Anpassungsprobleme in postsozialistischen Ländern Osteuropas im Vorfeld der EU-Osterweiterung
Paul J. J. Weifens
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Zusammenfassung
Die Osterweiterung der Europäischen Union hat eine Reihe von Anpassungsproblemen zur Folge, sie bietet aber zugleich auch politische wie ökonomische Chancen im Ost-West-Verhältnis. Die von der EU beabsichtigte Osterweiterung konfrontiert die neuen Beitrittsländer mit ordnungs-und stabilitätspolitischen Vorgaben, die sich aus den EG-Verträgen ergeben. Das Umsetzen einer umfassenden Rechtsstaatspolitik, einer mit dem internationalen Regelwerk kompatiblen Wachstumsstrategie sowie einer Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik nach marktkonformen Grundsätzen ist in den Beitrittsländern angesichts einer wirtschaftlich und politisch schwierigen Ausgangsposition nur mittel-und langfristig möglich. Erfolgreiche Reformen sowie die Lösung der Anpassungsprobleme in Osteuropa sind aus Sicht der Europäischen Union dreifach wünschenswert: Die EU-Exporte werden steigen und der Immigrationsdruck nachlassen, zugleich werden die budgetären Belastungen für die EU bei einer erfolgreichen Wachstumspolitik der postsozialistischen Transformationsländer begrenzt. Eine EU-Österweiterung birgt Risiken nicht nur hinsichtlich erhöhter Strukturfonds, sondern verlangt auch im Interesse eines funktionsfähigen „Politclubs“, daß die EU institutionelle Reformen schon in der ersten Osterweiterungsphase energisch angeht. Die Prosperität und Stabilität der EU wie ihre Fähigkeit zu erfolgreichem regionalem Krisenmanagement -etwa im Hinblick auf Rußland -können nur erhalten bleiben, wenn neben den Erfordernissen demokratischer Legitimität auch effiziente Entscheidungsprozesse auf der supranationalen Ebene verankert werden. Der Kreis der osteuropäischen Transformationsländer könnte allerdings im Zuge einer ersten Osterwei-terungsrunde ökonomisch verstärkt divergieren, was zu Instabilitäten führen kann, welche die Europäische Union aus Eigeninteresse eindämmen müßte. Im Vorfeld der Osterweiterung sind für alle osteuropäischen Transformationsländer auch massive technische Hilfen eine sinnvolle Investition in den Aufbau einer gesamteuropäischen Marktwirtschaft.
I. Osteuropa vor differenzierten Herausforderungen
Die EU hat 1997 beschlossen, mit zehn osteuropäischen Ländern Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, zunächst allerdings in einer ersten Osterweiterung mit der Fünfer-Gruppe Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien und Estland; hinzu kommt noch Zypern. Eine zweite EU-Osterweiterungsrunde könnte Rumänien, Bulgarien, die Slowakische Republik, Litauen und Lettland betreffen. In Osteuropa wird eine mögliche EU-Osterweiterung mit großer Hoffnung gesehen, in der EU-15-Gruppe mit positiven Erwartungen im Hinblick auf eine Markterweiterung, aber auch mit Skepsis hinsichtlich steigender Haushaltsbelastungen, wachsenden Immigrationsdrucks und verstärkter ordnungspolitischer Gegensätze. Letzteres ergibt sich vor allem vor dem Hintergrund jahrzehntelanger sozialistischer Wirtschaftssystemprägung der osteuropäischen Länder.
Erst durch die Systemtransformation ist eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung in diesen Ländern entstanden, wobei vor allem Polen, Ungarn und Tschechien den Transformationsprozeß energisch angingen. Privates Eigentum an Produktionsmitteln, die Gründung von Kapitalmärkten bzw. Börsen und die Einführung eines Rechtsstaats sind besonders wichtige Elemente der Transformation. Hinzu kommt eine Neudefinition der Rolle des Staats in der Wirtschaftspolitik und eine außenwirtschaftliche Öffnung in Verbindung mit der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen (z. B. Internationaler Währungsfonds [IMF], OECD, Welthandelsorganisation). Die Mitgliedschaft in den „westlichen“ internationalen Organisationen bedeutet die Übernahme eines Katalogs von Pflichten und Rechten für den internationalen Wirtschaftsverkehr -speziell für Außenhandel und Kapitalverkehr -, der entscheidend zum Wohlstand in modernen Volkswirtschaften beiträgt: Durch Handel lassen sich Spezialisierungsvorteile und weitere Wachstumsimpulse erzielen; wachsende Exporte erlauben auch kleinen Volkswirtschaften, Vorteile in der Produktion von Massengütern zu realisieren, wachsende Importe technologieintensiver Vorprodukte und Investitionsgüter erlauben die Nutzung des weltweiten technischen Wissens. Zudem kann eine größere Vielfalt von Produkten importiert werden, was zum Nutzen der Verbraucher ist. Allerdings bringen Handel und Kapitalverkehr auch Anpassungszwänge mit sich, da sich jedes Land in der Produktion auf die Güter spezialisieren muß, für die es hinsichtlich der Produktionskosten und der Faktorausstattung günstige Voraussetzungen besitzt: Mit preiswerten, einfachen Arbeitskräften ausgestattete Volkswirtschaften werden sich tendenziell auf arbeitsintensive, standardisierte Güter spezialisieren; mit qualifizierten Arbeitnehmern und Realkapital relativ reichlich ausgestattete Länder werden hingegen vor allem human-und realkapitalintensive, technologisch anspruchsvolle Güter herstellen und exportieren.
Mit dem Zusammenbruch des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) bzw.der UdSSR 1991 steht Osteuropa nach Jahrzehnten einer sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft mit ihrer Isolation gegenüber dem Weltmarkt vor der Herausforderung einer marktwirtschaftlichen System-transformation, die notwendigerweise mit einer außenwirtschaftlichen Öffnung und einer veränderten Spezialisierung verbunden ist. Politische Transformation und ökonomischer Strukturwandel Ost-europas haben schon binnen weniger Jahre zu einem rasch wachsenden EU-Osteuropa-Handel geführt, in einigen Transformationsländern auch zu beträchtlichem Wirtschaftswachstum. Westeuropa unterstützt die Transformation des früheren RGW-Raums insbesondere durch das von der EU administrierte PHARE-Programm (PHARE = Poland and Hungary. Action for Restructuring of the Economy; mittlerweile generelle ökonomische EU-Hilfsprogramme für Länder Osteuropas), durch Zusammenarbeit in den wichtigen internationalen Organisationen -auch durch die neugegründete „Osteuropa-Bank“ in London (European Bank for Reconstruction and Development, EBRD) -und die sogenannten Europa-Verträge. Diese Verträge verbinden die EU-seitigen asymmetrischen Importliberalisierungen mit politischen Kooperationsangeboten. Die meisten mengenmäßigen Beschrän29 kungen gegenüber den Visegrädländern (CEFTA) Osteuropas wurden bis 1996/97 aufgehoben.
Vielen postsozialistischen Ländern erscheint die EU als ein politisches und ökonomisches Gravitationszentrum. Naturgemäß verbindet sich mit der Aussicht auf EU-Mitgliedschaft nicht nur die Hoffnung auf die Vorteile des Freihandels bei Gütern und Dienstleistungen, sondern auch die Wahrnehmung der Vorzüge eines freien Kapitalverkehrs und freier Arbeitskräftemobilität sowie der Zugriff auf die Struktur-, Kohäsions-und Agrarfonds der Gemeinschaft. Diese Fonds kommen der Landwirtschaft sowie relativ armen Regionen bzw. Mitgliedstaaten der EU-15-Gruppe zugute. Abgesehen von Tschechien können alle früheren RGW-Länder als relativ arm gelten, zudem haben sie hohe Beschäftigungsanteile in der Landwirtschaft.
Die Europäische Union setzt sich neben dem Projekt der Währungsunion zum Ende der neunziger Jahre verstärkt mit Fragen einer EU-Osterweiterung auseinander, wobei sie angesichts der Binnenmarkterfordernisse und der Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrags mögliche EU-Ostländer mit zusätzlichen Anpassungserfordernissen auf dem Weg in die Marktwirtschaft konfrontiert. Darüber hinaus hat sich eine erhebliche ökonomische Differenzierung im Transformationsprozeß vollzogen, wobei Rumänien und Bulgarien 1997 mit negativen Wachstumsraten gegenüber den anderen Ländern abfielen -ähnlich wie Rußland und die Ukraine, wo geringes Wachstum entstand und der Transformationsprozeß noch weit von einem Abschluß entfernt ist 1998 stürzten beide Länder in eine Krise.
II. Systemstrategische Anpassungsprobleme in postsozialistischen Ländern
Abbildung 6
Übersicht 2: Systenitransformationselemente
Übersicht 2: Systenitransformationselemente
Marktwirtschaftliche Systemtransformation erfordert neben institutionellen Innovationen eine makroökonomische Stabilisierung bei gleichzeitiger Preisliberalisierung. Letztere sind notwendig, um effiziente Wachstumsprozesse über marktliche Preissignale in Gang zu setzen. Notwendig ist aber auch ein Rechtsstaat, der die Regeln vorgibt, auf deren Basis wirtschaftliche Freiheit zu nutzenstiftenden Kontrakten und Transaktionen führen kann. Schließlich bedarf es der Entwicklung von Faktormärkten für (mobile) Produktionsfaktoren und damit der Herausbildung von Kapital-und Arbeitsmärkten sowie eines Markts für Boden als den immobilen Faktor mit idealen Eigenschaften als Kreditsicherheit und damit unverzichtbaren Katalysator für wachstumsförderliche Kapitalmärkte. Wo Eigentum an Boden von In-und Ausländern nur sehr beschränkt erworben werden kann, sind die Voraussetzungen für eine Expansion kreditfinanzierter Investitionen und Innovationen nicht gegeben. Ferner bedarf es in einer modernen Industrie-und Dienstleistungsgesellschaft auch einer leistungsfähigen Infrastruktur, damit die „Verkehrswirtschaft“ -wie man die Marktwirtschaft vor einem Jahrhundert benannte -raumwirtschaftlich verteilte Produktions-und Konsumprozesse optimal zu organisieren vermag.
Struktureller Ausgangspunkt der Transformation in Mittelosteuropa war eine überdimensionierte Industrie, die von staatlichen Großbetrieben mit einer geringen Weltmarktorientierung und sehr geringer Wettbewerbsintensität auf den Märkten -zumal bei typischen Nachfrageüberschüssen -geprägt war. 1989/90 waren in Osteuropa Inkonvertibilität der Währung, Nachfrageüberschüsse auf den Märkten und eine in den achtziger Jahren zunehmend florierende sozialistische Schattenwirtschaft charakteristisch. Sie erreichte etwa in Polen nach verschiedenen Untersuchungen 10-25 Prozent der offiziellen Wertschöpfung was bei ähnlichen Größenordnungen in anderen RGW-Ländern bedeutet, daß die nach 1990 entstandene kapitalistische Schattenwirtschaft die teilweise massiven Rückgänge der offiziellen Wertschöpfung in den Transformationsländern kaum kompensieren kann. Offiziell ausgewiesene erhebliche Rückgänge im Bruttoinlandsprodukt einiger früherer RGW-Länder sind daher, bereinigt um die Überproduktionseffekte im Investitionssektor im sozialistischen System und unter Berücksichtigung wohlfahrtserhöhender Differenzierungseffekte im neuen marktwirtschaftlichen Konsumgüterangebot, als Indikator für eine sehr schwierige Wirtschaftslage anzusehen. Der kumulierte Rückgang des Brutto- inlandsprodukts in Rußland in der Periode 19911997 macht nach neueren statistischen Untersuchungen gut ein Drittel aus, was dem Umfang des Rückgangs des US-Sozialprodukts in der Weltwirtschaftskrise gleichkommt.
Was die Schattenwirtschaft angeht, hatten sich in den achtziger Jahren in den sozialistischen Ländern einerseits große Diskrepanzen zwischen offiziellem Wechselkurs und Schwarzmarktwechselkurs und andererseits zu Ende der Dekade hohe Inflationsraten ergeben, was u. a. Reflex der weichen Budgetbeschränkung (leichter Zugang der Firmen zu Staatskrediten) bei Staatseigentum an den Produktionsmitteln in der Zentralverwaltungswirtschaft war und zu negativen Realzinssätzen (Zinsen minus Inflationsrate) und einer zunehmend verzerrten Ressourcenallokation beitrug. Außerdem gab es in einigen Ländern -nicht zuletzt infolge steigender Subventionierung -erhebliche Haushaltsdefizite sowie eine bedrohliche Auslandsverschuldung. Die Verhaltensweisen der Wirtschaftssubjekte waren angesichts instabiler Verhältnisse und einer erodierenden politischen Legitimität zunehmend durch kurzfristige Nutzenmaximierungsstrategien geprägt, wobei in der expandierenden Schattenwirtschaft naturgemäß vielfach gegen offizielle Normen und Gesetze verstoßen wurde. Dies erleichterte den Start in eine Marktwirtschaft nicht, die wesentlich auf Verträgen bzw.der Funktionsfähigkeit eines Rechts-staats und dabei der Akzeptanz von unsicherheitsreduzierenden Regeln durch die Akteure auf den Güter-und Faktormärkten beruht.
Ausgehend von den Verzerrungen der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft stellen sich verschiedene Transformationsaufgaben (vgl. Über-sichten 1 und 2).
Neben institutioneilen Neuerungen -inklusive Privatisierungen -sind notwendig: eine Neudefinition der Wirtschaftspolitik nach marktkonformen Kriterien, eine makroökonomische Stabilisierung (Defizitkontrolle beim Staat, Abbau des Geldüberhangs aus der sozialistischen Periode, Anpassungsprobleme aus dem Übergang von niedrigen, staatlich administrierten Preisen auf Markträumungsniveau, bei dem sich Angebot und Nachfrage ausgleichen, etc.), die Entwicklung von Faktormärkten bei freier Arbeitsplatzwahl und kapitalmarktgesteuerten Investitionsentscheidungen, eine außenwirtschaftliche Liberalisierung, eine angebotsseitige Modernisierung sowie eine alle diese Bereiche absichernde Rechtsstaatspolitik. Die Einrichtung eines funktionsfähigen Rechtsstaats, der insbesondere Schutz vor staatlicher Willkür, Eigentumsrechte, Publizitätspflichten für Unternehmen und die Durchsetzung privater Verträge sichert, ist für eine Marktwirtschaft unabdingbar.
Fundamental sind institutioneile Innovationen, was neben der Einführung eines zweistufigen Bankensystems (Zusammenspiel von Notenbank und privaten Geschäftsbanken) und einer Banken-31 bzw. Kapitalmarktaufsicht insbesondere auch die Einführung von Privateigentum an den Produktionsmitteln erfordert. Der Bestand an Staatsunternehmen ist dabei im Interesse wirtschaftlicher Effizienz weitgehend zu privatisieren. In einer offenen Volkswirtschaft ist das ordnungspolitische Pendant zur notwendigen Wettbewerbspolitik die Doppelmitgliedschaft in IMF und der Welthandelsorganisation WTO, durch die zumindest Leistungsbilanzkonvertibilität und ein relativ freier Wettbewerb bei handelsfähigen Gütern und Dienstleistungen gesichert wird. Damit werden die Voraussetzungen für eine effiziente Ressourcenallokation (optimaler Einsatz der Produktionsfaktoren) im Grundsatz erfüllt. Im europäischen Rahmen von großer Bedeutung ist auch die Mitgliedschaft beim Europäischen Patentamt (EPA), weil dies für ausländische Investoren aus technologieintensiven Branchen Rechtsschutz bedeutet. Osteuropäische Länder, die zumindest durch Erstreckungsabkommen (indirekte Mitgliedschaft) einbezogen sind, haben dadurch Vorteile beim Anwerben ausländischer Investoren.
Rußland hatte bis Mitte 1997 noch nicht einmal einen Antrag auf EPA-Mitgliedschaft gestellt.
Erforderlich ist ferner eine Neudefinition der Rolle des Staates, der in einer Marktwirtschaft nur in Randbereichen als Produzent bzw. Unternehmenseigentümer auftritt, dem aber zugleich wichtige wirtschaftspolitische Aufgaben bei der Verteilungs-und Sozialpolitik bzw.der Steuerpolitik und bei der Internalisierung negativer externer Effekte (nicht im Entscheidungskalkül von Unternehmen berücksichtigte Negativeffekte der Produktion, also z. B. Umweltschäden) zukommen; bei positiven externen Effekten privater Aktivitäten -wie im Bereich Forschung und Entwicklung (F & E) -kann der Staat durch Subventionen zur Allokationseffizienz beitragen, bei negativen externen Effekten -etwa bei Umweltbelastungen durch Industrieproduktion -hingegen kann etwa über Abgaben oder handelbare Emissionsrechte eine Internalisierung angestrebt werden. Auch der Externalisierung von Risiken auf den Kapitalmärkten gilt es durch staatliche Aufsicht bzw. Bankenregulierung vorzubeugen. Durch die Europa-Abkommen mit der EU und in einigen Fällen auch durch die OECD-Mitgliedschaft hatten die kleineren osteuropäischen Transformationsländer wenig Spielraum für Beschränkungen des Kapitalverkehrs, so daß relativ große Kapitalbewegungen drohen; die Toleranzmarge für wirtschaftspolitische Fehler sinkt dadurch: Schon eine geringe Fehlsteuerung durch die Politik kann zu einer Vertrauenskrise führen -Auslandskapital wird abgezogen, es drohen massive Abwertung und ein starker Zinsanstieg.
Bei einer Koordination privater Produktions-, Konsum-und Investitionsaktivitäten über Märkte kommt es erfahrungsgemäß zu zyklischen Schwankungen, die im Grenzfall (Extremfall: Weltwirtschaftskrise 1929-1935) systembedrohend sind und zu massiven Einkommens-und Vermögens-verlusten führen können. Der makroökonomischen Stabilisierung in den auch wegen wachsender außenwirtschaftlicher Verflechtungen für Schockimpulse anfälligen jungen Marktwirtschaften mit ihrer wachsenden Außenhandelsorientierung nach Westen kommt daher ein besonderer Stellenwert zu. Dies gilt auch deshalb, weil mit der Privatisierung von Staatseigentum in vielen Transformationsländern bei den zu Aktionären gewordenen Bürgern die Hoffnung bzw. Erwartung herrscht, daß ihre Aktiva keineswegs Wertverluste, sondern vielmehr Wertsteigerungen im Zuge der Systemtransformation (und anhaltenden Wachstums) erfahren werden. Angesichts positiver Produktivitätseffekte der Privatisierung gibt es hierfür aus theoretischer Sicht durchaus gute Gründe. Denn wenn vermehrt privatisierte leistungsfähige Unternehmen und neugegründete innovative Privatunternehmen bestehen, dann werden Wachstumsbeschleunigungseffekte entstehen.
Entscheidend für hohes Wachstum ist die strukturelle Anpassung, was im Kern auf eine Angleichung der Wirtschaftsstrukturen an westliche Marktwirtschaften mit ähnlichen Pro-Kopf-Einkommen hinausläuft. Diesbezüglich sind ein Wandel der sektoralen Strukturen bzw. ein Ausbau des Dienstleistungssektors, eine Erhöhung der Außenhandelsintensität und der Direktinvestitionsflüsse (multinationale Unternehmen investieren) sowie ein intensivierter internationaler Technologiehandel erforderlich. Anders als in den Visegrädländern gibt es in Rußland in diesem Zusammenhang Probleme; es gelang auch nicht, die großen interregionalen Einkommensunterschiede marktkonform zu vermindern bzw. hohes Wachstum zu erreichen, und zwar gilt dies selbst für den Westen Rußlands.
Die kleinen Transformationsländer des früheren RGW-Raums, die im Außenhandel über Jahrzehnte auf die UdSSR ausgerichtet waren, sind bei ihren Restrukturierungs-und Reformbemühungen unterschiedlich vorangeschritten. Die ursprünglichen Visegrädländer Polen, Ungarn und ehemalige CSFR konnten eindeutig die größten Fortschritte nach 1991 erzielen, wenn man als Erfolgskriterien den Privatisierungsgrad, die Außenwirtschaftslibe-ralisierung und die Pro-Kopf-Direktinvestitionszuflüsse nimmt. Allerdings sind Rückschläge kaum einem Transformationsland erspart geblieben. 1996/97 sind massive Probleme in Form von hohen Defiziten -im Staatshaushalt und in der Leistungsbilanz in Tschechien, Slowenien und Ungarn (mit Abstrichen in Polen) -sichtbar geworden. Bulgarien und Rumänien sowie Rußland leiden noch unter hohen Inflationsraten, einer verschleppten Privatisierung und massiven Defiziten in puncto Rechtsstaat.
III. Privatisierung und wirtschaftspolitische Neuorientierung
Abbildung 7
Tabelle la: Auswirkungen sukzessiver Erweiterungen der EU Quelle: Europäische Kommission, Agenda 2000, Brüssel 1997, S. 22.
Tabelle la: Auswirkungen sukzessiver Erweiterungen der EU Quelle: Europäische Kommission, Agenda 2000, Brüssel 1997, S. 22.
Zumindest die Visegrädländer Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei hatten bis Mitte der neunziger Jahre erhebliche Fortschritte bei der Transformation zur Marktwirtschaft erreicht, Assoziierungsabkommen mit den EU-Ländern geschlossen und avancierten 1996 bzw. in den Folgejahren zu OECD-Mitgliedern bzw. -Aspiranten. Eine IWF-plus OECD-Mitgliedschaft kann aus ordnungspolitischer Sicht durchaus als Vorstufen-element einer EU-Mitgliedschaft gelten, da hier im Bereich der Leistungsbilanzkonvertibilität und der Nichtdiskriminierung von ausländischen Investoren wichtige systempolitische Reformelemente verlangt werden die auch Grundlage des EU-Binnenmarkts mit seinen vier Freiheiten sind: Freiheit des Handels mit Waren, freier Dienstleistungshandel, freier Kapitalverkehr, freier Personenverkehr. Neben der OECD-Gründungskonvention ist eine Stellungnahme zu 37 substantiellen (bindenden) OECD-Entscheidungen und den -relativ unverbindlichen -105 OECD-Empfehlungen abzugeben. Einzelheiten hängen vom Verhandlungsprozeß ab, wobei die OECD -etwa bei den OECD-Umweltrichtlinien -den Beitrittsländern Übergangsfristen von einigen Jahren gewährt. Die OECD hat Hilfsprogramme nichtfinanzieller Art für die Transformationsländer aufgelegt.
Die Europa-Abkommen verpflichteten die Transformationsländer, schrittweise die strengen EU-Grundsätze zur Wettbewerbspolitik und zur Beihilfenaufsicht einzuführen, was die zumindest in den Visegrädländern relativ entschieden implementierte nationale Wettbewerbspolitik wirksam unterstützt und den Subventionsabbau begünstigt. In Polen und Tschechien hat die nationale Wettbewerbsbehörde im übrigen ein Anhörungsrecht bei Privatisierungen. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die Visegrädländer -mit Ausnahme der Slowakischen Republik und Sloweniens -dank Privatisierungen in der Energie-und Telekommunikationswirtschaft auch im unterentwickelten Infrastrukturbereich ansatzweise für Liberalisierung und Wettbewerb gesorgt haben.
Die Privatisierung ist in den Visegrädländern in den ersten sieben Transformationsjahren weit fortgeschritten, wobei 1998 in Tschechien der Privatisierungsprozeß sogar weitgehend abgeschlossen sein dürfte und gut drei Viertel der Wertschöpfung im Privatsektor erbracht werden wird. Polen bzw. Ungarn dürften 1998 etwa 70 bzw. 80 Prozent der Wertschöpfung im privaten Sektor erreichen, Rumänien mit etwa 50 Prozent deutlich weniger; ähnlich weit zurück liegt Bulgarien.
IV. Rechtsstaatspolitik, Konvertibilität und Wettbewerbspolitik
Abbildung 8
Tabelle 1 b: Veränderung der zu fördernden Bevölkerung über die Strukturfonds
Quelle: Europäische Kommission, Agenda 2000, Brüssel 1997, S. 25.
Tabelle 1 b: Veränderung der zu fördernden Bevölkerung über die Strukturfonds
Quelle: Europäische Kommission, Agenda 2000, Brüssel 1997, S. 25.
Eine Marktwirtschaft wird auf Dauer nur dann eine effiziente Allokation erreichen, wenn die für eine marktliche Geldwirtschaft unerläßlichen Institutionen errichtet werden und funktionsfähig arbeiten. Nur bei geringen Transaktionskosten, Bereitschaft zu Akkumulation und bei minimalen externen Effekten kann effizientes Wirtschaften erwartet werden. Zu den unabdingbaren Voraussetzungen einer Marktwirtschaft, die immer auch eine Vertragswirtschaft ist, gehört eine unabhängige Rechtsprechung. Element eines Rechtsstaats ist auch, daß Bürger und Unternehmen gegenüber dem Staat Rechte bzw. gesetzlich versprochene öffentliche Güter einklagen können, wobei der Staat im Gegenzug Steuern und Abgaben -ohne Willkür -erhebt.
Während in den Visegrädländern die Entwicklung des Rechtsstaats in den neunziger Jahren recht weit gediehen ist, bestehen in Rußland noch ganz erhebliche Lücken. Das Vertrauen in-und ausländischer Investoren, daß Staat bzw. Steuerverwaltung eindeutig nach Recht und Gesetz handeln, ist noch wenig ausgeprägt -kein Wunder, wenn die Gesetze widersprüchlich sind, die Richter z. T. monatelang unbezahlt bleiben und die Korruption bei Polizei-und Steuerbehörden verbreitet ist. Hinzu kommen wachsende Probleme mit der orga33 nisierten Kriminalität in vielen Ländern, vor allem den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Ein regionales Gefälle bei Rechtssicherheit bzw. Kriminalität hat erhebliche negative ökonomische Auswirkungen in der Region mit höherem Lebens-, Einkommens-und Vermögensrisiko, wie sich am Nord-Süd-Gefälle Italiens studieren läßt -die niedrigen Pro-Kopf-Einkommen in Italien sind in der Tat wesentlich durch die höhere Kriminalitätsrate in Süditalien bedingt
Ohne Rechtsstaat kann weder eine Währungsordnung noch eine aktive Wettbewerbspolitik durchgesetzt werden. Legale finanzielle Anreiz-mechanismen können nur bei funktionierendem Rechtsstaat ein produktives Zumsammenwirken von Menschen auf Märkten und in Unternehmen herbeiführen; an die Stelle der sozialistischen Befehlswirtschaft tritt dann eine dezentrale Koordination durch Preissignale bzw. Märkte. Unerläßlich für eine effizienzorientierte Marktwirtschaft sind in der Tat Wettbewerb und Freihandelspolitik, wobei letztere Konvertibilität in der Minimalform von Ausländerkonvertibilität (ausländische Exporteure dürfen Verkaufserlöse in Devisen umtauschen) voraussetzt, was wiederum zunächst die Beseitigung zahlreicher Verzerrungen in Politik und Wirtschaft verlangt. Der Bereich der Wettbewerbspolitik ist angesichts dominanter Großunternehmen in vielen Sektoren ein problematischer Bereich in postsozialistischen Ländern, dessen Entwicklung manifeste Produzenteninteressen und die Unorganisiertheit diffuser Konsumenteninteressen entgegenstehen.
Freihandelspolitik einzuführen ist schmerzhaft in einer Periode, in der viele Unternehmen ohnehin inländischen Nachfragerückgängen gegenüberstehen. Aber erst Freihandel bringt die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung. Überzogene Außenhandelsliberalisierungen mit schlagartiger Reduzierung von Importbarrieren und Abschaftung von Exportkontingenten -bei im Sozialismus gegenüber dem Weltmarktpreis oft künstlich niedriggehaltenen, staatsadministrierten Preisen -erwiesen sich etwa bei der Schockliberalisierung in Polen als nicht haltbar; auch andere Visegrädländer haben nach progressiven Liberalisierungsschritten im Zuge von hohen Leistungsbilanzdefiziten temporär zu Importabwehrmaßnahmen gegriffen.
V. Strukturelle Anpassungserfordernisse
Abbildung 9
Tab. 2: Länder im Transformationsprozeß: Integrationsfortschritte und ökonomische Daten
Quelle: IMF, World Economic Outlook, Mai 1997, Washington 1997.
Tab. 2: Länder im Transformationsprozeß: Integrationsfortschritte und ökonomische Daten
Quelle: IMF, World Economic Outlook, Mai 1997, Washington 1997.
Die postsozialistischen Staaten Osteuropas haben einen enormen strukturellen Anpassungsbedarf, wenn man in Pro-Kopf-Einkommen und Landes-größe vergleichbare westeuropäische Marktwirtschaften oder asiatische Marktwirtschaften betrachtet. Daran gemessen sind die osteuropäischen Länder insbesondere im Bereich der Wirtschaftsstruktur durch einen unterentwickelten Dienstleistungssektor und im Außenwirtschaftsbereich durch unterentwickelte Handels-und Direktinvestitionsströme einerseits und wenig funktionsfähige Arbeits-und Kapitalmärkte andererseits gekennzeichnet.
In Polen, Tschechien und der Slowakischen Republik sowie in Bulgarien konnte die Unterentwicklung des Dienstleistungssektors im Zuge von Privatisierungen, Unternehmensneugründungen und Direktinvestitionen schon in der ersten Hälfte der neunziger Jahre deutlich abgebaut werden. Ungarn, das bereits in den achtziger Jahren einen für sozialistische Verhältnisse hohen Anteil des Dienstleistungssektors verzeichnete, erreichte 1997/98 osteuropäische Rekordwerte von gut 60 Prozent.
Nach einer ersten Deindustrialisierungsphase zu Beginn der neunziger Jahre ist der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung in Ungarn und Polen zur Mitte der neunziger Jahre wieder angestiegen. Dies entspricht der Hypothese von Döhrn/Heilemann wobei der Reindustrialisierungsprozeß allerdings weniger stark ausfällt, als zu erwarten gewesen wäre; ähnliches gilt auch für die neuen Bundesländer Nach einer Deindustrialisierungsphase in der ersten Transformationsperiode war in den Visegrädländern -mit Ausnahme der Slowakei -1996/97 ein leichter Anstieg des industriellen Wertschöpfungsanteils zu verzeichnen. Die in der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft systemspezifische Unterversor-gung mit Dienstleistungen ist zudem in diesen Ländern weitgehend korrigiert worden. Problematisch ist, daß der rückständige Agrarsektor in denTransformationsländern -mit Ausnahme von Tschechien -hohe Anteile an der Beschäftigung aufweist. Damit droht die Transformationsarbeitslosigkeit, die in den Visegrädländern (von Tschechien abgesehen) Mitte der neunziger Jahre zwischen 10 und 15 Prozent lag und erhebliche Anteile an der Langzeitarbeitslosigkeit hatte, noch längere Zeit durch den Modernisierungs-bzw. Kapitalintensivierungsprozeß in der Landwirtschaft verschlimmert zu werden. Hinzu kommt, daß bei einem wachstumspolitisch erwünschten Zufluß an Direktinvestitionen mit hohen Produktivitätszuwächsen in der Industrie mit Entlassungen dort zu rechnen ist, wo Rationalisierungsinvestitionen besonders ausgeprägt sind oder das Nachfragewachstum hinter dem Potentialeffekt (Wachstum des Güterangebots) zurückbleibt. Angesichts des doppelten Defizits bei Staatshaushalt und Leistungsbilanz droht in Tschechien und der Slowakischen Republik eine Stabilisierungskrise mit einer deutlich höheren Arbeitslosenquote.
VI. Faktormarktentwicklung: Arbeits-und Kapitalmärkte in dynamischer Sicht
Funktionsfähige Arbeitsmärkte sind für jede Marktwirtschaft wesentlich, wobei im Zeitablauf bzw. im Zuge des Strukturwandels typischerweise ein Wechsel des Arbeitsplatzes durch Arbeitnehmer oder Neubesetzungen von Stellen von Seiten der Arbeitgeber erwünscht sind. Veränderungen im Arbeitsmarkt bzw.der Arbeitskräftemobilität sind daher wesentlich und müßten durch adäquate intersektorale und interregionale Lohndifferentiale erreicht werden. Nur dann werden Arbeitnehmer aus schrumpfenden Industrien freiwillig in expandierende Sektoren bzw. Regionen wechseln. Die Lohndifferentiale in Osteuropa sind jedoch generell wenig ausgeprägt, soweit man dies auf der Basis vorhandener Daten für Tschechien und Polen sagen kann.
Strukturwandel bei der Systemtransformation bedeutet nicht nur Zuwachs von Beschäftigung in expandierenden Sektoren -auf Kosten von Schrumpfungsindustrien sondern auch einen Arbeitsplatzzuwachs in privaten bzw. privatisierten Industrien zu Lasten staatlicher Sektoren. Hierbei zeigt sich, daß die Intensität des sektoralen Wandels in den Visegrädländern Tschechien, Ungarn, Polen und Slowakische Republik tendenziell größer ist als in Bulgarien bzw. sie dort wesentlich höher ist als in anderen OECD-Ländern. Auffallend ist auch, daß in Polen und Ungarn die Intensität des Strukturwandels 19931995 gegenüber 1991-1993 teilweise anstieg, und zwar im Gegensatz zu Tschechien und der Slowakischen Republik (Ausnahme der Wandlungsindex für Staats-/Privatsektor). Wenn man den prozentualen Übergang von Arbeitslosen in neue Beschäftigungsverhältnisse in Relation zur Arbeitslosenquote betrachtet, dann zeigt sich für Tschechien mit anfänglich hohen Werten ein Rückgang in der Periode 1993-1995, wobei ähnliches für die Slowakische Republik gilt. In Polen und Ungarn erhöhte sich die Arbeitsmarkt-dynamik hingegen, was positiv zur Entwicklung der Arbeitsproduktivität und damit des Wirtschaftswachstums beigetragen haben dürfte. Denn nach vorübergehender Arbeitslosigkeit konnten Arbeitskräfte neue Arbeitsplätze -zumeist in privatisierten Unternehmen -finden. Bedenklich ist jedoch der hohe Anteil von Langzeitarbeitslosen in vielen Transformationsländern.
VII. Kapitalmärkte und Strukturwandel
Funktionsfähige Versicherungs-und Kapitalmärkte sind für die Risikominimierung und optimale Kapitalallokation wesentlich; d. h„ daß längerfristig vernünftige Investitionsentscheidungen getroffen werden, die eine positive Rendite für das Unternehmen erbringen. Die Arbeitsmärkte werden dabei in einer ersten Transformationsphase typischerweise einerseits durch temporär steigende Arbeitslosenquoten charakterisiert, andererseits durch staatliche Beschränkungen in der Lohnpolitik, die von den Arbeitnehmern bzw. Gewerkschaften häufig mit Blick auf Mitarbeiterbeteiligungsprogramme bei den Privatisierungen geduldet wurden. Neu aufzubauen ist eine staatliche oder eventuell auch private Arbeitslosenverwaltung.
Unternehmen sind zu privatisieren, wobei die Entflechtung von ehemals sozialistischen Großunternehmen ein besonderes Problem darstellt; hinzu kam in vielen früheren RGW-Ländern eine in der ersten Transformationsphase wachsende zwischen-betriebliche Verschuldung von Staatsfirmen, die wesentlich aus dem bei der Importliberalisierung und bei beginnender Privatisierung unvermeidlichen Absatzeinbruch (bei gegebenem Sortiment) auf Seiten staatlicher Betriebe und dem mangeln-35 den Konkursrecht der ersten Transformationsphase resultierte. Solange Banken noch nicht privatisiert waren, bestand obendrein die Gefahr, daß trotz Einführung eines Konkursrechts und des Wettbewerbs kaum Marktaustritte erfolgten, da die sozialismustypische weiche Budgetbeschränkung der Betriebe eine zeitweise Fortsetzung durch den Zugriff von Großunternehmen auf -an Marktbedingungen gemessen -zu günstige Kredite staatlicher Banken erfuhr. Darüber hinaus gab es weitere systemspezifische Allokationsverzerrungen
Die Investitionsquoten in den postsozialistischen Ländern Osteuropas sind unterschiedlich hoch und dabei durch jeweils unterschiedliche Anteile für Ausrüstungsgüter geprägt. Diese Anteile stiegen in den wachstumsstarken Ländern Polen, Ungarn und Tschechien in den neunziger Jahren an, während sie in Bulgarien und Rumänien zeitweise, in Rußland permanent rückläufig waren. Da Wachstum auf hohen F & E-Ausgaben sowie einer hohen Diffusionsgeschwindigkeit beim technischen Fortschritt -auf Basis des Einsatzes moderner Maschinen (und moderner Software) -sowie auf Investitionen und Weiterbildung basiert, sind die Wachstumsaussichten für Rußland besonders problematisch.
VIII. EU-Integrationsdynamik als Ausgangspunkt einer Osterweiterung
In dem Kommissionsdokument der EU-Agenda 2000 werden die osteuropäischen Transformationsländer in bezug auf ihre Beitrittsreife betrachtet, aber nur die erwähnten fünf Länder werden als ernsthafte Kandidaten der ersten Runde gesehen. Eine Auswahlentscheidung für Länder einer ersten Osterweiterungsrunde schließt dabei nicht aus, daß weitere postsozialistische Länder in späteren Erweiterungsrunden folgen. Die Empfehlungen der Kommission stützten sich auf die Kriterien, die der Europäische Rat in Kopenhagen im Juni 1993 verabschiedet hatte, und zwar heißt es dort: „Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muß der Beitrittskandidat -eine institutioneile Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz der Minderheiten verwirklicht haben;
-sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten;
-die Mitgliedschaft setzt ferner voraus, daß die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts-und Währungsunion zu eigen machen können.“
Damit sind im Prinzip hohe Hürden für eine EU-Osterweiterung errichtet worden, zumal die Währungsunion mit ihren Konvergenzkriterien als neue Vorgabe betrachtet werden muß. Gegenüber der EU-Süderweiterung in den achtziger Jahren stellt eine EU-Osterweiterung von daher ein weit größeres Problem dar, nicht nur, da die prospektiven Beitrittsländer im Pro-Kopf-Einkommen gegenüber dem EU-Durchschnitt weit zurückliegen, sondern auch weil angesichts des gewachsenen Acquis Communautaire, dem „Gemeinsamen Besitzstand“ an Normen und Prinzipien, die nationalen Politikoptionen bei den postsozialistischen Beitrittskandidaten beschränkt sein werden. In diesen Kontext gehört auch, daß die Mitgliedschaft volle Kapitalmobilität voraussetzt -Griechenland, Spanien und Portugal aber praktizierten als Neumitglieder noch erhebliche Kapitalverkehrsbeschränkungen, und erst zum 1. 7. 1990 wurden die Beschränkungen im Rahmen der ersten Stufe der Wirtschafts-und Währungsunion abgebaut. Angesichts der Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen steht Europa vor der Dauerherausforderung, sich durch höhere strukturelle Wandlungsfähigkeit in eine neue internationale, globale Arbeitsteilung einzufügen. Um so mehr ist die Fähigkeit zu einem marktgesteuerten Struktur-wandel und entsprechenden ordnungspolitischen Weichenstellungen in Osteuropa gefordert. Die osteuropäischen Länder stehen im übrigen noch vor der makroökonomischen Stabilisierungsaufgabe, die Inflationsrate auf sehr niedrige Werte zu senken, was erfahrungsgemäß mit Beschäftigungsverlusten einhergeht. Diese sich im Zug der Vorbereitung auf die Währungsunion stellende Aufgabe ist in Westeuropa weitgehend erledigt, so daß sich die Aussichten für Beschäftigungswachstum verbessert haben.
IX. Kriterien der Integrationskonformität
Nachdem der Europäische Binnenmarkt erst 1996 auch in der Versicherungswirtschaft realisiert worden ist, gilt erstmals im Maastricht-Prüfjahr 1997, daß der Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten vollständig verwirklicht ist. Diese vier Grundfreiheiten sind für postsozialistische Beitrittskandidaten im Sinne von Integrationskonformität zu beachten, wobei Erfordernisse der zweiten Stufe der Wirtschafts-und Währungsunion noch hinzukommen: -Freiheit des Warenhandels, wobei von Wettbewerb und der Öffnung öffentlicher Ausschreibungen für alle Anbieter aus der EU ausgegangen wird. Eine strikte Wettbewerbspolitik fehlt noch in den meisten postsozialistischen Ländern, und auch Ansätze zur Liberalisierung des Beschaffungswesens -ungefähr zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts in den EU-15-Staaten betreffend -sind allenfalls ansatzweise zu erkennen.
-Freiheit des Dienstleistungsverkehrs, was vor allem für Banken und Versicherungen sowie Telekommunikation von großer Bedeutung ist.
Da mit Ausnahme von Ungarn und Polen in den Visegradländern die Privatisierung von Banken und Versicherungen noch weitgehend unerledigt ist und die Telekommunikationswirtschaft kaum vor dem Jahr 2002 (EU-Liberalisierungsdatum 1998 als Regelfall) in den Wettbewerb entlassen werden dürfte, gibt es hier noch erhebliche Probleme.
-Freier Kapitalverkehr, der kurz-und langfristigen Portfoliokapitalverkehr (renditeorientierter Erwerb von Wertpapieren) einerseits und unternehmerische Direktinvestitionen andererseits betrifft. Angesichts der hohen Kapitalmobilität und der in einigen postsozialistischen Transformationsländern vorhandenen latenten politischen Instabilität dürfte die Liberalisierung des kurzfristigen Kapitalverkehrs besonders problematisch sein. Hier sind nämlich hohe kurzfristige Kapitalzuflüsse bedenklich, die bei einem Fixkursregime die Geldmenge unkontrollierbar aufblähen können, bei wirtschaftlich-politischen Krisenanzeichen aber auch rasch wieder abfließen und dabei einen Zinsschock (mit u. U. am Ende doch erzwungener Abwertung) auslösen können. Hohe kurzfristige Kapitalabflüsse sind ebenfalls bedenklich, soweit die Notenbank damit zu einer Hochzinspolitik zur Verteidigung der Parität bzw. zur Attrahierung ausländischen Kapitals gezwungen wird. Problematisch sind aber für einige Länder auch massive Zuflüsse von Direktinvestitionen, die bei latentem ökonomischem Nationalismus zu xenophobischen Reaktionen führen können. Wenn sich die Herkunft dieser zufließenden Mittel stark auf Deutschland als dominantes Quellenland konzentrieren sollte, wird diese Problematik aus historischen Gründen besonders relevant sein.
-Freier Personenverkehr, was erhebliche Migrationspotentiale im Verhältnis benachbarter Länder mit großen Unterschieden im Pro-Kopf-Einkommen bedeutet. So sind etwa Österreichs Sozialpartner gegen eine rasche EU-Osterweiterung, da eine Pendlerwelle von Osteuropa her erwartet wird -nach der Devise: hohe Löhne in Österreich verdienen, im Heimatland preiswert leben (bei Preisen für Lebensmittel, die 20 bis 50 Prozent des EU-Preisniveaus ausmachen).
Die Europäische Kommission hat in ihrem Agenda-2000-Bericht unter der Überschrift „Heranführungshilfe“ eine pragmatische Position eingenommen, wobei zusätzlich zum PHARE-Programm mit einem Mitteleinsatz von 1, 5 Mrd. ECU pro Jahr für die mittelosteuropäischen Länder ab 2002 Mittel zur Agrarförderung in Höhe von 500 Mio. ECU pro Jahr vorgesehen sind; hinzu kommt 1 Mrd. ECU pro Jahr zur Strukturförderung bzw. zur Unterstützung des Strukturwandels. Der Schwerpunkt soll bei den Strukturfonds darin liegen, die Normen der Gemeinschaft im Infrastrukturbereich zu realisieren und in den Bereichen Verkehr und Umwelt Fortschritte zu erzielen.
Die EU hat als neues Instrument zur Vorbereitung einer EU-Mitgliedschaft das Instrumentarium einer Beitrittspartnerschaft geschaffen. Es soll in einem Gesamtrahmen eine technische Unterstützung der Beitrittsländer erbringen, wobei namentlich im rechtlichen Bereich eine Durchleuchtung stattfinden wird. Für die Bereiche Landwirtschaft und Freizügigkeit hat die Kommission in einem dem Europäischen Rat vorgelegten Zwischenbericht bereits vorgeschlagen, daß nach Umfang und Dauer begrenzte Übergangsmaßnahmen notwendig sein könnten.
Weiterhin wird in der Agenda 2000 auf die grundlegenden Probleme hingewiesen, die sich in den Bereichen Verkehr und Umweltschutz ergeben, wobei die Kommission argumentiert, daß die Transformationsländer den Acquis Communautaire beim Umweltschutz auf mittlere Sicht keinesfalls erreichen könnten; bei transeuropäischen Verkehrsprojekten und speziell für internationale Bahnprojekte wird eine besondere Hilfe in Aussicht gestellt. Die Kommission stellt ausdrücklich fest, daß sich im Vergleich zu früheren EU-Erweiterungen vor allem das Problem ergibt, daß das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Gemeinschaft sinken wird (siehe Tab. 1 a). Die Ziel-l-Gebiete der Strukturpolitik (EU-Hilfen für arme Regionen), auf die etwa zwei Drittel der strukturpolitischen Mittel entfallen und die durch ein Unterschreiten von 75 Prozent des EU-Durchschnittseinkommens definiert sind, werden also an Bedeutung gewinnen; zudem unterschreiten alle EU-Beitrittskandidaten den 90-Prozent-Schwellenwert beim Pro-Kopf-Einkommen, so daß sie Anspruch auf Mittel aus dem Kohäsionsfonds haben, der für EU-Länder mit einem landesweiten Durchschnittseinkommen unterhalb dieser Schwelle vorgesehen ist. Die EU-Osterweiterung kann angesichts eines unveränderten Gesamtausgabenrahmens für die EU von 1, 27 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts von daher nur erfolgen, wenn die Mittelvergabekriterien für die neue Haushaltsperiode 2000-2006 modifiziert werden (Reform der Agrarstützungspolitik und der Strukturpolitik); bisherige Empfängerländer bzw. -regionen werden Mittelkürzungen hinnehmen müssen. Die Kommission rechnet damit, daß der Anteil der strukturpolitischen Mittel an den EU-Gesamtausgaben im Zug einer EU-Osterweiterung nur leicht ansteigen wird, wobei auf die EU-Neumitglieder im Jahr 2006 immerhin 11, 6 Mrd. ECU (in Preisen von 1997) der strukturpolitischen Gesamtmittel von 42, Mrd. ECU entfallen würden.
Zum wichtigen Bereich der Kohäsionspolitik stellt die Europäische Kommission in ihrer Agenda 2000 fest: „Das Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, das . . . die Union auch in Zukunft weiterverfolgt, bedeutet, daß die neuen Mitgliedstaaten vom Beitritt an in zunehmendem Maße -und entsprechend ihrer Absorptionskapazität -Kofinanzierungsmittel im Rahmen der Strukturpolitik der Gemeinschaft erhalten. Gegen Ende des nächsten Planungszeitraums (2000 bis 2006) können die Finanztransfers im Rahmen der Strukturpolitik dann mit denen vergleichbar sein, die die Union ihren derzeitigen Mitgliedstaaten mit Entwicklungsrückstand gewährt.“ 8 Die Kommission argumentiert weiter, daß die Beitrittskandidaten in der Übergangszeit bis zum Beitritt beträchtliche Investitionen in den Bereichen Umwelt, Verkehr, Energie, Umstrukturierung der Industrie, Agrarinfrastruktur und ländliche Gesellschaft unter Nutzung eigener privater und öffentlicher Mittel -bei Unterstützung durch die EU -durchführen müssen und die Sozialstandards an die der Gemeinschaft herangeführt werden müßten. Dabei ist allerdings darauf zu verweisen, daß* eine rasche Heranführung bei den Sozialstandards die Arbeitskosten in den Transformationsländern deutlich erhöhen würde und damit die komparativen Vorteile dieser Länder untergraben bzw. die Arbeitslosenquoten erhöhen dürfte.
Hinsichtlich der Wirtschafts-und Währungsunion vermerkt die Europäische Kommission, es „ist unwahrscheinlich, daß die beitrittswilligen Länder in der Lage sein werden, sich zeitgleich mit dem Beitritt dem Euro-Gebiet anzuschließen. Bevor sie in der Lage sein werden, langfristig eine ausreichende makroökonomische Stabilität zu wahren, wird es weiterer Fortschritte bei den Strukturreformen bedürfen. Allerdings müssen neue Mitgliedstaaten den Acquis der Stufe 2 der WWU übernehmen. Dies bedeutet Unabhängigkeit der Zentralbank, Koordinierung der Wirtschaftspolitiken (nationale Konvergenzprogramme, multilaterale Überwachung der Finanzpolitik, Verfahren bei übermäßigem Defizit usw.) und Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Stabilitäts-und Wachstumspakts. Die neuen Mitgliedstaaten werden auf eine direkte Zentralbankfinanzierung öffentlicher Defizite ebenso verzichten müssen wie auf den bevorrechtigten Zugang öffentlicher Organe und Körperschaften zu Finanzinstituten. Die Liberalisierung des Kapitalverkehrs muß abgeschlossen sein. Außerdem wird erwartet, daß sie am Wechselkursmechanismus teilnehmen und exzessive Wechelkursschwankungen vermeiden.“
Damit werden für Osteuropa gewaltige Reform-vorgaben ordnungspolitischer und gesamtwirtschaftspolitischer Art gemacht. Man kann durchaus bezweifeln, ob etwa die Drei-Prozent-Neuverschuldungsquote in Transformationsländern im Fall ungünstiger internationaler Schocks (z. B. plötzlicher Zinsanstieg) ebenso leicht einzuhalten ist wie für gestandene EU-Länder. Allerdings kann für Nichtmitglieder der Währungsunion -etwa neue EU-Länder mit Mitgliedschaft im EWS (II) -kein Bußgeld bei übermäßigem Defizit verhängt werden. Eine wichtige unerledigte Vorgabe fällt allerdings auf, daß nämlich von den Beitrittskandidaten nicht eine zeitnahe statistische Veröffentlichung wichtiger Makrodaten verlangt wird. Ein solches Erfordernis könnte helfen, eine osteuropäische Krise nach Art der Mexiko-Krise 1994/95 zu verhindern, als Mexiko keine (warnenden) aktuellen Daten über die Entwicklung seiner Währungsreserven und des kurzfristigen Kapitalverkehrs veröffentlichte.
X. Wirtschaftsintegration Osteuropas in einer ersten Transformationsphase
Die fortgeschrittenen Transformationsländer haben die Konvertibilität ihrer Währung erreicht bzw. Artikel VIII der IWF-Statuten 1995 unterschrieben, also die Voraussetzungen für den Außenhandel geschaffen. Gemessen am Durchschnitt von Ex-und Importquoten (Export/Sozialprodukt bzw. Import/Sozialprodukt), hatten Tschechien, Ungarn, Polen, die Slowakei und Slowenien im Jahr 1996 mit Werten zwischen 26 und 63 Prozent einen hohen Integrationsgrad erreicht (siehe Tab. 2), wobei alle diese Relationswerte allerdings nach oben überzeichnet sind. Denn während die Dollarwerte osteuropäischer Transformationsländer auf der Ex-und Importseite unverzerrt sind, bedeutet die in den ersten Transformationsphasen typische Unterbewertung der osteuropäischen Währungen, daß das Bruttoinlandsprodukt auf Dollarbasis relativ gering ausfällt und dabei wohl um etwa ein Drittel unter den „Kaufkraftparitätenwerten“ liegt.
Bezüglich der Integration in die Weltwirtschaft beim Kapitalverkehr ist festzustellen, daß die Visegrädländer (ohne Rumänien) und Estland sowie Slowenien 1996 Investorgräd-Rating verzeichneten; d. h. daß ihre Staatsanleihen qualitätsmäßig -bezogen auf das Risiko eines Staatsbankrotts -als relativ gut eingestuft werden, so daß institutionelle Anleger (Versicherungen, Investmentfonds etc.) diese Papiere erwerben und damit zur Finanzierung des Staatshaushalts beitragen; als Anleger kommen In-und Ausländer in Frage. Damit sind Mindestvoraussetzungen gegeben, um von integrierten Kapitalmärkten ausgehen zu können. Bei den Direktinvestitionen pro Kopf lagen Ungarn und Tschechien 1996 noch deutlich vorn, doch dürfte Polen mittelfristig hier erheblich aufholen. Dies gilt vor allem deshalb, weil Polen hohe Wachstumsraten zu verzeichnen hat und eine gewisse politische Stabilisierung erreicht worden ist. Es bleibt allerdings darauf hinzuweisen, daß innerhalb des früheren RGW-Raums ein beträchtliches Wachstums-und Stabilitätsgefälle entstanden ist, das schon zu erkennbaren Arbeitskräfte-wanderungen geführt hat. Man muß davon ausgehen, daß dieses intra-osteuropäische Wohlstandsgefälle im Zug einer EU-Osterweiterung um einige Visegrädländer noch weiter zunehmen wird und die nach der Osterweiterung neue Ostgrenze der EU, die in einen latent instabilen Wirtschaftsund Politikraum nach Osten ragt, eine qualitativ neuartige Problematik für die Gemeinschaft bedeutet. Von den Neumitgliedern wie von den Altmitgliedern wären Konzepte und Beiträge zur Stabilisierung des restlichen früheren RGW-Raums zu erwarten.
XI. Osteuropäische Gesamtperspektiven der EU-Erweiterung
Günstig für die Osterweiterung ist, daß der Prozeß der Desinflation in Westeuropa praktisch von allen EU-Ländern -mit Ausnahme von Griechenland -zu Ende der neunziger Jahre erfolgreich umgesetzt wurde, was natürlich auch mit Beschäftigungsverlusten verknüpft war. Ausgehend von einer beschäftigungspolitischen Talsohle bei Preisniveaustabilität dürften sich die Perspektiven für höheres Wachstum und mehr Beschäftigung Ende der neunziger Jahre verbessern -jedenfalls dann, wenn problem-gerechte, wachstumsförderliche Reformen in Deutschland, Frankreich und anderen Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit durchgeführt werden. Eine stärkere Lohnspreizung, differenzierte Beitrags-sätze in der Arbeitslosenversicherung sowie eine beschäftigungsförderliche Reform der Sozialversicherung -bei Senkung der Lohnnebenkosten -wären sowohl für die EU-Länder wie für die osteuropäischen Beitrittskandidaten sinnvoll. Mit der Währungsunion ab 1999 wird in Westeuropa vermutlich nochmals eine vorübergehende Phase wirtschaftspolitischer Unsicherheit entstehen, die die Investitionen und damit die Wachstumsaussichten kurzfristig beeinträchtigen könnte.
Die volle Umsetzung der Währungsunion ab 2002 ist offensichtlich ein wichtiges Integrationsprojekt der EU, das sich noch über einige Jahre ohne Stör-effekte durch eine EU-Osterweiterung entfalten sollte. Aber nicht nur unter diesem Aspekt, auch angesichts großer Ost-West-Einkommensunterschiede gilt, daß man vor einer raschen, nicht sorgfältig vorbereiteten EU-Osterweiterung nur warnen kann. Dies schließt nicht aus, daß etwa ab 2005 Slowenien und möglicherweise ein weiteres Visegrädland EU-Mitglied werden könnte. Ein mittelfristiges Heranführungsprogramm für ausgewählte Visegrädländer könnte bei einem Beitritts-horizont nach 2005 von beträchtlichem Nutzen sein. Es dürfte sich auch anbieten, mit langen Übergangsfristen zu arbeiten, und zwar mit mehr als den zehn Jahren, wie sie für Spanien und Portugal galten. Denkbar wäre, daß man keine festgesetzte, sondern eine endogene Übergangsfrist vereinbart, die automatisch dann beendet ist, wenn das Beitrittsland beim Pro-Kopf-Einkommen 50 Prozent des EU-Durchschnitts erreicht hat.
Osteuropäische Transformationsländer gewinnen durch eine EU-Integration deutlich mehr als die EU-15-Gruppe, für die sich der Übergang zu einer Gemeinschaft von 18 oder gar 20 Ländern zunächst als Belastung zeigt. Es entstehen für die Gemeinschaft budgetäre Kosten und institutioneller Reformbedarf, ja die Funktionsfähigkeit der EU und ihre politische Kohäsion könnten erstmals durch eine Art „imperial overstretch“ gefährdet werden. Die EU könnte allerdings einen Stabilitätsnutzen -neben der Aussicht auf neue Exportmärkte für die Unternehmen der EU-15-Gruppc -haben, wenn es in einer Art Kaskadenintegration gelänge, durch Integration einiger Visegrädländer im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende ordnungs-, integrations-und wirtschaftspolitische Modelle für ganz Osteuropa zu schaffen. Dabei käme den osteuropäischen Neumitgliedsländern die Aufgabe zu, die EU-Mitgliedschaft mit aktiver Unterstützung der Transformation in den osteuropäischen Nachbarländern zu verbinden und regionale Initiativen der Politikkooperation (etwa im Umweltbereich oder bei der Modernisierung der Telekommunikation) zu unterstützen. Hierauf wären die Neumitgliedsländer im Beitrittsvertrag explizit zu verpflichten.
Zu befürchten ist, daß im Zug der EU-Osterweiterung ein wachsendes Ost-Ost-Gefälle im früheren RGW-Raum entsteht. Damit die in der ersten EU-Osterweiterungsrunde nicht aufgenommenen osteuropäischen Mitgliedsländer eine sinnvolle Beitrittsperspektive haben, könnte ein modifizierter Europäischer Wirtschafts-und Währungsraum geschaffen werden, eventuell in Kombination mit einer politisch unabhängigen Notenbank. Besonders wichtig wären auch EU-Maßnahmen zur Stabilisierung Rußlands, weil von einer fortgesetzten Krise Destabilisierungsimpulse für Osteuropa ausgingen.
Das doppelte Hauptrisiko einer EU-Osterweiterung besteht in der relativen Zunahme von kleinen und armen Ländern im „EU-Club“. Während im EU-15-Club ein Drittel der Länder als eher arm gilt (Griechenland, Portugal, Spanien, Finnland), gäbe es bei 26 Mitgliedsländern eine Mehrheit der kleinen bzw. armen Länder. Arme Länder werden stärker als wohlhabende auf wachsende EU-Finanztransfers drängen. Statt in der Politik Vorrang für Produktivitätsfortschritt und Wachstum zu setzen, dürften in einer EU-26-Gemeinschaft die Umverteilungsaktivitäten dominieren; damit aber drohen Stagnation und EU-interne Spannungen, zumal die großen Beitragszahler Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien noch ein weiteres Problem bei Mehrheitsentscheidungen haben werden. Gemessen an gängigen Macht-indizes sinkt der Einfluß der großen Länder bei einer EU-Osterweiterung überproportional, bzw. die Macht der Kleinen nimmt -man erinnere sich an die Machtarithmetik von Koalitionsregierungen mit großen/kleinen Regierungsparteien -überproportional zu. Damit droht mangelnde EU-interne Führung einerseits, andererseits zunehmende politische Frustration der großen Länder, möglicherweise bis hin zum Austritt aus der EU. Dabei sei daran erinnert, daß der Unzufriedenheitsgrad mit der EU 1996/97 am höchsten in Deutschland, Schweden und Großbritannien war.
Während eine erste EU-Osterweiterung noch eher unproblematisch erscheint, dürfte eine zweite EU-Erweiterungsrunde die Gemeinschaft in eine Krise führen, sofern keine grundlegenden institutionellen Reformen vorgenommen werden. Zu solchen Reformen könnten Anreize zur Bildung EU-interner Ländergruppen gehören, um das „Kleine-Länder-Problem" zu vermeiden; also etwa eine Gruppe Belgien/Luxemburg oder Baltische Staaten. In einer EU-Verfassung ließen sich Sicherungen gegen ein Zuviel an supranationaler Umverteilungspolitik einbauen, möglicherweise auch eine quantitative sektorale Beschränkung bei der Subventionspolitik -etwa daß ein Sektor nicht mehr als ein Zehntel seiner Wertschöpfung an staatlichen Transfers erhalten darf (damit wäre der ineffizienten Subventionierung etwa der Landwirtschaft indirekt ein Riegel vorgeschoben).
Zugleich scheint es angesichts eines dank der Globalisierung verschärften internationalen Wettbewerbs sinnvoll, den EU-Ausgabenschwerpunkt von den bisherigen Budgetprioritäten Landwirtschaft und Strukturfonds weg und hin zur Bildungs-und Innovationspolitik -einschließlich der Förderung einer europäischen Informationsgesellschaft -zu verschieben. Damit ergäben sich auch positive Impulse für eine dynamische gesamteuropäische Arbeitsteilung und eine bessere Integration der Wirtschaftsräume, und zwar bei reduzierten Anreizen zu grenzüberschreitender Migration in einer erweiterten EU. Eine effiziente Förderung einer europäischen Informationsgesellschaft und eine stärkere EU-seitige Förderung von Innovationen könnten eine Anhebung der EU-Ausgaben relativ zum Bruttoinlandsprodukt rechtfertigen -auf etwa zwei Prozent des EU-BIPs wobei zugleich das absolute Volumen der EU-Agrarausgaben festgeschrieben werden sollte; dadurch fiele der relative Anteil dieses weitgehend ineffizienten Ausgabenbereichs langfristig deutlich.
Die Europäische Union mit 21 Mitgliedstaaten wird im globalen Wettbewerb nur dann global einflußreich sein, wenn die eigenen Ausgabenprioritäten auf die Wachstumsfelder des 21. Jahrhunderts ausgerichtet werden und zugleich durch Reformen der nationalen Wirtschafts-und Tarif-politik die Vollbeschäftigung wiederhergestellt werden kann -hier stehen sowohl West-wie Osteuropa vor großen Herausforderungen. Auf eine größere EU-Gemeinschaft käme in jedem Fall international eine höhere Verantwortung zu als auf die bisherige EU, zumal angesichts des Starts von Euro und Europäischer Zentralbank
Paul J. J. Welfen s, Dr. rer. oec., geb. 1957; 1990/91 McCloy Distinguished Research Fellow am AICGS/The Johns Hopkins University, Washington (D. C.); danach Professor für Europäische Wirtschaftspolitik/Internationale Wirtschaft an der Universität Münster. Seit 1995 Professor für Wirtschaftspolitik, insbes. internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Potsdam; Präsident des Europäischen Instituts für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Potsdam. Veröffentlichungen u. a.: Internationalisierung von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, Heidelberg 1990; Marketoriented Systemic Transformations in Eastern Europe, New York 1992; Privatization and Foreign Direct Investment in Transforming Economies, Aldershot 1994; (Hrsg. zus. mit Richard Tilly) European Economic Integration as a Challenge to Industry and Government, Heidelberg 1995; European Monetary Integration, 3. Aufl., New York 1995; Grundlagen der Wirtschaftspolitik, Heidelberg 1995; (Hrsg.) Economic Aspects of German Unification, 2. Aufl., New York 1995; (Mithrsg.) Systemtransformation in Deutschland und Rußland, Baden-Baden 1998.
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