Die Voraussetzungen demokratischer Entwicklung in Mittel-, Nordost-, Südost-und Osteuropa -
Jerzy Macköw
/ 33 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Die pauschale Rede von „Demokratie in Osteuropa“ hat dann einen Sinn, wenn damit zugleich die jeweiligen Voraussetzungen der Demokratie in den sich voneinander deutlich unterscheidenden Staaten Mittel-, Nordost-, Südost-und Osteuropas gemeint sind. Denn ein ökonomisches, politisches oder kulturelles „Osteuropa“ bzw. „Ostmitteleuropa“ hat es nie gegeben und gibt es auch heute nicht; diese Vorstellung ist ein Relikt aus der sowjetkommunistischen Zeit. Die bisherige Entwicklung dieses postkommunistischen Raumes legt den Schluß nahe, daß Erklärungen für die Ausdifferenzierung der postkommunistischen politischen Systeme in Demokratien und quasidemokratische Autoritarismen weniger im ökonomischen und stärker im kulturellen Bereich zu suchen sind. Eine gute demokratische Entwicklung weisen die mittel-und nordosteuropäischen Länder auf (mit Ausnahme der Slowakei), die in die postkommunistische Ära andere kulturelle und nationale Voraussetzungen als die Staaten Südost-und Osteuropas mitbrachten. Der ökonomische Erfolg hängt wiederum am stärksten ab von der jeweils durchgeführten Wirtschaftspolitik, wobei eine gut funktionierende Demokratie ihn insofern fördert, als sie zur Trennung von Wirtschaft und Politik beiträgt.
Knapp ein Jahrzehnt nach den Umbrüchen des Jahres 1989 wird immer noch viel über „Demokratie in Osteuropa“ diskutiert. Mit dieser Formulierung werden sowohl die Wünsche der betroffenen Völker wie der westlichen Beobachter zum Ausdruck gebracht. Man soll zwar die geschichtlich-politische Kraft von Wunschvorstellungen nicht unterschätzen, doch erscheint es ratsam, zunächst in Kürze zu zeigen, daß die Redewendung „Demokratie in Osteuropa“ so lange eine Floskel bleibt, solange nicht das genauere Verständnis von „Demokratie“ und „Osteuropa“ geklärt ist. Über die westlichen Demokratien kann man sowohl im Sinne ihrer Merkmale als auch ihrer Voraussetzungen sprechen Zu den Merkmalen gehört etwa ein unverzichtbares Minimum an bestimmten Institutionen, Organen und Verfahren wie freie Wahlen, Verfassungsorgane, Redefreiheit, Wettbewerb politischer Parteien, Rechtsstaatlichkeit u. a., die allesamt eine möglichst breite politische Repräsentation und Partizipation der Bürger ermöglichen sollen
Bevor sich zuerst in den USA und Westeuropa Demokratien konsolidiert haben, hatten sich in einem langen, durch zahlreiche Brüche gekennzeichneten historischen Prozeß die Voraussetzungen für demokratische Systeme herausbilden müssen. Dazu gehört eine Vielzahl von Faktoren, von denen drei immer wieder hervorgehoben werden: 1.der letztlich dem Christentum entspringende Personalismus, der -vom Liberalismus aufgenommen -die Autonomie des Individuums gegenüber dem Staat begründete. Diese Autonomie wiederum bewirkte die „Umbasierung aller gesellschaftlichen Ordnung auf das Individuum . . . (sowie die) Geltung des Rationalismus im Verbund mit der Verabschiedung der Wahrheitsgewißheit“ 2.der Konstitutionalismus und die Rechtsstaatlichkeit, d. h. die Limitierung der Staatsmacht mittels der Verfassung und sonstiger Gesetze; 3.der zunehmende, mit der Autonomie der Wirtschaft gegenüber der Politik gewachsene Wohlstand
Es wird angenommen, daß erst in den politischen Gemeinschaften, die ihre Nationbildung abgeschlossen haben, diese bzw. ähnliche Voraussetzungen entstehen können, die das Interesse der Bürger an der Repräsentation durch und an der Partizipation im politischen System möglich machen. Wo es ausreichend viele engagierte Bürger gibt, dort gibt es wiederum eine civil society (Zivil-oder Bürgergesellschaft) die den politisch wirksamsten Teil der Bevölkerung darstellt. Sie besteht aus den dem Staat gegenüber autonomen gesellschaftlichen Akteuren, die ihre vielfältigen Interessen in Kooperation mit dem Staat, aber auch -wenn nötig -unter Wahrung der unverzichtbaren Konsensbereiche durchaus gegen den Staat zu artikulieren und durchzusetzen trachten. Die so verstandene civil society stellt sozusagen das gesellschaftliche Ergebnis des Zusammen-spiels der drei zuvor genannten Voraussetzungen der Demokratie dar
Der überfällige Abschied vom dehnbaren Osteuropa-Begriff
Der postkommunistische Raum wird im westlichen Verständnis zumeist „Osteuropa“ genannt und nach Bedarf ausgedehnt bzw. eingeschränkt. Dies kann mit einigen Beispielen aus dem sprachlichen Alltag illustriert werden. In den letzten Jahren änderte sich beispielsweise die gängige Zuordnung jenes Teiles Deutschlands, der zur Zeit des sogenannten Kalten Krieges die „DDR" und noch früher „Mitteldeutschland“ genannt wurde. Noch vor zehn Jahren war es üblich, diesen Teil „Osteuropa“ zuzuschlagen. Was bis 1990 die DDR war, wird heute „Ostdeutschland“ genannt und gehört gleichzeitig nicht mehr „Osteuropa“ an. Ein anderes Beispiel: Die Sowjetunion wurde „Osteuropa“ zugeordnet -ungeachtet dessen, daß sie bekanntlich ein gutes Stück Asien umfaßte. Die westslawischen Völker und die Ungarn wiederum wurden und werden mal „Mitteleuropa“, mal „Osteuropa“ und damit (noch?) nicht dem „Westen“ zugeordnet. Rumänien und Bulgarien gelten heute meistens als genauso „osteuropäisch“ wie das nach wie vor zu Zweidritteln asiatische Rußland, die Ukraine und die baltischen Staaten.
Diese angebliche Dehnbarkeit „Osteuropas“ führt dazu, daß dem mit diesem Begriff gemeinten Raum ein jeweils gewünschter politischer, ökonomischer bzw. kultureller Inhalt unterstellt werden kann. Das Auftauchen des noch verschwommene-ren Phantoms „Ostmitteleuropa“ ist auf den gleichen Umstand zurückzuführen. Da es jedoch nie- mals ein ökonomisches oder politisches oder kulturelles „Osteuropa“ gegeben hat, ist es geradezu notwendig, jede Analyse des mit diesen Begriffen gemeinten Raumes mit einer Einteilung zu beginnen, die in etwa den geographischen Gegebenheiten folgt Demnach kann über Mittel-bzw. Zentraleuropa (Polen. Tschechien, die Slowakei, Ungarn, der östliche Teil Deutschlands und Slowenien Nordosteuropa (Litauen, Lettland, Estland), Südosteuropa (Moldawien, Rumänien, Bulgarien, Albanien, Nachfolgestaaten des kommunistischen Jugoslawiens) und das eigentliche Osteuropa (westliches Rußland bis zum Ural, der Großteil der Ukraine und Belarus) gesprochen werden Die Karte zeigt diese Länder des postkommunistischen Europas, und Tabelle 1 vermittelt einen Überblick über deren Grund-daten. Der Osteuropa-Begriff kann in bezug auf das geographische Zentraleuropa nur dann beibehalten werden, wenn Rußland als eurasischer Kontinent begriffen wird. Es ist eine Perspektive, die implizit (fast immer) von den Russen und (sehr häufig) von den Angelsachsen vertreten wird. Rußland umfaßt demnach nicht (das geographische) Osteuropa, sondern grenzt an dieses (geographische Mitteleuropa). Es ist eine durchaus interessante Perspektive, die der Größe des russischen Kontinents angemessen Rechnung trägt. Das einzige Problem besteht darin, daß damit um der Unterscheidung zwischen „Europa“ und dem russischen „Eurasien“ willen die geographische Teilung zwischen Europa und Asien entlang dem Ural-Gebirge aufgegeben wird. Der Wandel in Europa seit 1989 bedeutet nicht ausschließlich für bisher kommunistisch beherrschte Gesellschaften die Notwendigkeit, nicht zuletzt ihr Denken den Erfordernissen der heutigen Welt anzupassen. Auch die euroatlantischen Demokratien, darunter das in den postkommunistischen Raum am stärksten involvierte Deutschland, müssen viele in der „bipolaren Welt“ gebildete Denkstrukturen aufgeben. Dazu gehört die undifferenzierte Wahrnehmung des postkommunistischen Raumes als „Osteuropa“. Leider wird nach wie vor selbst in Fachkreisen die Mühe gescheut, die offensichtlich falsche Begrifflichkeit zu revidieren, die'seinerzeit wesentlich dazu beigetragen hat, daß die Unterschiede zwischen den früher unter dem kommunistischen „red carpet“ verborgenen Gesellschaften analytisch nicht gewürdigt wurden.
Diese Gesellschaften unterscheiden sich dadurch, daß manche gleichsam aus eigener Kraft totalitäre Systeme entwickelten, während andere ausschließlich infolge des Zweiten Weltkrieges kommunistische Systeme erhielten Zudem unterschieden sie sich beträchtlich hinsichtlich der menschlichen und materiellen Verluste während des Zweiten Weltkrieges. Schließlich gingen sie in der Nachkriegszeit mit dem totalitären System unterschiedlich um. Ausschließlich nur ein Umstand war all diesen Gesellschaften eigen, daß sie nämlich in der „bipolaren Welt“ das de facto gleiche politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche System des sowjetischen Sozialismus („Sowjetsozialismus“, „Kommunismus“) ertragen mußten Heute aber hat es noch weniger Sinn als früher, Mittel-, Nord-ost-, Südost-und Osteuropa als „Osteuropa“ zu apostrophieren, denn das politische und wirtschaftliche Auseinanderleben des früher mit dem „roten Teppich“ abgedeckten Raumes wird offenkundig.Somit können die Prämissen und die Fragestellung dieser Überlegungen formuliert werden. Die erste Prämisse ist methodologischer Natur: Die Unterschiedlichkeit der betroffenen Länder gebietet, sich der unterschiedlichen Voraussetzungen des Demokratieaufbaus in Zentral-, Nordost-, Südostund Osteuropa anzunehmen. Die zweite Prämisse ist empirischer Art: Die Demokratie funktioniert nur in den meisten nordost-und zentraleuropäischen Staaten zufriedenstellend In Ost-und Süd-osteuropa muß dagegen von lediglich quasidemokratischen, tatsächlich aber autoritären Systemen gesprochen werden An diese Prämissen schließt die Frage an, ob es ehör kulturelle oder ökonomische Voraussetzungen sind, die für den Erfolg bzw. Mißerfolg der Demokratisierung in den genannten Ländern (Regionen) ausschlaggebend sind. Die Beantwortung dieser Frage ist nur dann möglich, wenn die folgende Analyse sowohl die heutigen Entwicklungen als auch die Vorkriegsgeschichte sowie die kommunistischen Gleichschaltungsversuche berücksichtigt.
Autonome und staatsabhängige Kirchen
Abbildung 2
Tabelle 2: Größe und Wirtschaftskraft der Landwirtschaft in den Ländern Mittel-, Nordost-, Südost-und Osteuropas
Quelle: Eurostat, No. 1397, 12. Dezember 1997. *) World Bank, Selected World Development Indicators 1997, Daten des Jahres 1990.
Tabelle 2: Größe und Wirtschaftskraft der Landwirtschaft in den Ländern Mittel-, Nordost-, Südost-und Osteuropas
Quelle: Eurostat, No. 1397, 12. Dezember 1997. *) World Bank, Selected World Development Indicators 1997, Daten des Jahres 1990.
Die „Umkrempelung" der Gesellschaft nach den Vorgaben des Marxismus-Leninismus war die herausragendste, offen formulierte Aufgabe jedes sowjetsozialistischen Staates. Wäre dieses Ziel tatsächlich erreicht worden, wäre es zu einer Gleichschaltung der kulturellen Vielfalt des kommunistisch beherrschten Raumes gekommen. Die Religionen wären als das „Opium des Volkes“ verschwunden.
Die Religionen werden hier nicht von ungefähr erwähnt. Die Kulturen sind weitgehend durch sie geprägt, weil der Glaube an Gott weit beständiger ist als alle Ideologien des 19. Jahrhunderts. Aus diesem Grund zählen die Kirchen zu den wenigen Institutionen, die den Kommunismus überdauert haben. Besonders dort, wo sich die Kirchen nicht durch die Kollaboration mit dem atheistischen Staat kompromittiert haben, werden von ihnen heute große Leistungen bei der Integration der postkommunistischen politischen Gemeinschaften erwartet. Ob sie diesen Erwartungen gerecht werden können, ist allerdings zweifelhaft. Der kommunistische Druck brachte alle Religionsgemeinschaften dazu, sich auf ihre Grundpositionen zurückzuziehen, was unausweichlich eine konservative und defensive Haltung bei ihnen hervorrief Diese Haltung macht es den Kirchen heutzutage schwer, in einer freien Gesellschaft mit politischen Ideologien oder Programmen freiwillig in Wettbewerb zu treten und somit über die Integrationsfunktion hinaus zur Demokratisierung der politischen Gemeinschaft beizutragen. Nicht überall können die Kirchen zudem an eine Tradition von Autonomie gegenüber dem Staat aus der vor-kommunistischen Zeit anknüpfen.
In der Vergangenheit gerieten die Westslawen, die Balten, die Ungarn, die Kroaten und die Slowenen unter den Einfluß des „römischen“ Christentums. Diese vorwiegend zentral-und nordosteuropäischen Völker durchliefen wie die Westeuropäer die Reformation und Gegenreformation; sie wurden katholisch bzw. protestantisch. Auf dem Gebiet der heutigen Westukraine entstand zudem durch die Union von Brest 1596 die sogenannte unierte Kirche, die zwar griechisch-orthodox im Ritus war, doch dem Papst unterstellt wurde.
Demgegenüber gelangten die meisten Ost-und Südostslawen sowie die Albaner in den Wirkungs-bereich der christlich-orthodoxen Kirchen. Süd-osteuropa insgesamt unterlag zudem dem Einfluß des durch das Osmanische Reich eingeführten Islams. In Bulgarien und Rumänien überdauerte das orthodoxe Christentum die türkische Herrschaft. Nach der Entstehung dieser beiden monarchischen Nationalstaaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Kirchen dort -dem russisch-orthodoxen Reich Romanovs ähnlich -dem Staat untergeordnet. Diese Ähnlichkeit fand in der Zwischenkriegszeit ihr vorläufiges Ende: Während die Orthodoxie in Rumänien und Bulgarien den Status einer Staatsreligion erlangte wurden auf den Trümmern des Russischen Reiches in der Sowjetunion gewaltsame Versuche unternommen, die russisch-orthodoxe Kirche zu vernichten. Der Kommunismus strebte aber nur zeitweilig nach gänzlicher Abschaffung aller Kirchen. Mit der Zeit „begnügte“ er sich mit deren bedingungsloser Unterordnung unter den Staat. Es kann nicht verwundern, daß diese Zielsetzung in christlich-orthodoxen Ländern (nicht nur im früheren Ruß-land) am vollständigsten verwirklicht wurde.
Ebenso wenig verwunderlich ist nunmehr die Tatsache, daß in der postkommunistischen Ära die katholisch und protestantisch geprägten Gesellschaften es besser als die orthodox beeinflußten schaffen, Demokratien zu etablieren. Besonders die Entwicklung im Polen der letzten Jahre zeigt, daß selbst eine gleichsam triumphierende, weil aus dem Kampf gegen den Kommunismus als Sieger hervorgegangene katholische Kirche imstande ist, sich den realen Gegebenheiten der demokratischen Gesellschaft anzupassen. Ein Gegenbeispiel dazu stellt die russisch-orthodoxe Kirche dar, die die größten Probleme hat, sich dem „Wettbewerb“ zu stellen, und für ihre privilegierte Stellung staatliche Unterstützung sucht und findet Eine ähnliche Ausdifferenzierung war bereits direkt nach dem Ersten Weltkrieg zu beobachten: In den katholischen und protestantischen Ländern Zentral-und Nordosteuropas wurden damals republikanische Regierungen eingesetzt -im Gegensatz zu Monarchien in Südosteuropa und totalitären Regimen in Osteuropa.
Die Geschichte kehrt offenbar zurück: Wo der Einfluß des Katholizismus und Protestantismus endet, schwächt sich auch der Einfluß der lateinischen, individualistischen und der ausdrücklich antikollektivistischen Kultur Durch die heutige Ukraine verläuft die Ende des 16. Jahrhunderts (Union von Brest) gezogene Grenze zwischen der mehr und der weniger staatsabhängigen christlichen Kirche. Seit Ende der achtziger Jahre gibt es wiederum die Auseinandersetzung zwischen der ukrainischen unabhängig orthodoxen Kirche (die zuvor die russisch-orthodoxe Kirche in der Ost-ukraine verdrängt hatte) und der griechisch-katholischen (unierten) Kirche. Die letztgenannte Glaubensgemeinschaft war in der Sowjetunion bis in die Gorbatschow-Zeit verboten. Im Westen der Ukraine ist zudem der Katholizismus aktiv, der seit der Zarenzeit die Zuflucht für die verfolgten Unierten war
Etwas anders verhält es sich auf dem Territorium des heutigen Belarus. Dort wurde die griechisch-katholische Kirche schon zur Zeit der Zarenherrschaft weitgehend eliminiert, so daß eine Konkurrenz ausschließlich zweier Kirchen besteht: der schwächeren katholischen und der stärkeren russisch-orthodoxen. Die erste wurde und wird (wie in der Westukraine) häufig voreilig mit dem polnischen Element assoziiert Diese Grenze zwischen dem Katholizismus bzw.der unierten Kirche einerseits und der russischen bzw.den sonstigen autokephalen Orthodoxien andererseits deckt sich mit der Trennlinie zwischen den stärker und weniger nationalbewußten Teilen der ukrainischen bzw. weißrussischen Gesellschaft.
Unterschiedliche Nations-und Staatsbildung
Abbildung 3
Tabelle 3: Wirtschaftsentwicklung in ausgewählten Ländern Mittel-, Nordost-, Südost-und Osteuropas (in v. H.)
Quelle: Business Central Europe.
Tabelle 3: Wirtschaftsentwicklung in ausgewählten Ländern Mittel-, Nordost-, Südost-und Osteuropas (in v. H.)
Quelle: Business Central Europe.
Die westlichen Demokratien zeigen, daß ein gemäßigtes Nationalbewußtsein die pluralistische politische Gemeinschaft festigen kann. Am anschaulichsten kann diese integrative Funktion heutzutage am Beispiel der deutschen Wiedervereinigung beobachtet werden: Angesichts der oft beklagten „Mauer in den Köpfen“ zwischen Ost-und Westdeutschland erweist sich das Bewußtsein der nationalen Identität als eine wichtige, vielleicht sogar die zentrale Voraussetzung der deutschen Demokratie. Auch die baltischen Staaten, Polen, Tschechien und Slowenien zeigen unmißverständlich, daß Nationalbewußtsein erfolgreich, d. h. ohne die Demokratie zu bedrohen, eine integrative Funktion erfüllen kann
Bei der Mehrheit der westeuropäischen Völker ging die Entwicklung zur demokratiefreundlichen politischen Gemeinschaft als einander bedingende Prozesse der Nations-und Staatsbildung vonstatten Die Limitierung der Staatsmacht mit Hilfe der Verfassung -der Konstitutionalismus -war ein Bestandteil dieser Prozesse. Der Totalitarismus hat eine zum Teil vergleichbare Entwicklung nicht nur in Zentral-und Nordosteuropa, sondern auch in Südost-und Osteuropa unterbrochen bzw. negativ beeinflußt Der Sowjetsozialismus nahm all den betroffenen Völkern -seien sie historische oder junge Nationen -die staatliche Souveränität. Das gilt selbst für Rußland. Denn Lenin machte zwar Rußland zur wichtigsten Republik der Sowjetunion (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik), doch um den Preis der schwachen Ausstattung dieser Republik mit Institutionen, die russische Identität, Eigenart und Souveränität in der formell föderalen Sowjetunion hätten unterstreichen können. Bis 1990 existierte zum Beispiel keine kommunistische Partei der RSFSR, während die Sowjetrepubliken üblicherweise „ihre“ kommunistischen Parteien hatten.
Allen Ländern des Warschauer Paktes wurde die außenpolitische Einbindung in die Familie der westlichen Demokratien verweigert. Die Sozialistische Republik Rumänien setzte sich zwar Ende der fünfziger Jahre außenpolitisch von der Sowjetunion ab. Sie bezahlte dafür jedoch mit der zunehmenden Stärkung totalitärer Strukturen im Inneren. Eine außenpolitische Annäherung Rumäniens an die Demokratien fand ohnehin nicht statt.
Innenpolitisch setzte der Sowjetsozialismus überall die ihm nicht genehmen politischen Kräfte unter Druck und versuchte, jeweils den totalitären Herrschaftsanspruch der kommunistischen Partei durchzusetzen. Verfassung und Rechtsstaatlichkeit wurden unter diesen Umständen zur Maskerade. Die konstitutionellen Traditionen der betroffenen Länder wurden unterbrochen Zwar hatten nur die zentral-und nordosteuropäischen Gesellschaften rechtsstaatlich-konstitutionelle Traditionen, die ihren Namen verdienen Doch auch im teilweise unter Habsburger Herrschaft verbleibenden Südosteuropa setzten im 19. Jahrhundert konstitutionelle Prozesse ein. Zudem nahmen Rumänien und Bulgarien 1866 und 1879 ihre modernen Verfassungen an. Selbst das autokratische Rußland erlebte nach der Revolution des Jahres 1905 die ersten Versuche, die absolute Herrschaft des Zaren auf konstitutionellem Weg zu beschränken.
Unbeabsichtigt trug der Sowjetsozialismus gleichwohl in einigen Fällen zur Herausbildung moderner politischer Gemeinschaften bei. Dies darf zwar nicht als eine Vorstufe der Demokratisierung eingeschätzt werden, denn es gibt keine Gründe zur Annahme, daß die zentral-, nordost-, südost-und osteuropäischen Länder unter den Bedingungen der Freiheit auf dem Weg hin zur Demokratie weniger erreicht hätten als durch die Prägung der kommunistischen Gewaltherrschaft Doch sollen zwei Sachverhalte erwähnt werden. Der erste betrifft zwei konkrete Länder: Für die Ukraine und Belarus entstanden mit dem Gewinn der territorialen Einheit im Rahmen der Sowjetunion neue Chancen für ihr nation- und state-building. Von den Weißrussen und Ostukrainern kann freilich bis heute nicht behauptet werden, daß sie reife nationale politische Gemeinschaften bilden. Die weiß-russische Sprache wird von nicht mehr als 30 Pro-zent der Bevölkerung gesprochen. Russisch ist auch in der Ostukraine immer noch die wichtigste Sprache, und zwar nicht nur unter den 11 bis 13 Millionen dort lebenden Russen. Die Jahrzehnte des Kommunismus haben sich tragisch in die Geschichte der beiden Länder eingeprägt. Das ukrainische Volk erlebte mit der Ausrottung des Bauerntums durch Stalin seinen Genozid. Belarus blutete als slawische Sowjetrepublik unter der deutschen Okkupation. Keine anderen Länder leiden so unter den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe wie Weißrußland und die Ukraine. Trotzdem darf behauptet werden, daß die nationalen politischen Gemeinschaften in den beiden Ländern heute stärker sind als vor 1939.
Der zweite Sachverhalt gilt für alle vom Kommunismus beherrschten Völker: Der Sowjetsozialismus zog eine Egalitarisierung nach sich, indem er die in der Zwischenkriegszeit vorherrschenden Strukturen und zum Teil noch aristokratischen Eliten eliminiert hat Die Methoden dieser Eliminierung waren verbrecherisch und von ihrer Zielsetzung her zutiefst antidemokratisch. Zugleich hat sich in den armen sowjetsozialistischen Gesellschaften, in denen der Mittelstand vernichtet wurde, nicht zuletzt infolge der jahrzehntelangen sozialistischen Indoktrination ein egalitäres soziales Bewußtsein herausgebildet. Während die Popularität des Gleichheitsprinzips der Demokratie durchaus dienen kann, kann leider Ähnliches von der Armut nicht behauptet werden. Die spezifische Armut der kommunistischen Gesellschaften ging auf die Vernichtung des Marktes zurück.
Gute Entwicklung des Mittelstandes und Probleme mit der Industrie und Landwirtschaft
Keine Vorgabe der totalitären Ideologie ist von den sowjetsozialistischen Staaten in solcher Vollkommenheit verwirklicht worden wie der Aufbau der zentralen Planwirtschaft. Polen, die Sowjetunion und die DDR mußten mit diesem von der materiellen und menschlichen Substanz zehrenden verschwenderischen System noch immense Bevölkerungsverluste und Kriegszerstörungen verkraften. In der westlichen Fachliteratur wurde nach 1989 eine Diskussion darüber geführt, ob es günstiger wäre, die Marktwirtschaft in kleineren Schritten (die ,, Gradualismus“ -These) oder auf einen Schlag (die „Big Bang“ -oder „Schocktherapie" -These) wiederherzustellen Diese Diskussion trug leider starke pauschale wie ideologische Züge (Keynesianer versus Neoliberale) und blendete deshalb häufig die Unterschiede zwischen den jeweiligen postkommunistischen Volkswirtschaften und Gesellschaften aus. Nur im Fall der neuen Bundesländer konnte man sich darauf verlassen, daß ihre Besonderheiten beim Übergang zur Marktwirtschaft analytisch detailliert unter die Lupe genommen wurden. Für die übrigen nach-kommunistischen Staaten bot sich wieder der dehnbare Osteuropa-Begriff an, mit dem ökonomische Unterschiede mit dem Stichwort „Marktwirtschaft in Osteuropa“ überdeckt wurden.
So wurden für die de facto bankrotte Volkswirtschaft der Volksrepublik Polen des Jahres 1989 mit ihrer hohen Auslandsverschuldung und Hyperinflation (aber auch mit gewissen Bereichen wirtschaftlicher Eigeninitiative) die gleichen Rezepte empfohlen wie für die damals ausgeglichene (aber beinahe vollkommen staatlich gelenkte) Ökonomie der kommunistischen Tschechoslowakei. Auch die besonderen ökonomischen Probleme der Nachfolgestaaten der Sowjetunion im Vergleich zu Zentraleuropa konnten nicht im Rahmen der Debatte über die vermeintlichen Vor-und Nachteile der Schocktherapie bzw.des Gradualismus ausreichend berücksichtigt werden. Die postsowjetischen Staaten (wie auch die Nachfolgestaaten des kommunistischen Jugoslawiens) waren erst im Entstehen begriffen und u. a. damit beschäftigt, ihre eigenen Währungen zu schaffen und Wirtschaftsräume neu zu bestimmen, während es in Mitteleuropa „lediglich“ darum ging, die zentrale Plan-in eine Marktwirtschaft umzuwandeln.
In der Wirtschaftstransformation fällt dem jungen Mittelstand eine besonders bedeutsame Rolle zu. Er entstand infolge der sogenannten kleinen Privatisierung, die fast überall als erfolgreich abgeschlossen bewertet werden kann: In Estland, Tschechien, der Slowakei, Polen und Ungarn befinden sich mittlerweile beinahe alle Kleinunternehmen in privater Hand. In Rußland sind es immerhin 80 Prozent Obwohl sich der Mittelstand erst nach dem Ende des Kommunismus entfalten konnte, stellt er den dynamischsten Teil der postkommunistischen Volkswirtschaften dar.Exemplarisch belegen dies die Umsätze des Einzelhandels zwischen 1992 und 1995: In Rumänien steigen sie um 837, 4 Prozent, in Bulgarien um 394 Prozent, in Estland um 290, 7 Prozent, und in Polen -wo die Umstellung auf die Marktwirtschaft faktisch bereits 1989 begonnen worden ist -im gleichen Zeitraum immerhin noch um 152, 9 Prozent. Im letztgenannten Land stieg die Zahl der Einzel-handelsgeschäfte von 165 000 im Jahre 1988 auf 415 000 im Jahre 1994. Die Handels-und Vertriebsunternehmen machen heutzutage in Albanien und Rumänien sogar 50-60 Prozent aller Unternehmen aus. In Polen trägt diese Branche mit 13, 6 Prozent, in der Slowakei mit 16, 2 Prozent zur Wertschöpfung der Gesamtwirtschaft bei. Eine 1996 veröffentlichte Untersuchung belegt, daß diese Entwicklung jener in Westeuropa in den sechziger Jahren ähnelt. Nur etwas schlechter verhält es sich mit den Einzelhandelsgeschäften in Südost-und Nordosteuropa
Die Umstrukturierung der Schwerindustrie und Landwirtschaft ruft dagegen große Probleme hervor. Die Privatisierung der Schwerindustrie (darunter der Rüstungsindustrie) erweist sich in allen postkommunistischen Ländern als die schwierigste Aufgabe. Statistisch gesehen wurden im Jahre 1996 in Estland 93 Prozent, in Tschechien 87 Prozent, in Ungarn 82 Prozent, in Rußland 71 Prozent und in Polen 55 Prozent der großen Staatsunternehmen privatisiert. Der (unter postkommunistischen Staaten breiteste) tschechische Privatsektor stellte im gleichen Jahr 75 Prozent und der russische immerhin 69 Prozent der jeweiligen Volkswirtschaft dar Daß solche Statistik täuschen kann, hat die Krise der tschechischen Wirtschaft und Währung im Jahre 1997 gezeigt. Diese Krise ging nicht zuletzt auf die Schwächen der sogenannten Couponprivatisierung zurück, die sich mit der „Privatisierung des Besitztitels“ zufriedengibt, ohne mit der Sanierung der Unternehmen zu beginnen Auch die statistisch gesehen durchaus erfolgreiche russische Privatisierung hat nicht die Finanzkatastrophe des Jahres 1998 abwenden können Solche Krisen zeigen, daß die Privatisierung der großen Staatsbetriebe nicht zum Ziel an sich und auch nicht zum Propagandainstrument der Regierenden verkommen darf. Die Privatisierung hat nur als wirksames Sanierungskonzept Sinn.
Als solches bringt sie in den ersten Jahren schmerzhafte soziale Folgen. Denn in ausnahmslos allen postkommunistischen Ländern stellen die meisten großen staatlichen Industrieunternehmen unrentable, von der versteckten Arbeitslosigkeit geplagte Betriebe dar, die wegen ihrer Größe von zentraler Bedeutung für lokale Arbeitsmärkte sind. Ein beträchtlicher Teil dieser Industrie hat unter den marktwirtschaftlichen Bedingungen schlicht keine Überlebenschancen. Nüchtern zählt eine Analytikerin auf: Von den Mitte des Jahres 1998 noch ungefähr 3 200 Staatsunternehmen in Polen lassen sich höchstens ca. 1 200 privatisieren; dem Rest könne zum wirtschaftlichen Überleben nicht geholfen werden
Bei der Sanierung der überlebensfähigen Betriebe muß der Staat helfen, wobei der kürzeste und effizienteste Weg darin besteht, private Investoren zu finden. Eine große Rolle spielt in diesem Zusammenhang das ausländische Investitionskapital. Es hilft nicht nur, die Arbeitsplätze zu sichern, sondern trägt auch zur Überwindung des technologischen Rückstands der betroffenen Volkswirtschaften bei. Deshalb wird unter den Transformationsländern ein regelrechter Wettbewerb um ausländische Investoren geführt. Die Ausländer investieren in den postkommunistischen Ländern immer mehr, wobei nach den Jahren der Bevorzugung der Tschechischen und der Ungarischen Republik mittlerweile Polen als das attraktivste Investitionsland angesehen wird (siehe Tabelle 3, S. 13). Allein in der ersten Hälfte 1998 wurden in diesem Land gut 5 Mrd. US-Dollar vom Ausland investiert, so daß trotz der Rußland-Krise für das ganze Jahr mit Investitionen von ca. 10 Mrd. US-Dollar gerechnet wird
Die Probleme der Landwirtschaft haben wiederum in verschiedenen Ländern unterschiedliche Ursachen. Die Eliminierung des privaten Bauerntums in der Sowjetunion bleibt nach wie vor dafür verantwortlich, daß in Rußland immer noch die meisten Lebensmittel importiert werden müssen. Die Umbenennung der Kolchosen und Sovchosen in „kollektive landwirtschaftliche Betriebe“ hat verständlicherweise weder in diesem Land noch in der Ukraine eine Effizienzsteigerung der staatlichen Landwirtschaft nach sich gezogen. Die infolge der Zulassung des privaten Eigentums an Boden erwartete Gründungswelle privater Land- Wirtschaftsbetriebe blieb zudem aus. So gab es im Januar 1997 in der Ukraine mit ihren gut 50 Millionen Bewohnern lediglich 35 000 private Bauern-höfe In Belarus, wo die Kolchosen und Sovchosen nahezu unverändert beibehalten worden sind, versuchen sich lediglich 2 500-3 000 Bauern als Pächter des nach wie vor staatlichen Ackerlandes. Nach offiziellen Angaben erwirtschaften dort von ca. 2 500 Kolchosen nur 60 keine Verluste Es hat sich gezeigt, daß die „kollektivierte Mentalität“ der Kolchosbauern sich in wenigen Jahren nicht verändern läßt
Ganz anders verhält es sich mit einem anderen Land, das große Probleme mit der Landwirtschaft hat -mit Polen Dort befinden sich zwar über 92, 8 Prozent des Ackerlandes in privater Hand. Die polnische Landwirtschaft ist jedoch im Verhältnis zur gesamten volkswirtschaftlichen Produktion zu groß, ihr Beitrag zur Volkswirtschaft ist äußerst gering (siehe Tabelle 2). Immer noch leben 38 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande. Davon hat freilich nur die Hälfte etwas mit der Landwirtschaft zu tun. Einen noch geringeren Anteil -nur ein Viertel -der Dorfbewohner stellen Vollerwerbs-Landwirte dar. Von den (gut zwei Millionen) landwirtschaftlichen Betrieben wird die eine Hälfte entweder gar nicht für landwirtschaftliche Zwecke oder lediglich für den Eigenbedarf genutzt. Die andere Hälfte, bestehend aus ca. 960 000 Betrieben arbeitet hauptsächlich für den Markt. Von diesen knapp eine Million Betrieben hat lediglich ein Drittel die Chance, sich in der gesamteuropäischen Zukunft zu behaupten. Auch der Großteil der restlichen Betriebe könnte den EU-Beitritt Polens vorerst überstehen, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die Landwirte -wie dies schon heute häufig der Fall ist -einer zusätzlichen Beschäftigung nachgehen Die zum großen Teil kollektive Landwirtschaft in den übrigen zentraleuropäischen Ländern ist demgegenüber überschaubar, so daß die mit ihr verbundenen Probleme -wie in der Europäischen Union -mit Hilfe des staatlichen Interventionismus unter Kontrolle zu halten sind. Anders verhält es sich mit Südost-und Nordosteuropa, wie Tabelle 2 zeigt.
Marktwirtschaft und „politischer Kapitalismus“
Es ist üblich, den ökonomischen Erfolg bzw. Mißerfolg der postkommunistischen Wirtschaftsumwandlung anhand ausgewählter makroökonomischer Indikatoren zu messen. Da jedoch auch eine weitgehend verstaatlichte Volkswirtschaft gute Indikatoren aufweisen kann, könnte den Beobachtern dabei das angestrebte Transformationsziel entgehen. Auch das Beklagen von hohen Inflationsraten, steigender Arbeitslosigkeit, gewaltigen Produktionseinbrüchen (siehe Tabelle 3) und des beschleunigten Auseinanderfallens der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer der wirtschaftlichen Transformation führt analytisch nicht weiter. Diese bedauernswerten Erscheinungen waren in den ersten Reformjahren unausweichliche Begleiter der ebenso unausweichlichen Freigabe der bisher staatlich regulierten Preise, der Privatisierung der Staatsunternehmen, der beschleunigten Kapitalakkumulation sowie der Öffnung der postkommunistischen Volkswirtschaften nach außen.
Wirtschaftliche Erfolge im Postkommunismus können angesichts der länderspezifisch unterschiedlichen ökonomischen Ausgangsbedingungen unter Berücksichtigung der mittlerweile erkennbaren Entwicklungstendenzen nur als relativ betrachtet werden. Es gilt zuallererst die Frage zu beantworten, ob es durch die Etablierung einer Marktwirtschaft gelungen ist, die Trennung von Wirtschaft und Politik durchzusetzen (ohne daß der Staat seine Rahmenordnungsfunktion aufgegeben hätte). Ohne diese Trennung verwandelt sich die postkommunistische Staatsverwaltung in ein undurchsichtiges korruptes System, in dem unter den Machthabern eine Privatisierung des vom Volk in staatlichen bzw. staatsabhängigen Unternehmen erarbeiteten Gewinnes vollzogen wird (der „politische Kapitalismus“ Den Wirtschaftserfolg zeigen auch kontinuierliche Wachstumsraten und steigende ausländische Investitionen an; schließlich gelten die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die Preisentwicklung als ökonomische und zugleich soziale Indikatoren.
Nur in den neuen Bundesländern konnte -dank der staatlichen Geldtransfers in Höhe von bisher mehr als 1, 5 Billionen DM -die Wirtschaftstransformation von vornherein sozial abgefedert werden. Damit ist allerdings auf dem Gebiet der ehemaligen DDR weder ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum gewährleistet noch die Arbeitslosigkeit in Schranken gehalten worden. In wirtschaftsliberalen Kreisen Zentraleuropas wird gerade diese Fixierung auf die soziale Absicherung der ökonomischen Umstellung sowie auf Lohnangleichung an den Westen der Bundesrepublik für diese Mißerfolge verantwortlich gemacht. Dazu ein Kommentar des früheren (1989-1923) und heutigen polnischen Vize-Premierministers und Finanzministers, Leszek Balcerowicz: „Die ehemalige DDR hat der Welt zwei Lehren erteilt: Sie zeigte einerseits, was der Sozialismus ist, und sie machte andererseits anschaulich, welche Gefahren beim undisziplinierten Übergang zum Kapitalismus drohen.“ Und an einer anderen Stelle: „Nach Ostdeutschland wurde eine , übersozialisierte 1 Marktwirtschaft in einer Version übertragen, die sich kraß von der ursprünglichen (Konzeption der sozialen Marktwirtschaft) unterschied. In der damaligen (politischen) Situation (des Jahres 1990) hatte die Regierung der Bundesrepublik wahrscheinlich einen sehr engen Gestaltungsspielraum: eine weniger sozial ausgerichtete Politik hätte vermutlich zur Steigerung der Migration aus Ostdeutschland geführt.. . Wenn wir jedoch die Sache im nachhinein betrachten, dann hat sich die , Übersozialisierung'des westdeutschen Wirtschaftssystems gerächt, ein Ergebnis der vorausgegangenen mehr als zehn Jahre. Auf die ehemalige DDR mußte ein System übertragen werden, das denkbar schlecht für ein Land taugte, das so viel nachzuholen hat. .. Doch den schwierigsten Schlag hat der Wirtschaft der ehemaligen DDR, und dann der Bundesrepublik, das rapide Ansteigen der Arbeitskosten versetzt.“
Denn aus der Sicht der „normalen“ postkommunistischen Länder besteht das Hauptgebot der ökonomischen Transformation darin, insbesondere die relativ niedrigen Lohnkosten als einen der wenigen Wettbewerbsvorteile in einer globalisierten Weltwirtschaft mit bereits aufgeteilten Märkten zu nutzen. Dies bedeutet, daß sich die postkommunistischen Volkswirtschaften gezwungenermaßen auf einen langen Umstellungsprozeß einrichten müssen, an dessen Anfang eine schmerzhafte Sanierung aus eigener Kraft steht; anschließend soll eine allmähliche Wohlstandssteigerung kommen Die mit dem Wirtschaftswachstum im Rahmen eines schon marktwirtschaftlichen Systems einhergehenden Mehreinnahmen würden zudem eine aktivere Sozialpolitik des Staates möglich machen.
Aus der heutigen Perspektive kann verallgemeinert werden, daß nicht so sehr die Wahl des graduellen oder des „schocktherapeutischen“ Weges, sondern letztlich die Konsequenz bei der Durchsetzung von Marktmechanismen -auch gegen Widerstände aus der Bevölkerung -den ökonomischen Erfolg der Systemtransformation bestimmte. Tabelle 3 zeigt, daß unter den Ländern, die auf einen solchen relativen ökonomischen Erfolg verweisen können, erstaunlich viele sind, deren ökonomische Situation am Ende des Kommunismus katastrophal war: Litauen, Lettland, Estland, Slowenien, die ihren Staat erst aufbauen mußten, sowie Polen. Ihre jungen Marktwirtschaften weisen mittlerweile hohe Wachstumsraten bei immer größerer Preisstabilität auf. Auch die durch den Systemwechsel verursachte Arbeitslosigkeit geht zurück; zudem steigen die Investitionen aus dem Ausland.
Von den übrigen EU-Anwärtern hat Ungarn in den letzten Jahren viele Versäumnisse der zuvor regierenden konservativen Koalition wettgemacht. Berücksichtigt man in Tschechien die relativ günstigen Ausgangsbedingungen Vaclav Klaus’, so rechtfertigt seine sich hinter liberaler Phraseologie versteckende Wirtschaftspolitik, die acht Jahre lang eine Privatisierung ohne Sanierung der Betriebe und eine Marktwirtschaft mit Vollbeschäftigung ausprobierte, den Ruf Tschechiens als Musterland der ökonomischen Systemtransformation nicht. Die Slowakei unter Vladimir Meciar hat wirtschaftlich nicht weniger als Tschechien erreicht (politisch aber schon!), zumal sie den Großteil der maroden tschechoslowakischen Militärindustrie „geerbt“ hat.
In den übrigen Ländern paralysierte die Angst der Regierenden vor den sozialen Kosten der marktwirtschaftlichen Umwandlung die Reformen. Der gewöhnliche Legitimitätsbonus der ersten nach-kommunistischen Regierungen wurde dort nicht genutzt, um die notwendige Trennung von Wirtschaft und Politik durchzusetzen. Die sozialen Kosten des „politischen Kapitalismus“ erweisen sich dann jedoch als ungleich höher als die sozialen Einbrüche infolge der Einführung des Marktes. Exemplarisch kann man das heutzutage am Beispiel des Bergbaus beobachten. Während die Bergleute der unrentablen Schächte in Polen mit (zumindest für polnische Verhältnisse) hohen Geldzuweisungen (von ca. 23 000 DM pro Person) dazu motiviert werden, ihre Jobs als Bergarbeiter aufzugeben erweisen sich die russische und ukrainische Regierung weder als willens, ein wirtschaftlich tragbares Programm zur Umstrukturierung der Bergbauindustrie durchzusetzen, noch als imstande, den Arbeitern die ausstehenden Löhne auszuzahlen. Nur anhand solcher Vergleiche können die tatsächlichen sozialen Folgen der durchgeführten bzw. ausgelassenen radikalen Wirtschaftsreformen in den ersten Jahren der Systemtransformation sinnvollerweise beurteilt werden
Auf der Verliererseite der ökonomischen Entwicklung steht heute ohne Zweifel Südosteuropa, wo die bekannten politischen Entwicklungen im ehemaligen Jugoslawien und in Albanien die Wirtschaftslage nachhaltig verschlimmerten (Slowenien und Mazedonien stellen hier Ausnahmen dar). Bulgarien und Rumänien stehen wiederum für jene südosteuropäischen Volkswirtschaften, die in den Jahren 1996/97 infolge der inkonsequenten Umsetzung der Reformen in eine katastrophale Lage gerieten. Auf diese Katastrophe reagieren sie allerdings seit 1997 mit entschiedeneren Maßnahmen als zuvor, die sich an andernorts durchaus erfolgreichen „schocktherapeutischen“ Modellen orientieren
Schlecht ist auch die Lage in Osteuropa. Die Finanzkatastrophe Rußlands im Jahre 1998 zeigt nochmals, daß die postkommunistische Einführung der Marktwirtschaft keineswegs mit Preisfreigabe und Stabilisierung der Währung abgeschlossen ist, und daß es nicht weiterhilft, wenn die Politik die versäumten Reformen schönredet Die Lage in Rußland wird zusätzlich dadurch erschwert, daß es dort innerhalb der politischen Klasse keinen Konsens hinsichtlich des Über-gangs zu einer modernen Marktwirtschaft gibt. In Belarus unter dem Präsidenten Aleksander Lukasenko kann sogar von einem verbissenen Versuch gesprochen werden, die zentrale Planwirtschaft (und die politische Diktatur) zu retten. Schließlich läßt sich die wirtschaftspolitische Situation in der Ukraine, wo trotz gravierender Unzulänglichkeiten die demokratischen Verfahren mehr als in Belarus respektiert werden, als „demokratischer Sozialismus“ beschreiben: Eine weitgehend verstaatlichte Volkswirtschaft soll dort mit einem sich demokratisierenden politischen System vereint werden. Sowohl die ökonomischen als auch die politischen Folgen dieses Experiments sind verheerend. Insgesamt zeigt die wirtschaftliche Entwicklung des postkommunistischen Raumes, daß es keines Wohlstandsüberschusses bedarf, um zur Demokratie zu gelangen. Dafür sprechen die Erfahrungen Polens, Ungarns, Tschechiens, Sloweniens, Litauens, Lettlands und Estlands, deren Pro-Kopf-Nationaleinkommen zumindest für die Lebensdauer einer Generation unter dem Niveau der ärmsten Mitglieder der Europäischen Union bleiben werden Ebenso wichtig erscheint die Erkenntnis, daß der ökonomische Erfolg nicht direkt mit der kulturellen Zugehörigkeit und den politischen Traditionen des jeweiligen Landes zusammenhängt, sondern größtenteils von der jeweiligen Wirtschaftspolitik bestimmt wird. Und schließlich: Im Posttotalitarismus hilft die Demokratie dem Markt, weil sie die Autonomie der Wirtschaft gegenüber der Politik fördert.
Zivil-und Nicht-Zivilgesellschaft
Ob die Zivilgesellschaft der postkommunistischen Systemtransformation förderlich ist, dessen sind sich „Ostmitteleuropa“ -Experten nicht sicher. Dies demonstriert ein Gelehrter, der im Fehlen der für die Zivilgesellschaft notwendigen intermediären Organisationen im Postkommunismus ein „strukturelles Problem“ erkennt. Im gleichen Atemzug warnt er jedoch davor, daß mit „Gewerkschaften, die erfolgreich die Interessen der Belegschaften vertreten. .., die ohnedies mehr oder weniger niedrige politische Stabilität . . . noch prekärer und das Legitimationsdefizit der neuen Eliten und Parteien noch größer“ werden könnten So kann der Begriff der Zivilgesellschaft zu einem unbestimmten Terminus werden, mit dem sowohl intuitive Hoffnungen als auch Befürchtungen zum Ausdruck gebracht werden.
Dennoch muß die Vorstellung von einer civil society ernst genommen werden Dafür spricht schon die Tatsache, daß die Vision der Zivilgesellschaft in den siebziger und achtziger Jahren entscheidend zur Formierung des Widerstandes gegen das kommunistische System beigetragen hat Mit der Entstehung der polnischen „Solidarnosc“ im Jahre 1980 ist die intellektuelle Renaissance dieser Konzeption auch im Westen verbunden. Während die Idee der Bürgergesellschaft im Kommunismus den intellektuellen Abschied von der Utopie des Sozialismus mit menschlichem Antlitz (die Leitidee des Prager Frühlings 1968) wie auch eine schroffe Gegenüberstellung von Gesellschaft und Staat manifestierte, wurde diese Idee im Westen nicht zuletzt deshalb aufgenommen, weil sie die Hoffnung auf einen „dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus“ nährte
Wie nachvollziehbar die Perspektive einer Trennung von Staat und Bürgergesellschaft während der Zeit des Totalitarismus auch gewesen sein mag, gefährlich wäre ihre Beibehaltung in der nachkommunistischen Zeit, denn sie droht eine Gegnerschaft dort aufzubauen, wo im Rahmen des demokratischen Systems eine -wenn auch konfliktbeladene -Kooperation geboten ist Diese Perspektive gab übrigens bereits die Zustände in den kommunistisch verfaßten Gesellschaften falsch wieder. Die Apologeten der sich gegen den Staat stellenden „sozialistischen civil society" übersahen nämlich, daß im Sowjetsozialismus nahezu alle „Bürger“ hinsichtlich ihres materiellen Wohlergehens vom Staat abhängig waren: In diesem kollektivistischen System mit der verstaatlichten Volkswirtschaft erschöpfte sich die Mündigkeit -das Kennzeichen des Bürger-Seins -in häufig heroischer Zivilcourage. Zwar stellt diese Eigenschaft eine notwendige, aber keineswegs ausreichende Voraussetzung der Zivilgesellschaft dar. Eine posttotalitäre Bürgergesellschaft kann deshalb nur dann entstehen, wenn wirtschaftliche Eigeninitiative und Selbstfürsorge des Einzelnen belohnt und die verbreitete Anspruchshaltung gegenüber dem Staat zurückgedrängt wird. In der Theorie hört sich dies zwar logisch an, in der Praxis ist es freilich nicht ohne soziale Spannungen und krasse Ungerechtigkeiten zu verwirklichen. Denn der Politik ist es lediglich möglich, zuerst die Bedingungen für den Wirtschaftserfolg einer Minderheit zu schaffen. Die Hoffnung vieler Intellektueller, daß nach dem Totalitarismus die civil society sozusagen eruptionsartig die bisher vom omnipotenten Staat miserabel verwalteten gesellschaftlichen Räume ausfüllen wird, erwies sich deshalb als trügerisch Die anfängliche „Leere der ökonomischen Interessen“, in der die ersten postkommunistischen Regierungen handelten, konnte zwar kurzfristig als für die Reformen vorteilhaft betrachtet werden. Mittel-und langfristig ist jedoch die Enttäuschung über die schwache Zivilgesellschaft durchaus berechtigt. In manchen Ländern -wie in Rußland, der Ukraine, Belarus -ist diese Enttäuschung so groß, daß dort die Frage diskutiert wird, ob aus früheren totalitären Systemen heraus eine civil society überhaupt entstehen kann.
Die Entstehung der Zivilgesellschaft im Posttotalitarismus muß als ein langer Prozeß betrachtet werden, der mit Hilfe von administrativ-politischen Mitteln lediglich unterstützt werden kann. Dies geht nicht ohne offene Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Daß beispielsweise innerhalb der russischen intelligencija auf die extremen Schwächen der eigenen Tradition der Bürgergesellschaft immer wieder hingewiesen wird, ist ein unabdingbarer Beitrag zur Entstehung einer neuen Zivilgesellschaft. Es ist schwer vorauszusagen, wie erfolgreich die Bildung der civil society in der Zukunft sein wird. Heutzutage verläuft jedenfalls im postkommunistischen Europa eine Trennlinie zwischen jenen Ländern, in denen vorwiegend das Fehlen einer Tradition und Kultur der Bürgergesellschaft konstatiert wird und jenen, die klagen, daß der Zustand ihrer Zivilgesellschaft noch nicht den westlichen Standards entspricht Es ist eine Trennlinie, die wieder in etwa zwischen Südost-und Osteuropa auf der einen sowie Zentral-und Nordosteuropa auf der anderen Seite verläuft. Auch dieser Aspekt verdeutlicht, wie sehr man nicht nur hinsichtlich der Transformationsprozesse die einzelnen Länder voneinander unterscheiden muß und daß es nicht möglich ist, pauschal von Ost-oder Mitteleuropa zu sprechen.
Fazit
Eine gute demokratische Entwicklung weisen die meisten nordost-und mitteleuropäischen Länder auf. Sie brachten in die postkommunistische Ära andere historisch-kulturelle Voraussetzungen mit und entwickeln ihre bürgerlichen Gesellschaften erfolgreicher als die Staaten Südost-und Osteuropas. Zugleich unterscheiden sich heute die mittel-und nordosteuropäischen Länder untereinander hinsichtlich des relativen ökonomischen Erfolges ihrer jeweiligen Wirtschaftspolitik.
Diese Sachverhalte lassen den Schluß zu, daß bei der Suche nach Erklärungen für die Ausdifferenzierung der postkommunistischen politischen Systeme in Demokratien und quasidemokratische Auroritarismen primär auf kulturelle Faktoren zurückgegriffen werden muß. Damit wird selbstverständlich nicht behauptet, daß eine gute wirtschaftliche Entwicklung die Demokratisierung nicht fördern würde. Im Gegenteil: Der zunehmende Wohlstand trägt zweifellos zu verstärkten Partizipations-und Repräsentationswünschen der Bürger bei.
Jerzy Mackow, PD, Dr. phil., geb. 1961; wissenschaftlicher Assistent am Institut für Internationale Beziehungen der Universität der Bundeswehr Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Die Normalisierung der neuen alten Nachbarschaft. Zum aktuellen Stand der deutsch-polnischen Beziehungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 39/95; Der Einfluß der Systemkrise des Sowjet-sozialismus auf Parteienbildung in Rußland und Polen, in: Dieter Segert (Hrsg.), Spätsozialismus und Parteien-bildung in Osteuropa nach 1989, Berlin 1996; Parlamentarische Demokratie und Autoritarismus. Erfolge und Mißerfolge der postkommunistischen Verfassunggebung, Hamburg 1998: Die Konstruktion politischer Stabilität. Polen und Rußland in den Umbrüchen der achtziger und neunziger Jahre, Baden-Baden 1998.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).