Von Lausanne nach Oslo Zur Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts
Ilan Pappe
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Zusammenfassung
Bereits Ende 1948 unternahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen einen ersten Versuch, den arabisch-israelischen Konflikt zu lösen. Dies scheiterte jedoch an der starren Haltung David Ben Gurions. Auch die anderen Friedensinitiativen wie der Jarring-und der Rogers-Plan führten zu keiner Lösung. Der Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten blieb ein „kalter Frieden“, weil es nicht gelang, ihn mit der Palästina-Frage zu verbinden. Den ernsthaftesten Versuch einer Lösung des bilateralen Konflikts stellte der als „Oslo-Prozeß“ in die Geschichte eingegangene Weg dar. Aber auch dieser Friedensprozeß scheint in eine Sackgasse gemündet zu sein. Die Oslo-Abkommen und der Oslo-Prozeß vor Ort sind zwei völlig unterschiedliche Strategien, die nichts miteinander zu tun haben. In der israelischen Gesellschaft scheint es einen Konsens darüber zu geben, wie der Friedensprozeß zu Ende gebracht werden soll. Dies drückte sich im Eitan-Beilin-Abkommen aus. Für die Palästinenser wird sich ein mögliches Endabkommen aber als ein weiteres israelisches Herrschaftsinstrument herausstellen.
I. Erste Lösungsversuche und ihre Folgen
Ende 1948 unternahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen ihren ersten umfassenden Versuch, den arabisch-israelischen Konflikt zu lösen. Die Vereinten Nationen akzeptierten eine Reihe vollendeter Tatsachen, die es vor dem Krieg von 1948 in Palästina nicht gegeben hatte. In gewisser Weise stützte die internationale Organisation ihren Friedensvorschlag auf das Ergebnis dieses Krieges sowie auf ihren vorangegangenen Versuch einer Konfliktlösung, nämlich die UN-Teilungsresolution vom 29. November 1947. In ihren Bemühungen wurde sie von zwei Folgen des Krieges geleitet: der Schaffung des Staates Israel und dem Problem der Palästinaflüchtlinge. Die Vereinten Nationen blieben außerdem zwei Prinzipien aus der Resolution von 1947 treu, nämlich der Teilung Palästinas in zwei Staaten und der Internationalisierung von Jersusalem.
Die von der Generalversammlung angenommene Resolution Nr. 194 beinhaltete all diese Elemente. Darin wurde der Staat Israel anerkannt, die bedingungslose Rückführung aller Palästinaflüchtlinge gefordert, die Teilung Palästinas in zwei Staaten unterstützt und die Internationalisierung von Jerusalem empfohlen. Die Versammlung ernannte darüber hinaus einen Schlichtungsausschuß (Palestine Conciliation Commission) aus Vertretern der Türkei, der Vereinigten Staaten und Frankreichs, der die Friedensgespräche zwischen Israel und den arabischen Staaten auf der Grundlage der am 11. Dezember 1948 verabschiedeten Resolution leiten sollte.
Im Sommer 1949 brachte der Ausschuß die Beteiligten zu einer Friedenskonferenz in Lausanne zusammen. Während die arabischen Staaten und die Vertreter der Palästinenser bereit waren, die UN-Resolution als Grundlage von Friedensverhandlungen zu diskutieren, lehnte der israelische Ministerpräsident David Ben Gurion dies ab. Er hatte jedoch drei gute Gründe, einer israelischen Beteiligung an diesen Gesprächen dennoch zuzustimmen. Erstens hing die endgültige Anerkennung Israels als Mitglied der UNO von seiner Zustimmung zur Beteiligung an dieser Friedenskonferenz ab. Zweitens übten die Vereinigten Staaten erheblichen Druck auf Israel aus, sich den Bemühungen um eine Friedenslösung anzuschließen, und drittens war Israels Außenminister Moshe Sharett der Meinung, hier böte sich eine Gelegenheit zum Frieden, die nicht verpaßt werden dürfe. Anders als Ben Gurion war Sharett bereit, Territorien abzutreten, die Israel während des Krieges von 1948 besetzt hatte, und die nach dem UN-Teilungsplan zum arabischen Staat gehören sollten. Er erwog ernsthaft die Rückführung einiger der Flüchtlinge und wies die Internationalisierung der Heiligen Stätten in Jerusalem nicht grundsätzlich zurück. Für Ben Gurion war Frieden kein vorrangiges Ziel; wenn überhaupt, so wollte er seine Bemühungen eher auf eine Vorabverständigung mit dem Königreich Transjordanien und dessen König Abdullah richten. Mit anderen Worten: Er zog es vor, Palästina zwischen den Juden und den Haschemiten aufzuteilen, was dann zwischen 1948 und 1967 auch tatsächlich geschah (abgesehen vom Gazastreifen, der 1948 von Ägypten besetzt worden war und bis 1967 besetzt blieb).
Vieles hing damals von der Haltung der Amerikaner ab. Zu Beginn der Konferenz war die arabische Position in den Augen der Vereinigten Staaten vernünftig, während sie die israelische als unflexibel erachteten. Aus Washingtoner Sicht gab es eine Grundlage für Verhandlungen, die wegen der sturen Haltung Israels nicht voll ausgeschöpft werden konnte. Die USA übten Druck auf Israel aus und gingen so weit, einen Kredit amerikanischer Banken zurückzuhalten. Im Verlauf der Konferenz verloren sie jedoch das Interesse an diesen Bemühungen und konzentrierten sich auf den in Europa immer schärfer zutage tretenden Kalten Krieg. Die Konferenz von Lausanne ging zu Ende, ohne daß
Übersetzung aus dem Englischen: Martina Boden, Winsen (Aller).
sie irgendwelche Fortschritte gebracht hätte. Der Schlichtungsausschuß wurde dann in den fünfziger Jahren aufgelöst, und beide Konfliktparteien bereiteten sich auf die nächste Phase des Kampfes vor.
Die Tür zum Frieden war dennoch nicht zugeschlagen. Als Sharett 1954 für kurze Zeit israelischer Ministerpräsident wurde, führte er Geheimgespräche mit der ägyptischen Regierung über eine Lösung der Palästina-Frage. Ebenso wurden die Verhandlungen zwischen der haschemitischen Regierung Jordaniens und dem jüdischen Staat fortgesetzt. Die arabischen Partner waren jedoch nicht bereit, diese Verhandlungen öffentlich zu machen, und auf israelischer Seite lag die eigentliche Macht im Staate in den Händen eines Politikers, der keinen Frieden mit den Arabern suchte -David Ben Gurion. Die Bemühungen schlugen fehl, die Folge waren die Kriege von 1956 und 1967.
Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 schien es sinnvoll, eine neue Verhandlungsrunde zu beginnen. Es gab zwei größere Vermittlungsversuche: Den ersten leitete der UN-Vermittler Gunnar Jarring, den zweiten der Außenminister William Rogers ein -beide Versuche scheiterten jedoch. Bei beiden Vorschlägen ging es vor allem darum, Israel von einem Rückzug aus den im Krieg besetzten Gebieten zu überzeugen. Die Arbeitspartei-Regierung in Israel war gespalten in „Befreier“ und „Verwalter“. Die erste Gruppe war der Meinung, Israel sei mit dem Krieg von 1967 in ein verlorenes Heimatland zurückgekehrt und habe es erlöst. Frieden konnte für sie nur einen teilweisen Rückzug aus dem besetzten Land bedeuten, der aber einhergehen mußte mit der Schaffung jüdischer Siedlungen in den anderen Teilen. Sie unterstützten folgerichtig die messianische Bewegung „Gush Emunium“ (Block der Getreuen) und deren Traum von einem Groß-israel, das sich vom Mittelmeer bis zum Jordan erstrecken sollte. Die zweite Gruppe hoffte, daß die arabische Welt als Gegenleistung für die Rückgabe der Territorien ein Friedensabkommen mit Israel akzeptieren würde. Für diese Gruppe lag die Quintessenz des Konflikts in der Frage, wer die Gebiete kontrollieren würde, die Israel im Krieg von 1967 besetzt hatte. Obwohl sehr viel eher bereit, mit der arabischen Welt einen Kompromiß zu suchen, weigerten sie sich, jene Fragen zu behandeln, die aus arabischer und besonders palästinensischer Sicht entscheidend waren: das Schicksal der Palästinaflüchtlinge, die Zukunft Jerusalems und die Definition eines arabischen Palästina.
Die Friedensinitiative des ägyptischen Präsidenten Anwar el Sadat im Jahr 1977 war der Höhepunkt eines langwierigen Prozesses, der durch den Jom-Kippur-Krieg von 1973 ausgelöst worden war; sie eröffnete Ägypten und Israel die Chance zu einem separaten, bilateralen Friedensabkommen. Als Gegenleistung für einen völligen israelischen Rückzug aus dem Sinai erkannte Ägypten Israel an, etablierte Wirtschaftsbeziehungen und öffnete seine Grenzen für israelische Touristen. Mehr aber auch nicht. Weil Ägypten unfähig und Israel nicht willens war, die Vereinbarungen von Camp David mit einer Lösung der Palästina-Frage zu verbinden, blieb der Frieden mit Ägypten ein „kalter Frieden“. Auch der 1994 abgeschlossene Friedensvertrag zwischen Jordanien und Israel blieb begrenzt und fragil, weil eine umfassende Lösung der Palästina-Frage fehlte.
II. Vermittlungschance „Oslo“ trotz gegensätzlicher Positionen
Der ernsthafteste Versuch, diese Frage zu lösen, die eine Akzeptanz Israels als Nachbar im Nahen Osten verhindert, lag in den Vereinbarungen von Oslo. Heute ist klar, daß unterschieden werden muß zwischen dem Dokument oder dem Plan von Oslo und Oslo als Realität oder Prozeß. Der Plan wurde von Israelis ersonnen, die zur zionistischen Linken gehören. Es waren Mitglieder der Arbeitspartei, die ein Mandat hatten, über die traditionellen Positionen dieser Bewegung hinauszugehen und eine Vereinbarung mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zu suchen, die auch von den zionistischen Parteien links (Meretzpartei) von der Arbeitspartei akzeptiert werden konnte. Diese Unterhändler trafen auf eine Gruppe pragmatischer Mitglieder aus der zweiten Garnitur der PLO, die damals in Tunis saßen. Ausgangspunkt der palästinensischen Unterhändler in Oslo waren die Beschlüsse der 18. Versammlung des Palästinensischen Nationalrats (PNC), in denen das Prinzip der Teilung als Basis für eine Lösung des Konflikts akzeptiert worden war Die Beschlüsse waren ein Eingeständnis dafür, daß die PLO nicht in der Lage sein würde, eine Vereinbarung mit dem Ziel der Schaffung eines säkularen arabischen Staates auf dem gesamten früheren Mandatsgebiet Palästina durchzusetzen. Die PLO hielt jedoch an dem Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge fest und blieb dem Ziel der Schaffung eines eigenständigen Palästinenser-staates verpflichtet -frei von jüdischen Siedlungen, völlig unabhängig und mit der Hauptstadt Jerusalem. Diese Punkte waren jedoch erstmals in der Geschichte der PLO Verhandlungsmasse und nicht bloß Gebote der nationalen Ideologie. Im Hintergrund dieses neuen Pragmatismus stand das Ende der Sowjetunion als Supermacht, die die PLO unterstützt hatte, ebenso der Rückgang von Finanzhilfen aus Saudi Arabien aufgrund der Parteinahme der PLO im Golfkrieg für Saddam Hussein und die zahlreichen Mißerfolge der PLO in der arabischen Welt insgesamt und in Palästina im besonderen seit der Vertreibung aus dem Libanon 1982.
Wie schon die Unabhängigkeitserklärung vom 15. November 1988 (Resolutionen des 19. Palästinensischen Nationalrats), so war auch der Schachzug von 1993 getragen vom Erfolg der Intifada, die innerhalb wie außerhalb Palästinas öffentliche Unterstützung in einem Ausmaß gewonnen hatte, wie sie die PLO-Guerillabewegung in der Vergangenheit nie hatte erreichen können. Mehr als alles andere zeigte sich hier jedoch das Ergebnis eines langen Prozesses, der 1974 begonnen und die PLO in einen pragmatischen Akteur auf der nahöstlichen Bühne verwandelt hatte. Wie alle anderen in der Region hoffte sie, ihre Ziele mit einer Mischung aus Gewalt und Diplomatie zu erreichen. Man kann davon ausgehen, daß die Wahlen in Israel von 1992, die eine Regierung hervorbrachten, welche ihre Bereitschaft erklärte, besetzte Gebiete zu räumen, ebenfalls solche Verhandlungen ermutigte. Das Dokument von Oslo bezeichnete den Schnittpunkt zwischen dem israelischen Wunsch nach einem territorialen Kompromiß und der Bereitschaft der PLO, in Friedensverhandlungen einzutreten, diese aber auf keinen Fall mit einem solchen Kompromiß zu beenden.
Trotz des ungünstigen Hintergrunds, vor dem die PLO diese Verhandlungen führte, und ungeachtet der dominanten Stellung Israels im Machtverhältnis zwischen beiden Seiten, bot Oslo den politischen Führern der palästinensischen Nationalbewegung die entscheidende Gelegenheit. Mit Oslo ist hier die „Prinzipienerklärung“ (Declaration of Principles -DoP) gemeint, die am 13. September 1993 auf dem Rasen des Weißen Hauses in Washington als verbindliche Vereinbarung verkündet wurde. Artikel 5 Absatz 3 der Vereinbarung verspricht für den Fall, daß die Übergangsregelungen erfolgreich umgesetzt werden, die Behandlung von drei Themen in zukünftigen Verhandlungen: die Jerusalem-Frage, das Schicksal der Palästina-flüchtlinge und das Problem jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten. Zusätzlich erlaubt es dieser Absatz jeder der Parteien, das Einverständnis der anderen Seite vorausgesetzt, jedes andere Thema vorzubringen, das man zu debattieren wünscht.
Das wichtigste Zugeständnis der PLO war die Verknüpfung der erfolgreichen Durchführung der Übergangsregelungen mit den Verhandlungen über den endgültigen Status der Territorien und diesen drei Themen. Das Dokument spezifizierte die Übergangszeit: Einem Rückzug Israels aus Gaza und Jericho sollte ein schrittweiser Transfer ziviler Aufgaben von Israel an die PLO und schließlich die israelische Räumung aller palästinensischen Städte und Bevölkerungszentren folgen. Am Ende der Übergangszeit sollten Gespräche über eine endgültige Friedenslösung beginnen.
Die Übergangsvereinbarung war von den Israelis diktiert und auf deren Sicherheitsverständnis zugeschnitten. Darüber hinaus repräsentierten sie das israelische Verständnis von Art und Substanz des Konflikts. Die Vereinbarung beschäftigte sich lediglich mit den Problemen, die sich aus dem Krieg von 1967 ergeben hatten, als sei der Konflikt erst damals entstanden und alles, was vorher gewesen war, für eine friedliche Lösung irrelevant. Die Übergangszeit trug dazu bei, die israelische Kontrolle über das Leben zahlreicher Palästinenser zu beenden. Sie enthielt keinerlei Bezug zur palästinensischen Perzeption des Konflikts -sie förderte keine Lösung für die entwurzelten Palästinenser, die 1948 Palästina verloren hatten. Ein Zugeständnis der Palästinenser, das durch Symbole palästinensischer Souveränität in den von Israelis geräumten Gebieten abgestützt wurde, das wichtigste darunter -das über jeglichen Symbolismus hinausging -war die Anerkennung der palästinensischen Amtsgewalt zur Verwaltung dieser Gebiete.
Der Rahmen der Übergangszeit wurde von den Palästinensern jedoch vor allem wegen des Versprechens toleriert, das Artikel 5 Absatz 3 des Dokuments enthielt. Nicht allein die Frage der Flüchtlinge und Jerusalems war von Bedeutung, die PLO hoffte auch, die Frage autonomer Staatlichkeit in künftigen Verhandlungen aufwerfen zu können. Alle drei Themen hingen mit den Folgen des Krieges von 1948 zusammen -ein Krieg, der in vielerlei Hinsicht die neue nationale Identität der Palästinenser begründete und deren nationale Ziele bestimmte Die PLO verdankte ihre Exi-stenz der Flüchtlingsgemeinschaft von 1948. Ihre Daseinsberechtigung konnte nicht darin liegen, die israelische Besetzung von 1967 zu beenden (was natürlich ein sekundäres Ziel war), sondern darin, die 1948 entstandenen Mißstände zu beseitigen.
Obwohl in einem Unterpunkt versteckt, stellten derartige Versprechungen im Rahmen des Dokuments von Oslo für die PLO einen Erfolg dar. Abgesehen davon, daß sie erstmals in ihrer Geschichte von Israel anerkannt wurde, gestatteten die Israelis Verhandlungen über drei Punkte, die für die PLO den Kern des Konflikts ausmachten: das Schicksal der Flüchtlinge, die Zukunft von Jerusalem und die Schaffung eines palästinensischen Staates. Die Israelis fügten dem sehr geschickt ein 1967 entstandenes Problem hinzu, das der Siedlungen -ein für die israelische Wählerschaft umstrittener und empfindlicher Punkt. Verhandlungen darüber wollte Israel so lange wie möglich hinausschieben. Das Dokument betonte allerdings das Veto, das Israel gegen einen möglichen Durchbruch in dieser Frage in der Hand hatte: Israel machte seine Beteiligung an weiterführenden Verhandlungen von einer erfolgreichen und friedlichen Umsetzung der Übergangsvereinbarungen abhängig. Mit „friedlich“ war eine Lösung gemeint, die das israelische Sicherheitsbedürfnis zufriedenstellte, d. h., die Implementierung dieser Phase mußte von israelischen Generälen überwacht und umgesetzt werden.
III. Die Übergangszeit schafft vollendete Tatsachen
Die Folgewirkung von Oslo, also der Prozeß, der sich vor Ort entwickelte, hatte nicht mehr viel gemein mit dem unterzeichneten Dokument. Im Verlauf des Prozesses wurde eine Serie von Vereinbarungen getroffen die israelische Generäle diktierten. Ihnen gegenüber stand ein palästinensisches Team, dem es an jeglicher professioneller Erfahrung in rechtlichen und strategischen Angelegenheiten mangelte. Die Ziele der Übergangsvereinbarungen aus dem Osloer Dokument schienen immer mehr zur Grundlage für die endgültige und dauerhafte Beilegung des Konflikts zu werden. Eine Reihe israelischer Aktionen, oder -wenn man so will -palästinensischer Zugeständnisse, machte künftige Verhandlungen über Probleme im Zusammenhang mit dem endgültigen Status der Territorien, dem Status Jerusalems oder den Flüchtlingsfragen undurchführbar und sinnlos.
Im Verlauf des Prozesses wurden einige der prinzipiellen Versprechen annulliert, die im Dokument von Oslo gemacht wurden. Artikel 31 Absatz 7 legt fest, daß keine Seite Schritte initiieren oder unternehmen soll, die das Ergebnis von Verhandlungen über den dauerhaften Status des Westjordanlandes und des Gazastreifens vorweg-nehmen. 1994 begann Israel mit baulichen Aktivitäten. Beispielsweise wurden Grenzzäune errichtet, die bereits vor Beginn irgendwelcher Verhandlungen die Teilung des Westjordanlandes absteckten.
In jedem der zahlreichen nach Oslo unterzeichneten Abkommen wurden das Machtverhältnis und die israelische Überlegenheit in vollendete Tatsachen vor Ort übersetzt. Das wurde in all jenen Lebensbereichen deutlich, in denen Israelis durch den Einsatz von Gewalt an Einfluß gewinnen konnten: Verhaftungen, Gewahrsam, Zerstörung von Häusern etc. Besonders deutlich wurde dieses Vorgehen in der Fortsetzung der Siedlungspolitik. Die massive Beschlagnahme von Land und die Ausweitung der Siedlungen kennzeichneten die vier Jahre unter der Führung der Arbeitspartei. Das widersprach dem Geist von Oslo und dem ausdrücklichen Versprechen des verstorbenen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin, die Ausweitung der Siedlungen zu stoppen. Die Regierung der Arbeitspartei investierte 46 Millionen US-Dollar in die rund 144 000 Menschen umfassende Gruppe der jüdischen Siedler in den besetzten palästinensischen Gebieten (sehr viel mehr als ihre Vorgänger vom Likud). 1996 wuchs die Zahl der Siedler um 48 Prozent im Westjordanland und um 62 Prozent im Gazastreifen All das ließ einen Abzug der Siedler noch unrealistischer erscheinen als zuvor.
Abgesehen davon, daß dadurch abschließende Gespräche unmöglich wurden, war dies eine weitere Verletzung des Dokuments von Oslo. Laut Artikel 31 Absatz 8 „sehen die beiden Parteien das Westjordanland und den Gazastreifen als zusammenhängende territoriale Einheit, deren Integrität und Status während der Interimsphase gewahrt bleiben“ sollte. Nichts von alledem wurde vor Ort eingehalten. Eine Serie von Querverbindungen zerschneidet die Territorien und hat eine imaginäre jüdische Landkarte des Westjordanlandes geschaffen, die -in mehr als einer Hinsicht -die palästinensische überlagert. Die kleinen jüdischen Siedlungen wurden nun mit größeren verbunden und durch Straßen mit Israel selbst; die Palästinenser, die in diesem Gebiet leben, werden von Siedlungsblöcken umzingelt und können sich nur unter großen Schwierigkeiten durch zahlreiche militärische Barrieren bewegen, wenn überhaupt. Es war der durch Oslo in Gang gesetzte Prozeß, der den Straßen den Weg ebnete und die Kantonisierung des Westjordanlandes ermöglichte (mehr ist später über Gaza und Oslo zu sagen). Diese Handlungen leiteten sich nicht aus dem Dokument selbst ab, sondern aus einer Reihe von Vereinbarungen, die Israel mit einer in Oslo geschaffenen Einrichtung aushandelte: der Palästinensischen Selbstverwaltung. Die Zeit wird zeigen, ob diese Selbstverwaltung die PLO ersetzt hat. In den Augen der Israelis jedenfalls ist dieser Tausch ein unumkehrbares Faktum. Israel erhielt auf diese Weise eine Bestätigung seiner Handlungen durch eine anerkannte Führung der Palästinensischen Befreiungsbewegung. Jene Palästinenser, die von einem Teil des Westjordanlandes zu einem anderen fahren müssen, oder von Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung nach Israel, um dort zu arbeiten, konnten besser als andere das Muster der Kontinuität zwischen der Wirklichkeit vor und nach Oslo erkennen. Das schlechte Benehmen und die Abgestumpftheit der israelischen Soldaten und Polizisten an den Barrikaden und innerhalb des israelischen Territoriums zeigten, daß das Westjordanland sich in ein Bantustan -ähnlich den südafrikanischen Homelands zur Zeit der Apartheit -verwandelt hatte. Die Besatzer sind jederzeit in der Lage, jene Menschen mental oder physisch zu mißhandeln, die ihnen für die Dauer ihrer Stationierung an diesen Schnittpunkten zwischen Israel und Palästina unterstellt sind -und diese Stationierung wird sicher lange dauern.
Auch dies ist eine Verletzung der Vereinbarungen von Oslo, ungeachtet der Tatsache, daß es sich um eine fortgesetzte Besetzung handelt. In Artikel 10 Absatz 1, Satz a steht: „Israel wird die sichere Durchfahrt von Personen und Transporten während des Tages (Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang) oder wie von dem Joint Security Committee (JSC) vereinbart, sicherstellen, jedoch in keinem Falle weniger als 10 Stunden am Tag.“ Diese Bestimmung wird nicht nur im Falle der Passage zwischen Gaza und dem Westjordanland verletzt, sondern auch innerhalb des Westjordanlandes.
IV. Alter Wein in neuen Schläuchen
Die Fehlentwicklung des Prozesses zeigt sich im Spannungsverhältnis zwischen Bedingungen und Funktionen. Die Israelis kontrollieren die Bedingungen, während die Palästinenser einige Funktionen innehaben. Diese Formel stellt eine Kreuzung zweier alter israelischer Pläne dar: Den einen legte Yigal Allon, den anderen Moshe Dayan vor. Beide stammen aus den siebziger Jahren. Allon suchte damals einen territorialen Kompromiß mit den Jordaniern, der auf der demographischen Struktur der Territorien beruhte.
Dayan schlug vor, die Funktionen der Autorität zwischen Israel und Jordanien zu teilen -wobei Israel in der Hauptsache Sicherheitsfunktionen im Westjordanland übernehmen sollte, die Jordanier im restlichen Gebiet. Diese beiden Ansätze bilden die Grundlage der Mitte der neunziger Jahre vorgebrachten Vorschläge für eine dauerhafte Friedenslösung, wie sie von der Arbeitspartei und dem Likud in der Post-Oslo-Wirklichkeit angeboten werden, wobei die Palästinenser den Platz der Haschemiten einnehmen.
Aber auch im Bereich der Funktionen entfaltete der Prozeß keine sonderliche Reichweite. Die den Palästinensern zugestandenen Funktionen blieben auf die Überwachung des täglichen Lebens innerhalb der Autonomiegebiete beschränkt. Eine Reihe schmückender Symbole soll echte Souveränität ersetzen: Flaggen, Sicherheitskräfte, Namen und Titel wie etwa „Post Palästinas“. Diese neue Realität ist nicht nur eine Fortschreibung früherer Realitäten, sie bringt auch neue Lebensweisen mit sich, die erklären, warum zahlreiche Palästinenser im Westjordanland und in Gaza lange Zeit willig im Prozeß mitwirkten, trotz der offensichtlichen Nachteile. Welche Vorteile sich aus den Ver-einbarungen ergeben, zeigt sich in Gaza besonders deutlich. Der Streifen wurde weniger zerschnitten als das Westjordanland. Die Trennung beider Gebiete war ohnehin bereits akzeptierte Realität; man ging davon aus, daß diese Regelung lange Zeit andauern würde, selbst wenn das Dokument von Oslo wörtlich entsprechend einer pro-palästinensischen Interpretation implementiert werden sollte.
Im Gazastreifen wurde der Abzug direkter israelischer Kontrolle wegen der relativen territorialen Integrität zuerst spürbar. Keine Ausgangssperren mehr, keine Durchsuchungen in der Nacht und keine Schikanen auf den Straßen. Die Nächte und Abende wurden wieder als Sphären öffentlichen Lebens in Besitz genommen. Es dauerte über ein Jahr, bis die fortgesetzten Absperrungen und die schwerwiegenden Bewegungseinschränkungen außerhalb des Gazastreifens die Erkenntnis reifen ließen, daß der Prozeß nach Oslo Gaza zu einem einzigen großen Gefängnis gemacht hatte -mit einer palästinensischen Flagge darin und israelischen Soldaten auf den Mauern. Wie bereits erwähnt, widersprachen die Bewegungseinschränkungen einigen Artikeln im Dokument von Oslo. Sie stellen außerdem eine Verletzung von Artikel 33 der Vierten Genfer Konvention von 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten dar.
Warum wurde der mit Oslo in Gang gesetzte Prozeß von beiden Seiten zumindest bis 1996 so massiv unterstützt? Auf Seiten der Palästinenser muß man daran erinnern, daß in der Folge von Oslo für eine Reihe von Palästinensern im Rahmen der verschiedenen Mechanismen, die das Leben in den Autonomiegebieten regeln sollten, Arbeitsplätze geschaffen wurden. Diese Arbeitnehmer wurden zur wichtigsten Unterstützergruppe auf palästinensischer Seite. Sie haben ein persönliches Interesse an der Erhaltung des Status quo.
Auf Seiten der Israelis wurde Oslo in der öffentlichen Diskussion und den elektronischen Medien zumindest bis zur Wahl Netanjahus als Friedensprozeß dargestellt. Man bemühte sich sehr, dies als Fortschritt zu verkaufen. Der gewaltsame Widerstand der zionistischen Rechten gegen Oslo stärkte die Überzeugung vieler Israelis auf der linken Seite des politischen Spektrums, daß sie einen wirklichen Friedensprozeß gegen dessen Feinde verteidigten. In der internationalen und insbesondere in der amerikanischen Debatte schließlich war der Vertrag von Oslo das Synonym für Frieden.
V. Isrealischer Konsens links und rechts der Mitte?
Wie bereits erwähnt, unterscheidet sich die Wirklichkeit des Prozesses sehr vom 1993 unterzeichneten Dokument. Wichtig ist die Umwandlung des in Oslo Vereinbarten in eine Art indirekter Besetzung der palästinensischen Gebiete durch die israelische Regierung und Teile der palästinensischen Autonomiebehörden. In allen Vereinbarungen, die die Ergebnisse von Oslo von einer Prinzipienerklärung in die Wirklichkeit übertragen sollten, diktierte Israel Regelungen, die jegliche abschließende Verhandlung über eine dauerhafte Lösung überflüssig machten.
Dieses Diktat übten die vorige wie auch die derzeitige Regierung Israels gleichermaßen aus, und es wird von weiten Kreisen der jüdischen Bevölkerung unterstützt In der Tat haben die letzten Wahlen gezeigt, daß die Mehrheit der jüdischen Wähler in Israel bereit ist, den Zustand, wie er sich nach Oslo entwickelt hat, sogar unter härteren Bedingungen durchzusetzen, als vom Likud vorgeschlagen. In der Tat ist das, was sich im Verlauf des Prozesses ergeben hat, für die Isrealis besonders attraktiv. Es gefällt der politischen Mitte. Unmittelbar nach den Wahlen von 1996 kommentierte Yossi Beilin, er könne sich vorstellen, daß Arbeitspartei und Likud eine gemeinsame Basis für die Herbeiführung eines Friedens finden könnten. Indem sie eine gemeinsame Grundlage für den Frieden finden, können politische Parteien wie der Likud und die Arbeitspartei am ehesten eine Abhängigkeit von ideologischen Randgruppierungen vermeiden. Ein Blick auf das Programm beider Parteien zeigt tatsächlich erhebliche Überschneidungen in der Oslo-Frage. Die Arbeitspartei schlägt vor, daß bei einem Friedensschluß keine der 144 jüdischen Siedlungen im Westjordanland und in Gaza geräumt werden sollte und daß die meisten von ihnen israelischer Souveränität unterstehen sollten. Die Arbeitspartei und der Likud bestehen darauf, daß Jerusalem unter israelischer Kontrolle bleibt. In der Frage der Staatlichkeit unterscheiden sie sich zwar -gemessen an den offiziellen Äußerungen in der Realität ist jedoch das, was beide Seiten den Palästinensern anbieten, weit von einer normalen Staatlichkeit entfernt.
Das Ausmaß der Gemeinsamkeiten in der politischen Mitte Israels zeigt sich am deutlichsten im Eitan-Beilin-Dokument Es ist ein Dokument, das die Basis für eine künftige Regierung der nationalen Einheit in Israel bilden soll. Beilin steht wohl links von der Arbeitspartei, Eitan wurde als rechts vom Likud stehend eingeschätzt. Sie erzielten dennoch relativ leicht eine Übereinkunft, wonach den Palästinensern ein Diktat vorgelegt werden sollte, das eine gemeinsame Linie für die derzeitige Lösung des Palästina-Problems vorgibt. Danach würden nahezu alle Siedlungen unter israelischer Kontrolle und Souveränität bleiben, Jerusalem bliebe unter israelischer Herrschaft vereint, und Israel wäre für die Sicherheit im Jordantal verantwortlich. Das Flüchtlingsproblem wurde nicht erwähnt, aber man war sich einig, daß den Palästinensern in den Gebieten, die unter deren Kontrolle verblieben, der Anschein von Staatlichkeit erhalten bleiben sollte.
Diese Vision erschien erstmals im Abu Mazen-Beilin-Dokument Im Februar 1996 verhandelte Mahmud Abas, bekannt als Abu Mäzen, im geheimen mit Yossi Beilin. Die beiden Männer unterbreiteten Yassir Arafat und dem israelischen Ministerpräsidenten Shimon Peres eine Vereinbarung, die die Anerkennung eines palästinensischen Staates ohne eigene Armee, eine fortgesetzte israelische Kontrolle über die meisten jüdischen Siedlungen und die palästinensische Kontrolle über das Jordan-tal ab dem Jahr 2007 enthielt. Die israelische Kontrolle über Jerusalem sollte ausgeweitet werden, während einige Viertel, darunter Abu Dis, unter palästinensischer Oberaufsicht stünden. Mit dieser Vereinbarung akzeptiert also ein prominentes Mitglied der palästinensischen Selbstverwaltung einen Plan, der aus Palästina ein Bantustan machen würde, das sich über weniger als 55 Prozent des Westjordanlandes und 60 Prozent des Gazastreifens erstrecken würde, mit einer Mini-Hauptstadt Abu Dis, ohne Lösung des Flüchtlingsproblems und ohne einen Abbau der jüdischen Siedlungen.
Das Eitan-Beilin-Dokument zeigt, daß die Israelis bereits wissen, was sie als dauerhafte Friedenslösung wollen; diese Wunschvorstellung wird von der Mehrheit der Juden geteilt, die darin die einzige mögliche Folge des Osloer Friedensprozesses sehen. Mit Blick auf die bisherigen Entwicklungen deutet in der Tat alles darauf hin, daß das Ergebnis letztendlich so aussehen wird: ein Bantustan unter israelischer Kontrolle.
VI. Der wirtschaftliche Aspekt
Eitan und Beilin teilen noch eine andere Vision, die vielleicht nicht viele Israelis tangiert, die aber die grenzübergreifenden wirtschaftlichen Kräfte erklären kann, die hinter Oslo stehen. Teil dieser Vision ist die Einführung einer kapitalistischen freien Marktwirtschaft in Israel und Palästina. Nach den 1994 unterzeichneten Vereinbarungen von Paris, die die wirtschaftliche Komponente von Oslo enthalten sollen Israel und Palästina wirtschaftlich eine Einheit bilden. Dies wird an der Art und Weise erkennbar, wie der Zoll geregelt ist, sowie an der Art, wie eine gemeinsame Steuerpolitik ausgeübt wird. Darüber hinaus gesteht die Vereinbarung Israel das Vetorecht bei allen Entwicklungsplänen zu, die von der palästinensischen Selbstverwaltung vorgelegt werden. Das bedeutet, daß die Währungs-und Wirtschaftspolitik Israels wie auch die israelischen Wechselkurse eine beherrschende Rolle in der palästinensischen Wirtschaft spielen werden. Andere wirtschaftliche Aspekte unterliegen nach der Vereinbarung des Interimsabkommens ebenfalls völlig israelischer Dominanz, wie zum Beispiel Außenhandel und Industrie.
Die Einführung der israelischen Version einer kapitalistischen Gesellschaft in den palästinensischen Gebieten kann nur in ein Desaster führen. Ohne demokratische Strukturen und mit einem sehr geringen Sozialprodukt kann eine solche Integration, wie sie im Rahmen von Oslo angeboten wurde, nur dazu beitragen, daß die Gebiete unter der Kontrolle der palästinensischen Behörden zu den Slums von Israel degenerieren. Ein bezeichnendes Beispiel für eine derartige Entwicklung ist schon heute am Erez-Kontrollpunkt zu beobachten, der Pufferzone zwischen Israel und dem Gazastreifen. Dort eröffneten die Israelis mit Hilfe der Amerikaner und der Europäischen Union ein Gewerbegebiet. Dieser Name ist irreführend, denn es handelt sich um einen Fertigungsbereich, in dem alle Arbeiter Palästinenser und alle Arbeitgeber Israelis sind, die sich über die sehr niedrigen Löhne freuen, die sie ihren Arbeitern zahlen. Israel hat Pläne für vergleichbare Gebiete an der Grenze zu Jordanien und zum Westjordanland. Aus diesem Grund rechnen sich die Industriellen in Israel zum Lager der Befürworter des Friedens. Dies ist nur ein Aspekt der Kapitalisierung des Friedensprozesses. Ein weiterer liegt in der Unterstützung durch eine begrenzte Zahl von Palästinensern, die von solchen ökonomischen Transaktionen ebenfalls profitieren.
Diese doppelte Last von wirtschaftlicher Not und mangelndem Fortschritt könnte dazu führen, daß die Palästinenser versuchen, sich gegen die Post-Oslo-Wirklichkeit aufzulehnen. Auf israelischer Seite sind dagegen keine Gründe erkennbar, die für eine Änderung der Lage sprechen. Für die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Israel folgt der Friedensprozeß einer überzeugenden Logik, die oft vom verstorbenen Ministerpräsidenten Yizhak Rabin ausgesprochen wurde: Die Palästinenser befanden sich vor Oslo in einer ausweglosen Situation -jetzt wird ihnen eine Verbesserung angeboten. Keine beeindruckende Verbesserung, aber immerhin eine, die als „N-plus-eins“ -Formel definiert werden kann, wobei „N“ für die Ausgangslage steht und „eins“ für Gaza, Jericho und Ramallah, über denen palästinensische Flaggen wehen und die von palästinensischen Polizisten überwacht werden. Die „Eins“ steht auch für eine undemokratische Behörde, die die israelische Besatzung durch palästinensische Sicherheitsdienste ersetzt. Das ist für die meisten Isrealis Frieden, es ist unter Netanjahu sogar in gewisser Weise ein besserer Frieden, nachdem die Hamas nahezu aufgehört hat, Bomben in israelischen Stadtzentren zu zünden. Für die meisten Israelis bedeutet Frieden Sicherheit im Alltag, und der wurde bisher vom Oslo-Prozeß gefördert.
Auf der palästinensischen Seite ist das anders. Schon 1995 löste die Unzufriedenheit mit dem Fortschritt des Oslo-Prozesses so große Empörung und solchen Widerstand aus, daß der gesamte Prozeß in Gefahr geriet. Die Wahl Netanjahus erhöhte -ungeachtet seiner Verpflichtung zur Erfüllung der Vereinbarungen von Oslo und dem Abzug aus Hebron (was sich die Regierung der Arbeitspartei zuvor nicht getraut hatte) -bei den Palästinensern das Ausmaß der Desillusionierung und des Mißtrauens in den Friedensprozeß. Im September 1996 mündete dies in einen offenen Aufstand, ausgelöst durch die Eröffnung eines Tunnels unter dem Tempelberg. Es war ein begrenzter Aufstand, aber solche begrenzten Aufstände wiederholen sich wegen des Stillstands in den Verhandlungen und der israelischen Siedlungspolitik in Jerusalem.
Eine mögliche Folge von alledem ist die Ausweitung einer Mini-Intifada zu einem allgemeinen Aufstand. Auf Seiten der palästinensischen Selbstverwaltung scheint die Bereitschaft gering, sich zu einer solchen Politik zu entschließen. Es ist also wahrscheinlich, daß eine mögliche künftige israelische Regierung der nationalen Einheit die israelische Position gegenüber den Palästinensern als Diktat auf der Grundlage der „N-plus-eins“ -Formel durchsetzt. Das kann zu einem Ausbruch von Gewalt führen, muß es aber nicht. Man muß hier von der Realität ausgehen, wie sie sich heute darstellt, und sehen, daß die Palästinenser möglicherweise nicht die Kraft haben, wesentliche Änderungen durchzusetzen.
Ein sehr wahrscheinlicher Trend der Post-Oslo-Wirklichkeit, der es Israel erlaubt, die palästinensischen Gebiete über die Dienststellen der palästinensischen Selbstverwaltung zu kontrollieren, liegt in den wachsenden Spannungen innerhalb der derzeitigen politischen Strukturen (d. h. in Israel einerseits und im palästinensischen Ministaat andererseits) angesichts der wachsenden Last der sozialen und kulturellen Fragmentierung der israelischen wie der palästinensischen Gesellschaft. Diese strukturellen Probleme bestimmten das Leben von Juden und Palästinensern schon lange vor Oslo. Im Falle Palästinas erfuhren diese Strukturen eine weitere Prägung durch die Kriege von 1948 und 1967.
Die Unzulänglichkeit der Strukturen manifestierte sich in stetig wachsenden Spannungen zwischen den Ausprägungen und dem Wesen des Staats einerseits sowie der sozialen und kulturellen Art beider Gesellschaften andererseits. Diese Spannungen waren bis zum Beginn der israelischen Besetzung der palästinensischen Gebiete unterschwellig und kontrollierbar. Aber Oslo beendete die Besetzung nicht, und die Spannungen drängen weiterhin mit wachsender Macht an die Oberfläche, was auch in absehbarer Zukunft so bleiben wird.
Möglicherweise werden die kulturellen, inneren militanten Auseinandersetzungen in Israel und Palästina dazu führen, daß „Staat“ neu definiert wird -entweder im negativen Sinne, wie etwa im ehemaligen Jugoslawien, oder, mit viel Glück, in Form einer neuen multikulturellen Struktur, die in der Lage wäre, orthodoxe Juden, militante Islamisten, säkulare Juden, säkulare Muslime und christliche Palästinenser in Israel und den Territorien, russische Juden, nichtjüdische Russen, äthiopische Nichtjuden und Juden, sephardische Juden und die stetig wachsende Zahl von Gastarbeitern zufriedenzustellen.
Ilan Pappe, Dr. phil., geb. 1954; Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Haifa und Leiter des dortigen Instituts für Friedensforschung. Veröffentlichungen u. a.: Britain and the Arab-Israeli Conflict, 1948-1951, London-New York 1988; The Making of the Arab-Israeli Conflict, 1947-1951, New York 1992; The Middle East: A History From Within, London -New York 1997.
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