzte Auflage).

  24. Vgl. Wilhelm Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neu-begründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt am Main 1991.

  25. Michel Foucault, Technologien des Selbst, in: H. Martin Luther/Gutman Huck/Patrick H. Hutton (Hrsg.), Technologien des Selbst, Frankfurt am Main 1993 (amerik. 1988), S. 24-62, hier: S. 35.

  26. Ebd.

  27. Vgl. Roberto Assagioli, Psychosynthese (1965), Reinbek 1993; Piero Ferruci, Werde was du bist. Selbstverwirklichung durch Psychosynthese, Reinbek 19942.

  28. Vgl. M. Foucault (Anm. 25), S. 37.

  29. Vgl.ders., Die Sorge um sich (Anm. 7), S. 69 ff.

  30. Ders. (Anm. 25), S. 37.

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Barbara Mettler-v. Meibom, Dr. phil., geb. 1947; seit 1989 Universitätsprofessorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Kommunikation und Medien an der Universität GHS Essen. Forschungsschwerpunkte: Informations-und Kommunikationstechniken, Medien und Alltag, Lebensstile, Kommunikationsökologie. Veröffentlichungen u. a.: Soziale Kosten der Informationsgesellschaft, Frankfurt am Main 1987; (zus. mit Barbara Böttger) Das Private und die Technik, Opladen 1990; (Hrsg. zus. mit Christine Bauhardt) Nahe Ferne -fremde Nähe, Berlin 1993; Kommunikation in der Mediengesellschaft, Berlin 1994; (Hrsg.) Einsamkeit in der Mediengesellschaft, Münster 1996; (Hrsg.) Alltagswelten. Erfahrungen -Sichtwechsel -Reflexionen, Münster 1996; Die kommunikative Kraft der Liebe (i. E.); Schau-Spiel als Weg. Eine initiatische Kunsttherapie (i. E.).