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50 Jahre Israel: Versuch einer historischen Bilanz | APuZ 14/1998 | bpb.de

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APuZ 14/1998 50 Jahre Israel: Versuch einer historischen Bilanz Geschichte umschreiben: Was ist Zionismus? Perspektiven der Holocaust-Rezeption in Israel und Deutschland Von Lausanne nach Oslo Zur Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts

50 Jahre Israel: Versuch einer historischen Bilanz

Michael Wolffsohn

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der hier unternommene Versuch einer historischen Bilanz beschränkt sich auf folgende Schwerpunkte: die militärisch bedingte wechselvolle politische Geographie Israels, seine Außen-, Innen-und Gesellschaftspolitik im Spannungsfeld von Religion, regionaler Herkunft und im Rahmen der Distanz zwischen Juden und Arabern sowie Kontinuität und Wandel des zionistisch-israelischen Selbstverständnisses mit Auswirkungen auf die jüdische Diaspora. Die politische Geographie Israels blieb höchst dynamisch, das heißt, die faktischen Staatsgrenzen änderten sich oft beträchtlich, sowohl militärisch erweiternd (1948/49, 1967, 1973, 1978, 1982) als auch wieder politisch verkleinernd (1974/75, 1982, 1985). In der Außenpolitik konnte die ursprünglich beabsichtigte Blockfreiheit nicht verwirklicht werden. Die Sowjetunion sicherte zwar bis zum August 1948 durch Waffenlieferungen Israels Existenz, vollzog jedoch ab Herbst 1948 eine antizionistische Wende, die sowohl regional-als auch innenpolitisch motiviert war. Israels Westorientierung seit dem Koreakrieg war die natürliche Folge. Sie wurde auch wegen der amerikanischen Juden vollzogen, entsprach aber nicht den Hoffnungen der Staatsgründer. Die Religionspolitik barg von Anfang an gefährlichen Sprengstoff für die israelische Innenpolitik. Sie löste die meisten Regierungskrisen aus. Dieser Kulturkampf hat sich seit 1977 verschärft. Er hängt mit der Herkunft vieler Juden aus arabischen Ländern eng zusammen, da die Israelis orientalischer Herkunft religiöser als die euro-amerikanischen sind. Die dritte Dimension der scheinbar „reinen“ Religionspolitik ist die Palästinenserfrage, in der die orientalisch-religiösen Bürger Israels erheblich härtere Positionen als die übrigen Bevölkerungsgruppen vertreten. Die Gesellschaft Israels ist und wird noch stärker jüdisch-arabisch, also binational. Diese Entwicklung dürfte -neben der religionspolitischen Offensive der israelischen Orthodoxie -die Entfremdung zwischen Israel und der jüdischen Diaspora verstärken. Um innergesellschaftliche Konflikte zu verhindern, ist eine Integration der palästinensischen Israelis unumgänglich.

Das „Jubeljahr“, das fünfzigste, kennen wir aus der Hebräischen Bibel. Grund zum Jubeln bestand durchaus, denn man wurde zum Beispiel wieder schuldenfrei, und Sklaven wurden in die Freiheit entlassen. Hat der moderne jüdische Staat, der am 14. Mai 1948 gegründet wurde, im Frühjahr 1998 auch Grund zum Jubeln? Welche Bilanz kann der Außenstehende ziehen? Der hier unternommene Versuch einer historischen Bilanz soll sich auf folgende Schwerpunkte beschränken: die politische Geographie Israels, seine Außen-, Innen-und Gesellschaftspolitik sowie Kontinuität und Wandel des zionistisch-israelischen Selbstverständnisses

I. Dynamische Geographie

Eindeutige Grenzen hatte Israel nie. Weder die biblischen, „von Gott verheißenen“, noch die historischen Grenzen Israels bestanden jemals lange oder standen unumstößlich fest. Auch die territorialen Ansprüche der zionistischen Bewegung sowie des Staates Israel wechselten. Als Israel 1948 gegründet wurde, war es ein Kleinststaat. Den meisten israelischen Parteien und Politikern fiel es schwer, sich mit diesem beengten Gebiet zu begnügen. Größere Gebiete fielen Israel zu, weil die arabische Welt sich jahrzehntelang auch mit diesem jüdischen Kleinstaat nicht abfinden wollte.

Das territorialpolitische Bekenntnis der zionistischen Maximalisten lautete: „Der Jordan hat zwei Ufer!“ Diese geographische Binsenweisheit beinhaltete politisch nicht nur den Anspruch auf das West-, sondern auch auf das transjordanische Ost-ufer des Flusses. Die Behauptung, Israel wolle das Gebiet zwischen Nil und Euphrat erobern, gehörte jedoch stets in den Bereich der politischen Legenden und Propaganda. Die israelischen Maximalisten haben ihr Ziel nicht erreicht. Sie teilen das Schicksal der arabischen Maximalisten, die Israel von der Landkarte tilgen wollten.

Ohne die Frage nach der Kriegsschuld klären zu wollen, stellen wir fest, daß Israels Territorium schon nach dem ersten arabisch-israelischen Waffengang im Jahre 1949 größer war als bei der Staatsgründung im Mai 1948. Mit diesen Grenzen hatte sich die überwältigende Mehrheit in Israel abgefunden. Die Wende kam im Juni 1967. Der Sechs-Tage-Krieg veränderte die geopolitischen Gegebenheiten völlig. Das geschah unerwartet, wobei Ägypten, Jordanien und Syrien seinerzeit unfreiwillig das Anliegen der wenigen noch verbliebenen territorialpolitischen Revisionisten Israels förderten. Diese bekamen fortan Aufwind. Durch den 1982 geführten Krieg gegen die PLO im Libanon hatte Israel dann ungefähr die Gebiete unter Kontrolle, die schon lange vor der Staats-gründung, im Jahre 1919, von der Zionistischen Weltorganisation gefordert worden waren.

Das lange Beharren der meisten arabischen Akteure auf der Wiederherstellung der jeweils vorangegangenen Grenzen ohne eine vorherige öffentliche, unzweideutige Anerkennung des israelischen Existenzrechtes bestärkte ebenfalls die „Falken“ in Israel und führte dazu, daß der jüdische Staat immer mehr arabisches Land kontrollierte. Erst die Bereitschaft arabischer Staaten und der von Arafat geführten Palästinenser, das Existenzrecht des jüdischen Staates anzuerkennen, bewirkte in Israel ein Umdenken und dann auch ein anderes Handeln, besonders in den Jahren 1992 bis 1996. Die territorialpolitische Kompromißbereitschaft der israelischen Öffentlichkeit war, gemessen an Umfragedaten, seit 1967 zunächst nicht sonderlich hoch, doch je nach Gebieten unterschiedlich stark ausgeprägt.

Den höchsten Stellenwert genießt traditionell das Westjordanland; eine Tatsache, die territorialpolitische Zugeständnisse Israels erschwerte. Eine Kompromißbereitschaft gab es unter den Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin und Shimon Peres in der Zeit von 1992 bis 1996. Die Israelis hatten sich lange auch an Scharm el-Scheich am Südzipfel der Sinai-Wüste geklammert. Im April 1982 wurde es trotzdem im Rahmen des im März 1979 geschlossenen Friedens mit Ägypten an den Nilstaat zurückgegeben. Ob aber das gesamte von und mit Juden wesentlich dichter besiedelte Westjordanland ohne Bürgerkrieg aufgegeben werden könnte, ist zweifelhaft, denn die heute rund 150 000 jüdischen Siedler wählen seit Jahren die politischen Parteien Israels, die sich gegen einen Gebietskompromiß stemmen. Sie würden die Legitimität und damit auch die Autorität einer Regierung bezweifeln und bekämpfen, die sich zu einem derartigen Schritt entschlösse. Der Regierung Rabin hatten sie diese Legitimität bereits abgesprochen, was schließlich zu seiner Ermordung geführt hat. Selbst Benjamin Netanjahu wurde schon als „Weichling“ beschimpft, weil er im Januar 1997 das Hebron-Protokoll abschloß, was zu einer Teil-räumung der Stadt führte.

II. Die Außenpolitik Israels

Auch im außenpolitischen Bereich bahnte sich durch die Ereignisse des Jahres 1967 für Israel ein grundlegender Wandel an; sichtbar wurde dies 1974. Angefangen hatte es ganz anders, für Israel wesentlich erfreulicher: Bei der Abstimmung in der Vollversammlung der Vereinten Nationen über die Teilung des britischen Mandats in Palästina standen im November 1947 zwei Drittel der damals unabhängigen Staaten auf der Seite der Gründungsväter Israels. Bis 1967 hatte sich die Zahl der unabhängigen Staaten besonders in der Dritten Welt vervielfacht. Sie schätzten durchaus die israelische Hilfsbereitschaft, wie zahlreiche erfolgreiche Entwicklungsprojekte dokumentieren. Doch diese neuen Staaten sympathisierten stets mit dem Unabhängigkeitsbestreben der Palästinenser. Daß Israel seit 1967 noch mehr palästinensische Menschen und Gebiete unter seine Kontrolle brachte, mißfiel ihnen grundsätzlich.

Abstimmungsniederlagen hatte Israel in den Vereinten Nationen schon seit 1949 oft hinzunehmen. Ab 1967 wurden sie prinzipieller und feindseliger, ab 1973, nach dem Ölschock, wegen der arabischen Petro-Dollars opportunistischer und massiver. Optisch sichtbar wurde Israels weltweite Isolierung im November 1974, als PLO-Chef Arafat vor der UN-Vollversammlung sprach. Das gleiche politische Forum, dessen überwältigende Mehrheit 1947 Israel unterstützt hatte, bejubelte 1974 Israels damaligen Todfeind. Wie jeder feststellen konnte, hatte sich Israels außenpolitische Umwelt dramatisch verändert. 1947 war diese Umwelt nicht heil, aber intakt, 1974 war sie weitgehend zerstört.

Das jüdisch-zionistische Gemeinwesen war bereits vor der Staatsgründung ein Fremdkörper im fast ausschließlich arabisch-islamischen Nahen Osten. Die Regionalpolitik Israels blieb somit fast ausschließlich militärisch bestimmt. Die kursangebenden, illusionslosen Politiker Israels errichteten um ihren Staat eine „Eiserne Wand“, von der ursprünglich Wladimir Jabotinsky gesprochen hatte. Zwar war der bürgerliche Jabotinsky der Erzrivale der eher sozialistischen Gründungsväter Israels, doch seine Doktrin wurde zweifellos übernommen: Weil die Araber Palästina ebenso liebten wie die Juden, würden sie ihre Heimat nicht kampflos aufgeben. Die Juden müßten um ihren künftigen Staat eine Eiserne Wand errichten. Die Araber würden immer wieder gegen diese Mauer anrennen, aber schließlich einsehen, daß es sinnvoller sei, sich mit dem jüdischen Staat abzufinden, meinte Jabotinsky. Auch derjenige, der Jabotinskys Überlegungen moralisch und politisch verwirft, wird nicht bestreiten können, daß dieser sowohl das israelische Vorgehen als auch das arabische Verhalten zutreffend vorhergesehen hatte. Ohne Eiserne Wand gäbe es kein Israel, hätte es keine allmähliche Anerkennung Israels und keine Abkommen mit Ägypten (1979), den Palästinensern (1993/94) und Jordanien (1994) gegeben. Soweit die Sichtweise von und aus Israel.

Die Sichtweise auf Israel lautet dabei ähnlich: Ohne eine Eiserne Wand, ohne den Jom-Kippur-Krieg (1973) und ohne die Intifada (1987) wäre wohl bei den politisch Verantwortlichen und der israelischen Gesellschaft auch nicht die Erkenntnis gewachsen, daß Kompromisse notwendig sind, wenn man Frieden will. Diese Einsicht wurde zwar nicht von allen, aber unter den Ministerpräsidenten Rabin und Peres doch weitgehend geteilt.

Nach der staatlichen Unabhängigkeit versuchte Israel, einen blockfreien Kurs zu steuern. Das geboten gesamtjüdische Rücksichten ebenso wie zionistische Hoffnungen. Sowohl in den USA als auch in der UdSSR lebten seit jeher Millionen von Juden. Ihre Existenz sollte nicht durch Spannungen mit Israel gefährdet werden. Außerdem hofften die zionistischen Gründungsväter, daß gerade aus diesen großen Diasporagemeinden zahlreiche Glaubensgenossen nach Israel einwandern würden. Tatsächlich strömten allein zwischen 1989 und 1997 rund 700 000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ins Land. Viele wären lieber in die USA oder nach Deutschland gezogen, doch die Amerikaner hatten 1989 eine Jahresquote von rund 40 000 russischen Juden beschlossen, und auch nach Deutschland ist Zuwanderung nur theo-retisch unbegrenzt. Seit 1990 kamen mehr als 40 000 ins ehemalige „Land der Mörder“.

In bezug auf die amerikanischen Juden gilt für Israel nach wie vor das Prinzip Hoffnung. So kamen nicht die liberalen und gemäßigten Juden, sondern die Groß-Israel-Fanatiker. Nicht alle waren so fanatisch und extrem wie Baruch Gold-stein, der im Februar 1994 unter muslimischen Gläubigen in Hebron ein Blutbad anrichtete, aber insgesamt hat das nationalistisch-religiöse Lager von dieser Einwanderungsgruppe am meisten profitiert. Dem Ausgleich zwischen Juden und Arabern war dies nicht förderlich.

Zurück zur Zeit des Kalten Krieges samt den beiden antagonistischen Blöcken: Wie andere neutrale Staaten, so konnte auch Israel realistischerweise keinen blockfreien Kurs steuern. Nach Ausbruch des Korea-Krieges entschied sich Jerusalem zugunsten des Westens, also der USA. Die Vorentscheidung war bereits im Herbst 1948 gefallen, als die Kremlführung ihren prozionistischen Kurs aus nationalitätenpolitischen, gesamtsowjetischen und blockorientierten Gründen sowie nah-ostpolitischen Prioritäten beendete. Damit entfiel für Israel die Hoffnung auf eine Masseneinwanderung russischer Juden.

Im Februar 1953, kurz vor Stalins Tod, brach Moskau die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab, um sie schon kurz darauf, im Juli 1953, wieder aufzunehmen. Für den Sechs-Tage-Krieg 1967 machte die Sowjetunion Israel allein verantwortlich und brach die diplomatischen Beziehungen erneut ab; die übrigen Staaten des Warschauer Paktes -außer Rumänien -folgten diesem Schritt. Mitte der achtziger Jahre, in der Amtszeit Gorbatschows, erkannte Moskau den 1967 begangenen Fehler: Man verfügte nur über Kontakte zu einer der beiden Seiten im arabisch-israelischen Konflikt. Die späte Korrektur sowjetischer Israelpolitik änderte natürlich nichts am Zusammenbruch des Kommunismus. Das nachkommunistische Rußland unterhält wie alle GUS-Staaten intakte Kontakte und Beziehungen zu Israel.

Anders als die Sowjetunion wurden die USA seit den siebziger Jahren zunehmend von beiden Seiten des Nahostkonflikts als Gesprächspartner akzeptiert -nicht immer ohne Grollen, auch nicht ohne israelisches Murren über die USA und amerikanisches Stöhnen über Israel. US-Außenminister James Baker verfluchte Anfang der neunziger Jahre die nahostpolitische Unnachgiebigkeit der Schamir-Regierung, und selbst der so proisraelische Präsident Bill Clinton biß sich seit 1996 die Zähne an Israels Premier aus und schien sich Anfang 1998 auf die Seite der Palästinenser zu stellen, weil Netanjahu und seine Regierung den weiteren Rückzug aus dem Westjordanland verringern und verzögern wollten.

Oft ist zu hören, Israel sei schon aufgrund seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit so etwas wie der 51. Staat der USA. Wer dies behauptet, übersieht wichtige Tatsachen: In dem, was Israel als „Lebensfragen“ bezeichnet, gelang es den USA kaum jemals, Jerusalem auf Washingtons Kurs zu bringen. Wenn es trotzdem einmal gelang, hatten die Amerikaner einen hohen Preis zu zahlen: 1973/74 verhinderten sie Israels totalen militärischen Sieg im Jom-Kippur-Krieg aus politischen Gründen und Eigeninteresse, und 1978/79 wurde mit amerikanischer Nachhilfe zwischen Israel und Ägypten das Abkommen von Camp David (17. September 1978) sowie der Friedensvertrag (26. März 1979) ausgehandelt. Der Preis zeigte sich sowohl in erheblichen palästinenserpolitischen Rücksichtnahmen gegenüber Israel als auch in Milliarden US-Dollar Subventionen. Israel ist eine brüllende Maus, die den amerikanischen Löwen durchaus erschrecken kann.

Daß dies Israel gelingt, liegt keineswegs nur am Einfluß und der Macht der legendenumwobenen Israel-Lobby, sondern vor allem an der Tatsache, daß die nichtjüdische Öffentlichkeit und die politische Klasse der USA davon überzeugt sind, in Israel einen wichtigen und zuverlässigen weltpolitischen Verbündeten zu haben. Zudem „mochte“ die amerikanische Öffentlichkeit traditionell Israel weit mehr als sämtliche arabischen Staaten oder die Palästinenser. Erst nach dem Sieg im Sechs-Tage-Krieg setzte sich diese Einschätzung unter weiten Kreisen der amerikanischen Bevölkerung durch.

Einige Beispiele mögen den Wandel bezeugen: Bis in die frühen sechziger Jahre hinein weigerte sich Washington, den Israelis Waffen zu liefern. Nachdem Frankreich 1967/68 ein Waffenembargo über Israel verhängt hatte, sprangen die USA helfend ein. In den frühen fünfziger Jahren kümmerte sich die US-Administration zum Beispiel mehr um die deutsche Wiederaufrüstung als um deutsche Wiedergutmachung bzgl.der Juden und Israel. Daß sich Bonn trotzdem dazu bereit erklärte, geschah freiwillig, ohne amerikanischen Druck. 1957 wäre ein israelischer Rückzug aus der während des Suez-Feldzuges (Oktober/November 1956) eroberten Sinai-Halbinsel ohne massive Nachhilfe von Eisenhower und Dulles nicht erreichbar gewesen, und noch die ersten Nahostideen der Nixon-Administration beinhalteten so weitreichende territorialpolitische Zugeständnisse Israels, daß Jerusalem sich von den USA im Stich gelassen fühlte. Der Jom-Kippur-Krieg sowie der Ölschock 1973/74 brachten endgültig die Wende. Seitdem unterstützt Amerika sowohl militärisch als auch politisch und wirtschaftlich Israel massiv, manche würden sagen: einseitig, und dies auch unter der Netanjahu-Regierung. Im Sommer 1997, als alle Welt über dessen Palästinenserpolitik empört war, entrüstete sich ein großer Teil der Clinton-Administration sowie der Kongreßabgeordneten über Arafats Autonomiebehörde. Sie habe in ihren eigenen Reihen nicht energisch genug terroristische Umtriebe bekämpft

In Israel weiß man sehr wohl, wie die politische und wirtschaftliche Unterstützung sowie die Versorgung mit amerikanischen Militärgütern zu interpretieren ist: Sie dokumentiert einerseits das globale und strategische Interesse der USA am jüdischen Staat; sie signalisiert andererseits die Tatsache, daß sich Israel im Ernstfall selber helfen müßte und an ein direktes amerikanisches Eingreifen kaum zu denken wäre. Höchstens ein Drittel der US-Bürger unterstützt seit Mitte der siebziger Jahre eine derartige Aktion -selbst „wenn Israel von den Arabern besiegt würde“. So gesehen, gehört die massive Hilfe an Israel auch zum Preis, den die USA zahlen müssen, um ohne einen Großeinsatz eigener Soldaten amerikanische Interessen im Nahen Osten wahrnehmen zu können. Zudem gab Israel Informationen über erbeutete und im militärischen Kampf erprobte sowjetische Waffen zum Nulltarif weiter. Heute ist Israel als Zusatz-partner der Beziehungen zwischen den USA und der Türkei von Bedeutung, was für die EU ein Ärgernis ist. Die Außenbeziehungen Israels zu anderen Staaten sind zwar -je nach Interessenlage und Betroffenheit -beachtenswert, sie sind jedoch deutlich nachrangig. Das gilt auch für das deutsch-israelische Verhältnis. Hauptadressat israelischer Außenpolitik war und blieb Washington.

III. Innenpolitik und Gesellschaft

Daß Israel trotz der ständigen, jahrzehntelangen Bedrohungen und der militärischen Abwehrmaßnahmen eine funktionierende Demokratie blieb, ist -nicht nur an der nahöstlichen Umwelt gemessen -eine große Leistung. Läßt man sich vom selbst erhobenen Anspruch des Zionismus leiten, ist diese Errungenschaft gleichwohl eine Selbstverständlichkeit. Zwei herausragende Bewährungsproben hat Israels Demokratie bestanden: Sie fing den Wandel der jüdischen Gesellschaft von einer aschkenasischen (d. h.deutschen, allgemein: europäischen) in eine aschkenasisch-orientalische institutionell, gesellschaftlich und auch kulturell auf. Diese Entwicklung verlief für alle Beteiligten nicht unproblematisch, doch insgesamt gelang der Wandel. Er führte am 17. Mai 1977 zum Wahlsieg von Menachem Begin und am 29. Mai 1996 zum Triumph von Benjamin Netanjahus Likud-Block. Ein regelrechter Machtwechsel wurde zweimal vollzogen, die große, demokratische Bewährungsprobe doppelt bestanden. Die weitgehend von aschkenasischen Israelis gebildete und gestützte sozialdemokratische Arbeitspartei wurde vom populistisch-nationalistisch-religiösen Lager abgelöst, das vor allem die traditionell zu kurz gekommenen und daher protestierenden orientalischen Juden gewählt haben. Mit ihrem Wahlzettel haben sie die Arbeitspartei und damit die aschkenasische „Aristokratie“ insgesamt seit 1977 (weniger, aber trotzdem auch bei den Wahlen von 1992) gestraft.

Als Israel gegründet wurde, waren die orientalischen Juden eine winzige Minderheit; Ende der achtziger Jahre bildeten sie die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Israels. 1991/92 kamen die russischen Juden, die eine neuerliche Aschkenasierung des Landes bewirkten. Sie wird nicht von Dauer sein, denn die orientalischen Juden sind kinderreicher. Gewiß, es gab und gibt zum Teil sogar beträchtliche Spannungen zwischen den beiden auch in sich sehr vielfältigen und vielschichtigen jüdischen Bevölkerungsblöcken. Nach wie vor besteht in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft ein orientalisch-aschkenasisches Gefälle zugunsten der euro-amerikanischen Israelis. Immer noch prägen Europa und Amerika die Kultur„szene“ Israels, können sich Literatur, Theater, Musikprogramme oder die Zeitungen Tel-Avivs mit den großen westlichen Kulturmetropolen messen. Das Kulturleben Israels ist alles andere als jüdisch-orientalisch. Trotzdem ist die kulturelle und folkloristische Eigenständigkeit der jüdischen Einwanderer aus den nichteuropäischen und nichtamerikanischen Regionen im Laufe der Jahre stärker gefördert und entwickelt worden. Die ursprünglich bevorzugte Schmelztiegel-Ideologie wurde weitgehend aufgegeben. Die Vielfalt wurde der manchmal krampfhaften Vereinheitlichung vorgezogen.

Auch dieses positive Bild könnte durch zahlreiche Gegenbeispiele relativiert werden. Mühelos kann man auf die große orientalisch-aschkenasische Kluft verweisen. Für manche euro-amerikanischen Israelis sind die orientalischen Juden bestenfalls das „Zweite Israel“ oder „Die Schwarzen“, denen man am liebsten aus der Distanz glaubensbrüderlich verbunden geblieben wäre. Einige dieser orientalischen Israelis sehen wiederum in den Aschkenasim eigentlich „Aschkenazim“. So die polemische Formel, die bewußt an die deutschen Ursprünge erinnern soll. Kurzum: Vorurteile, Abneigung und Distanz bestehen auf beiden Seiten.

Trotz dieser ausgeprägten Unterschiede ist die innerjüdische Integrationsleistung der vergangenen vierzig Jahre höchst eindrucksvoll, ließen sich noch leichter Zahlen, Meinungserhebungen, Daten und Fakten vorlegen, die zeigen würden, wie sehr sich materiell und ideell die Situation der orientalischen Juden verbessert, ja angeglichen hat. Auf diesem Gebiet hat das „rechte“ nationalistisch-religiöse Lager das „linke“ bei weitem übertroffen. Das gilt sowohl für die objektiv meßbaren Ergebnisse als auch für den subjektiven Faktor „Selbstachtung“ der orientalischen Juden.

Vielen Aschkenasim fiel es gewiß schwer, sich an ein „orientalisiertes“ oder auch nur teilweise „orientalisiertes“ Israel zu gewöhnen. Verglichen mit vielen Westeuropäern, auch Deutschen, haben sie sich jedoch an die „Ausländer“ im Inland bestens gewöhnt. Anders als in Westeuropa wurde aus dem „orientalischen“ Mitbewohner des Staates ein weitgehend integrierter und akzeptierter Mitbürger.

Die für den künftigen Charakter des Staates wahrscheinlich entscheidende Bewährungsprobe steht allerdings noch bevor: die politische und gesellschaftliche Integration der arabisch-palästinensischen Israelis. Wer die Situation der Araber/Palästinenser in Israel im Jahre 1948 mit der heutigen vergleicht, wird -aufgrund seiner politischen Überzeugungen vielleicht grollend -einräumen müssen, daß sich ihre Lebensqualität ebenso wie ihre Zahl außerordentlich verbessert bzw. verändert hat. Damals waren sie knapp 150 000, heute sind es mehr als 800 000.

In den Jahren 1948 bis 1958 waren die israelischen Araber vom Schock der Jahre 1947 bis 1949 politisch wie gelähmt. Die gesamtarabische Begeisterung über den damaligen ägyptischen Präsidenten Nasser schwappte 1957/58 auch zu ihnen über, wurde aber von den israelischen Behörden kontrolliert und damit neutralisiert. Das palästinensische und arabische, letztlich auch das politische Wiedererwachen der israelischen Araber begann nach dem Juni-Krieg 1967 -also paradoxerweise mit israelischer Hilfe: Sie konnten sich seitdem wieder mit Palästinensern im Gaza-Streifen und Westjordanland treffen. Außerdem erlaubte Israel auf Initiative des damaligen Verteidigungsministers Mosche Dajan den fast ungehinderten Verkehr von Menschen und Waren nach Jordanien. Man nannte dies die „Politik der offenen Brükken“, und von Jordanien aus war der Weg in alle arabischen Staaten offen. Die Politik der offenen Brücken schlug Brücken zur gesamtpalästinensischen und gesamtarabischen Politik. Sie wirkte auf den jüdischen Staat zurück, in dem sich die „israelischen Araber“ nun wieder zunehmend als „Palästinenser“ fühlten. Das Aufsehen, das die PLO weltweit auf sich zog, förderte die Repalästinensierung der israelischen Araber, bei denen außerdem eine neue politische Generation herangewachsen war. Diese hatte die Spielregeln der Demokratie in Israel kennengelernt und war entschlossen, sie zu ihren eigenen Gunsten anzuwenden. Psychologischen Auftrieb erhielten sie 1973 durch den Jom-Kippur-Krieg und den damals erfolgreichen Einsatz der arabischen Ölwaffe. Erstmals schien damals der jüdische Staat verwundbar.

Im März 1976 wurde am „Tag des Bodens“ das selbstbewußtere Vorgehen der „israelischen Araber“ sichtbar, auch wenn es gewaltsam von Ministerpräsident Rabin niedergeschlagen wurde. Die seit 1979 (Revolution im Iran) ausstrahlende Radikalisierung des Islam und die seit Ende der siebziger Jahre an Heftigkeit zunehmende Auseinandersetzung zwischen Israel und der Palästinensischen Nationalbewegung in den besetzten Gebieten sowie im Libanon mobilisierten auch die israelischen Araber. Der „Aufstand der Palästinenser“ in den besetzten Gebieten, die Intifada, dokumentierte zwischen 1987 und 1993 ebenso wie der Friedensprozeß der Jahre 1993 bis 1996 und dessen Zusammenbruch seit Netanjahus Amtsantritt die immer heftigere Palästinensierung der „israelischen Araber“. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

Aus zwei Gründen konnte die über jeden objektiven Zweifel erhabene Verbesserung ihrer ideellen und materiellen Lebensbedingungen die „israelischen Araber“ bzw. die palästinensischen Israelis subjektiv nicht befriedigen: Erstens vergleichen sie verständlicherweise ihre heutige Situation weniger mit jener, die bis 1967 für ihre Nation unter drükkender jordanisch-ägyptischer Vorherrschaft bestand; sie blicken vielmehr auf ihre jüdischen Landsleute und registrieren dabei die nach wie vor vorhandenen, sehr großen jüdisch-arabischen Unterschiede. Zweitens leben sie als Nichtjuden im jüdischen Staat, wodurch -sogar bei größter jüdischer Toleranz -ihre Fremdheit grundsätzlich vorgegeben ist. Zwei Völker beanspruchen dieses eine Land als ihr Land. Es ist geschichtlich jüdisches und arabisches Land, wobei nur diejenigen ernsthaft darüber streiten, wem es länger und mehr gehört, die der jeweils anderen Seite ihre Rechte grundsätzlich streitig machen wollen

Auch die Palästinenser sind in Israel zu Hause; trotzdem sind sie Fremde. Sie sind Miteigentümer des Hauses, ohne es mit zu besitzen, und bleiben auf die Duldung durch die Juden angewiesen. Ihre Rechte und demokratischen Freiheiten, zu denen die gleichberechtigte Ausübung des Wahlrechtes gehört, übertreffen zweifellos die in den meisten arabischen Staaten bestehenden politischen Entfaltungsmöglichkeiten. Aber diese Rechte und Freiheiten werden ihnen von den „anderen“, den Juden, gewährt. Sie fürchten als Araber, daß diese Rechte im jüdischen Staat Rechte auf Abruf oder Widerruf sein könnten. Sie erinnern sich nämlich daran, daß sie bis Ende 1966 unter israelischer Militärverwaltung lebten und strengen Kontrollen unterlagen, die ihre Bewegungsfreiheit in jeder Hinsicht erheblich einengten.

Auch ohne eine Eingliederung der seit 1967 besetzten Gebiete ist die Zahl der arabischen bzw. palästinensischen Einwohner des israelischen Kernlandes so beträchtlich gewachsen, daß sie sich langfristig auf der Ebene ihrer politischen Repräsentanten und im politischen Selbstverständnis des Staates widerspiegeln muß -es sei denn, Israel verzichtete auf seine Demokratie. Politisch und in seinem Selbstverständnis ist der jüdische Staat tatsächlich jüdisch geblieben; seine Gesellschaft ist und wird in Zukunft noch mehr eine jüdisch-arabische sein, selbst wenn alle noch 1997 besetzten Gebiete geräumt würden, denn schon jetzt sind die arabischen Bevölkerungszentren, die Städte, Teil der palästinensischen Autonomie.

Wenn wir die Juden als „Nation“ bezeichnen -wofür vieles spricht dann ist Israel zwar der Nationalstaat der Juden; die Gesellschaft Israels ist jedoch binational. Der staatlich-politische Überbau entspricht also nicht der gesellschaftlichen Basis. Bildlich gesprochen bedeutet dies: Das Dach ist jüdisch, das Haus jüdisch-arabisch. Irgendwann wird das Haus entweder umgebaut oder zusammenbrechen.

Noch grundsätzlicher hätte eine Annexion der besetzten Gebiete den Charakter des jüdischen Staates verändert. Die Gesellschaft Israels wäre dann noch mehr als ohne die Gebiete jüdisch-arabisch geworden. Gewährte man dieser großen nichtjüdischen Minderheit keine Gleichberechtigung, gäbe man die Demokratie auf. Langfristig wäre Israel daher weder demokratisch noch jüdisch geblieben. Seit den frühen achtziger Jahren mehrten sich im jüdischen Teil der israelischen Politik und Gesellschaft die Stimmen derer, die das Problem erkannten und aussprachen. Sie wollten, daß Israel ein jüdischer Staat bleibt, und warnten deshalb vor einer Annexion der Gebiete. Die fortdauernde Kontrolle über die dort lebenden Palästinenser würde Israel in einen „rassistischen“ Staat verwandeln, erklärte Rabin schon 1988 als Verteidigungsminister

Doch auch ohne Annexion besteht das eigentliche Problem weiter, denn selbst ohne die Palästinenser der besetzten Gebiete wird das israelische Kern-land in seiner Gesellschaft immer mehr jüdisch-arabisch. Auf der politischen Ebene muß und wird sich ein Wandel vollziehen, in die eine oder andere Richtung. Der Verfasser neigt zu der Auffassung, daß die Demokratie bleiben, der zionistisch-jüdische staatliche „Überbau“ sich allmählich der jüdisch-arabischen gesellschaftlichen „Basis“ angleichen wird. Weshalb? Weil die demokratische Grundüberzeugung der jüdischen Mehrheit tief-verwurzelt ist, obwohl es seit Jahrzehnten durchaus besorgniserregende Umfragen gibt. Sie zeigen, daß ungefähr ein Drittel der Juden Israels, bei den Jugendlichen sind es sogar noch mehr, vor die Wahl zwischen „Demokratie und Zionismus“ gestellt, sich zugunsten des Zionismus und gegen die Demokratie entscheiden würden Daß zudem extrem antiarabische Tendenzen und Verhaltensweisen seit den achtziger Jahren ebenfalls stärker wurden, kann man freilich nicht verschweigen, und diese gegenläufige Entwicklung dämpft den Optimismus. Angesichts der jahrhundertelangen Verfolgungen der Diasporajuden, der Pogrome und schließlich des Holocaust hatten sich die Staatsgründer Israels vorgenommen, im eigenen Land einen „neuen jüdischen Menschen“ zu schaffen; einen Juden, der sich nicht mehr widerstandslos abschlachten lassen würde. „Nie wieder Opfer!“ „Eher frühzeitig und heftig (vielleicht auch zu stark) zuschlagen als gar nicht und dann möglicherweise wieder tot.“ Das war der Grundgedanke aus dem Erlebten und Erlittenen. Die Strategie von Zahal (Israels Armee) muß man auch vor diesem Hintergrund sehen. Zahal wurde sehr wehrhaft, militärisch erfolgreich und durch unerwartete Gelegenheiten sowie Gegebenheiten seit 1967 Besatzungsarmee. Dabei distanzierten sich viele junge Israelis offenbar von den Idealen der zionistischen Gründungsgroßväter. Die „Reinheit der Waffe“ ging nicht selten verloren -sofern es sie jemals überhaupt gegeben hat oder geben kann.

IV. Vom weltlichen Messianismus zum Realismus

Die Frage nach dem jüdischen Charakter Israels stellt sich nicht nur im Spannungsbereich zwischen Juden und Arabern. Sie sorgt traditionell auch für innerjüdischen Zündstoff. Die jüdische Orthodoxie hatte von Anfang an ihre Schwierigkeiten mit dem Zionismus, der ihrer Meinung nach in den Gang der Geschichte und damit in „Gottes Werk“ eingriff. Von der extremen Ablehnung des Zionismus setzten sich frühzeitig die Nationalreligiösen ab. Sie wollten den „unjüdischen“ Zionismus, später den Staat Israel, von innen „jüdischer“ gestalten und ihn nicht von außen bekämpfen. Ein Teil der Orthodoxie hat sich diesem „Marsch durch die israelischen Institutionen“ seit den vierziger Jahren unter dem Eindruck des Holocaust angeschlossen. Kurz vor der Staatsgründung, im Juni 1947, schlossen Religiöse und Nichtreligiöse eine religionspolitische Vereinbarung, das „Status-Quo-Abkommen“. Es regelte das Was und Wieviel an angewandten jüdischen Geboten in Israel. Zwar erwies sich dieser Status quo, besonders unter den vom Likud geführten Regierungen, als sehr dynamisch, aber die dynamisierte Fassung hielt. Wie lange wird sie noch halten? Kann sie halten? Die Krisenzeichen mehren sich. Seit 1996 wird heftiger denn je ein innerjüdischer Kulturkampf in Israel ausgetragen.

Zum Status quo gehört die Nichtanerkennung des in den USA so mitgliederstarken konservativen und des Reformjudentums. Beide sind wesentlich liberaler als das orthodoxe Judentum. Fast 90 Prozent der praktizierenden Juden gehören in den USA diesen Richtungen an, die Israels Orthodoxe als „Andersgläubige, die sich nur Juden nennen“, beschimpfen. In Israel verfügt die Orthodoxie über das Monopol in Personenstandsfragen. Israels Status quo kennt keine Trennung zwischen Religion und Staat. Von konservativen und Reformrabbinern vollzogene Übertritte zum Judentum oder Eheschließungen werden amtlich nicht anerkannt. Seit 1977* und verstärkt seit 1996 wagt die Orthodoxie den Großangriff gegen die liberalen Strömungen; scheinbar nur in Israel, tatsächlich sind alle Juden der Welt betroffen.

Die nichtreligiösen Israelis (ihre Zahl schwankt zwischen 60 und 70 Prozent) fühlen sich von den Religiösen „vergewaltigt“. Die Religiösen wollen einen jüdischen, und das bedeutet für sie einen an den religiösen Geboten orientierten Staat. Umstritten ist demnach nicht nur das Mischungsverhältnis von Religion und Staat, sondern auch die Mischung überhaupt. Wenn Israel freilich ein „Staat wie jeder andere“ wird, so ist es auch das Volk Israel. Genau dagegen sträubt sich die Orthodoxie. Die Frage wirft neben geistlich-religiösen auch brisante politische Probleme der Existenz auf: Wenn Israel nicht mehr religiös-jüdisch ist, hat es damit nicht auch die Rechtfertigung verspielt, das „Gelobte Land“ (Erez Israel) zu besiedeln? Das geschichtliche Aufbauwerk des modernen Israel wäre, wie jede historische Leistung, veränderbar; nicht metaphysisch und damit absolut, sondern relativierbar. Auch deswegen stoßen seit 1967 wieder mehr verunsicherte Israelis zu den Religiösen.

Die innerjüdische Relativierung des Absoluten, also des Religiösen, könnte für das jüdische Israel geradezu politisch selbstmörderisch werden, denn die Araber innerhalb und außerhalb des eigenen Staates wenden sich zunehmend der islamischen Religion zu. Auf diese Weise werden sie immer sicherer, während die nichtreligiösen jüdischen Israelis immer unsicherer werden. Für sie wurde alles relativ, für die Araber zunehmend absolut. Ob die Rückkehr zur alten, vielleicht sogar fundamentalistisch interpretierten jüdischen Religion die Antwort auf die neue Herausforderung ist, kann zumindest bezweifelt werden. Das jüdische Israel muß auch hier die Quadratur des Kreises finden. Ein, religiös gesehen, jüdischeres Israel würde eine jüdisch-arabische Annäherung zusätzlich erschweren, weil es jüdische Exklusivität noch mehr betonen würde.

Die von pseudomessianischen Hoffnungen durchdrungenen Gründungsväter Israels sowie ihre Kinder und Enkel stießen auch in anderen Bereichen auf den harten Boden der Wirklichkeit. In der Wirtschaft wurde das landwirtschaftliche Pionier-ideal („Chalutziut“) von der industriellen Wirklichkeit überlagert, die Landwirtschaft mechanisiert, mit der industriellen Produktion verflochten und damit völlig umgestaltet. Diejenigen Kollektivsiedlungen („Kibbuzim“) oder landwirtschaftlichen Genossenschaften („Moschawim“), die den Anschluß verpaßten, kämpfen ums Überleben, und das sozialistische Genossendasein fasziniert sie ohnehin weit weniger als materieller Genuß. Heute sind die einst so sozialistischen Kibbuzim bürgerliche (manche sagen: spießbürgerliche) Hochburgen. Auch andere Abstriche hat man hingenommen: Die einst verpönte Lohnarbeit ist sogar in den Kibbuzim längst zur Regel, „jüdische Arbeit“ („Awoda Iwrith“) oft durch arabische oder seit 1996 aus Thailand, Rumänien, Polen importierte Lohnarbeit ersetzt worden. Die arabischen Lohn-arbeiter kommen aus den besetzten Gebieten. Auf diese Weise verletzt man gleich zwei Ideale der Gründungsväter: „jüdische Arbeit“ und „Wehrhaftigkeit ohne moralische Beschmutzung“, und durch die Zuwanderung der Lohnarbeiter wird der einst erhoffte jüdische Nationalstaat multinational.

Das Ideal der „jüdischen Arbeit“ klingt für deutsche Ohren geradezu rassistisch. So war es nie gemeint. Vielmehr strebten die Staatsgründer auch in der Wirtschaft einen „neuen jüdischen Menschen“ an. In der Diaspora durfte der Jude lange keine Landwirtschaft betreiben, nicht von seiner eigenen Hände Arbeit leben. Der blasse, durchgeistigte, doch körperlich schwache und wehrlose Jude sollte durch körperliche Arbeit im jüdischen Staat gesunden. Er sollte die zum Leben notwendigen Produkte in allen Stufen ohne Arbeitsteilung und „Entfremdung“ selber herstellen, andere nicht durch Lohnarbeit „ausbeuten“.

Auch in der „realen Utopie“ des Zionismus und Israels erwies sich im Alltag die Realität als stärker als die Utopie. Der jüdische Staat ist ein Staat wie viele andere -mit bewundernswerten Leistungen, aber auch mit Fehlschlägen. Das ist im allgemeinen Wert-und Weltmaßstab weder Schande noch Bankrotterklärung, sondern eher angesichts der enormen Probleme und Aufgaben Israels ein hervorragendes Reifezeugnis. An den Wertmaßstäben gläubiger Juden gemessen, ist es freilich ein Armutszeugnis, denn das „auserwählte Volk“ dürfe sich nicht damit begnügen, „wie alle anderen Völker“ zu sein. Die Auserwähltheit sei nicht Belohnung und Auszeichnung, sondern Verpflichtung. Ein jüdischer Staat müsse messianische Erwartungen nicht nur wecken, sondern erfüllen. In Anlehnung an Gershom Scholem sprachen wir von einem „Pseudomessianismus“. Damit waren allerdings Enttäuschungen programmiert. An dieser Enttäuschung leidet Israel am meisten. Das bedrückt auch seine Freunde, und so mancher enttäuschte Freund wurde zum Kritiker. Ich meine, alle sollten realistischer werden und sich nicht weiterhin an pseudomessianische Hoffnungen klammern. Sie würden dann die Erwartungen den Möglichkeiten anpassen. Der Verzicht auf die für die eigene Seite beste Lösung dürfte die Wahl der zweitbesten erleichtern. Dieser Realismus gilt natürlich auch für die Palästinenser. „Das Ende der Geschichte“ hatte uns ein Politik-wissenschaftler aus den USA nach dem Zusammenbruch des Kommunismus vorausgesagt. „Die deutsche Geschichte geht weiter“, so eine Binsenweisheit als Titel eines Buches von Richard von Weizsäcker, dem ehemaligen Bundespräsidenten.

Wie jede andere Geschichte geht auch die israelische weiter. Art und Inhalt des Fortgangs sind jedoch ungewiß. Im wörtlichen Sinne müssen wir mit „radikalen“ Veränderungen rechnen; sie werden bis „an die Wurzeln“ des jüdischen Gemeinwesens reichen -innerjüdisch und jüdisch-arabisch. Israels Geschichte bleibt spannend, und Israels Juden bleiben -zumindest in Deutschland und Europa -einstweilen die „ungeliebten Juden“.

Natürlich können und sollen auch Deutsche Israel punktuell kritisieren, ohne in „Antisemitismusverdacht“ zu geraten, doch mehr Verständnis für Israels existentielle Sorgen und Probleme wären sowohl geschichts-als auch tagespolitisch angebracht. Die politische Klasse dieses Landes, Regierung und Opposition, handelt diesem Grundsatz entsprechend, die Gesellschaft nicht oder nicht mehr. Das beweisen seit 1981 alle Umfragen. Für rund sechzig Prozent der Deutschen ist Israel „ein Staat wie jeder andere“. Vorsicht ist aber bei vorschnellen Urteilen über „die Deutschen“ geboten, denn auch „die Diasporajuden“ sind im Laufe der Jahre zunehmend auf Distanz zu Israel gegangen.

Heute ist der jüdische Staat in der freiwilligen Diaspora eher ein trennender als einigender Faktor. An der intensiven amerikanisch-jüdischen Diskussion über den Stellenwert Israels wird dies deutlich; auch am rückläufigen Spendenaufkommen der US-Juden für Israel. Hatte man noch in den sechziger Jahren 70 Prozent aller bei den US-Juden gesammelten Gelder nach Israel überwiesen und dreißig Prozent für amerikanisch-jüdische Institutionen behalten, so hat sich dieses Verhältnis in den späten neunziger Jahren genau umgekehrt. Und auch bei den britischen Juden wirkt Israel eher als Spaltpilz Anders als 1948 oder auch noch 1968 lebt 1998 die jüdische Diaspora nicht mehr mit einem schlechten Gewissen außerhalb Israels.

Fünfzig Jahre nach der Staatsgründung hat sich die jüdische Diaspora von Israel und haben sich „die Israelis“ von der Gründergeneration emanzipiert. Ist dies zu begrüßen oder zu bedauern, gar zu verdammen? Jede Antwort wäre eine Bewertung. Ich wollte nur analytisch beschreiben und anderen meine Einschätzung nicht vorschreiben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Auf weiterführende Anmerkungen wird in diesem Text absichtlich verzichtet. Weiterführende Literatur findet sich u. a. in: Michael Wolffsohn, Die ungeliebten Juden: Israel -Legenden und Geschichte, München 1998; ders., Israel: Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Opladen 19965.

  2. Vgl. International Herald Tribune vom 28. 7. 1997.

  3. Vgl. Michael Wolffsohn, Wem gehört das Heilige Land. Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern, München 1997.

  4. Israelischer Rundfunk vom 22. 2. 1988, in: Deutsche

  5. Vgl. M. Wolffsohn, Israel (Anm. 1).

  6. Vgl. die Umfrage aus dem Jahre 1995, in: Barry Kosmin u. a., The attachment of British Jews to Israel, London 1997.

Weitere Inhalte

Michael Wolffsohn, Dr. phil., geb. 1947; Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre; Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehruniversität München. Veröffentlichungen u. a.: Die Deutschland-Akte. Juden und Deutsche in Ost und West, München 1995; Meine Juden -Eure Juden, München 1997; Die ungeliebten Juden: Israel -Legenden und Geschichte, München 1998.