Kontinuitäten und Brüche der Wirtschaftsentwicklung in ausgewählten Städten und Regionen Ostdeutschlands I. Ostdeutsche Städte und ihre Regionen unter ökonomischem Anpassungsdruck | APuZ 5/1999 | bpb.de
Kontinuitäten und Brüche der Wirtschaftsentwicklung in ausgewählten Städten und Regionen Ostdeutschlands I. Ostdeutsche Städte und ihre Regionen unter ökonomischem Anpassungsdruck
Hans Joachim Kujath
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Zusammenfassung
Die Entwicklung der ostdeutschen Stadtregionen findet im Spannungsfeld von weiterwirkenden sozialistischen Prägungen und eines sich verschärfenden Wettbewerbs der europäischen Regionen untereinander statt. Nach acht Jahren des wirtschaftlichen Umbaus wird deutlich, daß der Infrastrukturausbau in Verbindung mit einer großzügigen Investitionsförderung offensichtlich nicht genügt, um die Stadtregionen zu europaweit wettbewerbsfähigen wirtschaftlichen Wachstumspolen umzuformen. Vor diesem Hintergrund wird von der neueren Regionalpolitik eine Neubewertung regionaler Wirtschaftszusammenhänge gefordert, in der die Stadtregionen sich nicht als „passive“ Standorte definieren, sondern sich auf ihre spezifischen endogenen Potentiale (gewachsene Wirtschaftstraditionen, Institutionsstrukturen und Handlungsoptionen) besinnen. War die erste Transformationsphase noch weitgehend vom Bund und den Ländern -also von oben -gesteuert, stehen die Städte und Regionen heute vor der Herausforderung, selbständig Strategien zu entwickeln, die aus den regionalen Besonderheiten heraus zur Wettbewerbssteigerung beitragen. Eine solche Herausforderung läßt sich nur innerhalb einer effizienten institutionalisierten kommunalen und regionalen Handlungsstruktur meistern. Exemplarisch wird an drei Industriestädten -Schwedt, einer „Retortenstadt“ im dünn besiedelten Nordostraum, Brandenburg/Havel im Umland von Berlin und Zwickau in der alten westsächsischen Industrieagglomeration -dargestellt, wie in Abhängigkeit von den historischen Entwicklungen vor allem der Industrie-und Territorialplanung der DDR lokale und regionale Entscheidungs-und Handlungskonstellationen entstehen, die spezifische Pfadlogiken der raumwirtschaftlichen Transformation begünstigen. Es zeigt sich in diesen Städten, daß mit den neuen Investoren die engen Kontexte, innerhalb derer sich die Industrie der DDR bewegt hat, gesprengt werden und die Städte und Regionen auf unterschiedliche Weise in globale, zumindest aber neue europäische Kontexte einbezogen werden, auf die sich die kommunale und regionale Wirtschaftspolitik bisher nicht immer angemessen eingestellt hat. Es zeigt sich weiter, daß mit den zum Teil gewaltigen Investitionen in allen drei Regionen kapitalintensive, hochproduktive Industrien mit relativ geringer Beschäftigungswirkung geschaffen wurden, regionale Produktionsnetze aber noch selten sind.
Neubewertung der Stadtregionen im europäischen Wettbewerb Nach einer Phase dynamischen wirtschaftlichen Wachstums und des gleichzeitigen Aufbaus einer neuen Firmenstruktur zu Beginn der neunziger Jahre befinden sich die städtischen Industrieregionen in den neuen Bundesländern derzeit in der schwierigen Phase des weiteren Umbaus. Niedrige wirtschaftliche Wachstumsraten, ein Sockel hoher Arbeitslosigkeit sowie eine in negativen regionalen Außenhandelssalden zum Ausdruck kommende schwache Position in der internationalen Arbeitsteilung sind Merkmale einer andauernden wirtschaftlichen Strukturschwäche. Auch wenn sich dieses Bild in den einzelnen Regionen differenziert darstellt, muß bei nüchterner Betrachtung konstatiert werden, daß die ostdeutschen Industriezentren und -regionen, ungeachtet aller Aufbauerfolge, im Vergleich zu den wirtschaftlich dynamischen Regionen Europas derzeit eher marginale wirtschaftliche Bedeutung haben.
Zwar weist diese raumwirtschaftliche Realität auf spezifische transformationsbedingte Ursachen hin; eine Erörterung der Perspektiven dieser Regionen wird sich aber nicht mehr vorrangig mit Transformationsschwierigkeiten und deren Überwindung befassen können, sondern mit der Frage, wie die lokalen und regionalen Akteure ihre nach der Wiedervereinigung gewonnenen Handlungsspielräume nutzen, um sich erfolgreich im Wettbewerb der Stadtregionen Europas zu behaupten. Betrachten wir die Regionen im Kontext des zusammenwachsenden Europas, so ist für die Entwicklung nicht nur der Städte und Regionen Ostdeutschlands bedeutsam, daß mit der Vollendung des Gemeinsamen Europäischen Marktes die Güter-und Faktormobilität dramatisch zunimmt, Industrien in ihrer Standortwahl beweglicher werden und Unternehmen ihren Suchraum über regionale und nationale Grenzen ausdehnen. Die Städte mit ihren regionalen Einzugsbereichen sind als Standortanbieter und potentielle Kraftzentren der wirtschaftlichen Entwicklung Brennpunkte dieses Suchprozesses. Sie stehen dadurch einerseits unter einem verschärften Wettbewerbsdruck, gewinnen andererseits aber auch fast zwangsläufig an Profil als wirtschaftlicher Handlungsraum, als sozialer und ökologischer Lebensraum sowie als kultureller Identifikationsraum und nicht zuletzt als politischer Entscheidungsraum. Die städtischen Zentren und ihre Regionen werden also zu einer Arena, in der zwischen den gesellschaftlichen Gruppen der spezifische Weg der eigenen Region innerhalb des europäischen Einigungsprozesses austariert wird.
Für die Entwicklung der ostdeutschen Stadtregionen ergeben sich hieraus zwei Schlußfolgerungen; Erstens wird nach acht Jahren des wirtschaftlichen Umbaus deutlich, daß die Schaffung neuer Infrastrukturen in Verbindung mit einer großzügigen Investitionsförderung offensichtlich nicht ausreicht, um die Stadtregionen zu europaweit wettbewerbsfähigen wirtschaftlichen Wachstumspolen umzuformen. Vor diesem Hintergrund wird von der neueren Regionalpolitik eine Neubewertung regionaler Wirtschaftszusammenhänge gefordert, in der die Stadtregionen sich nicht als „passive“ Standorte definieren, sondern sich auf ihre spezifischen endogenen Potentiale (gewachsene Wirtschaftstraditionen, Institutionsstrukturen und Handlungsoptionen) besinnen 1. Nach der ersten Phase der Ansiedlungs-und Standortpolitik, die auf externer Kapitalzufuhr aufbaute, stellt sich heute die besonders dringliche Aufgabe, die geschaffenen industriellen Kerne als Katalysatoren für die örtliche Wirtschaft zu sichern und zu einer regional verankerten wirtschaftlichen Basis mit regionalen Wertschöpfungsketten und Innovationsnetzen wei-1 terzuentwickeln Zweitens stehen die Städte und Regionen heute -anders als in der ersten Phase des Transformationaprozesses, in der die Prozesse noch weitgehend von Bund und Ländern, also zentral, gesteuert wurden -vor der großen Herausforderung, selbständig Strategien zu entwickeln, die aus den regionalen Besonderheiten heraus zu einer besseren Position im Wettbewerb beitragen. Eine solche Herausforderung läßt sich nur innerhalb einer effizienten institutionalisierten kommunalen und regionalen Handlungsstruktur meistern. Damit sind nicht nur formelle politische Institutionen gemeint; diese sind auf der regionalen Ebene auch nur relativ schwach entwickelt. Entscheidend sind vielmehr die besonderen regionalen informellen institutioneilen Arrangements, das Verhalten und die spezifischen Beziehungsmuster (Koalitionsmuster, Machtstrukturen, Kooperationsformen) der relevanten organisierten Akteure: der Bürgergruppen, Investoren, Unternehmen, Verbände, Parteien und staatlichen Akteure 2. Verarbeitung der „sozialistischen“ Industrie-traditionen Zu den regionalen Eigenarten, die für die Entwicklung von regionsspezifischen wirtschaftlichen Strategien eine Rolle spielen, gehören zweifellos die unterschiedlichen Ergebnisse der Industrie-und Territorialentwicklung der DDR, die innerhalb der neu geschaffenen materiellen Strukturen und in der territorialen Organisation der Siedlungen und Wirtschaft fortexistieren. Sie bilden darüber hinaus einen das Handeln der Akteure vor Ort prägenden Erfahrungs-und Wissenshintergrund. Eine Untersuchung von Kontinuitäten und Brüchen der Wirtschaftsentwicklung in den ostdeutschen Stadtregionen muß vor allem berücksichtigen, daß sich nach der Teilung Deutschlands in der DDR eine spezifische eigenständige sektorale Wirtschaftsstruktur und räumliche Ordnung der Wirtschaft, unter anderem als Reaktion auf die Unterbrechung der historisch gewachsenen arbeitsteiligen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Westund Ostdeutschland, herausgebildet hat. Die ostdeutsche Industrie war vor allem in den Bereichen Energie, Eisen, Stahl sowie im Schwermaschinen-undGroßanlagenbau von ihren traditionellen Partnern im Westen abgeschnitten. Möglichkeiten einer Substitution der weggefallenen Beziehungen durch Importe aus den anderen Staaten des Ostblocks gab es kaum, solange diese ihre Kapazitäten weitgehend für den Aufbau der eigenen Wirtschaft benötigten. Man sah sich folglich zu einer ergänzenden Industrialisierung in den fehlenden Sektoren gezwungen, zunächst vor allem der Grundstoff-bereiche Eisen, Stahl, Energie sowie im Schiff-, Maschinen-und Großanlagenbau. Später wurden auch die Elektro-und die Elektronikindustrie erweitert und zum Teil neu aufgebaut. Dagegen standen die Verbrauchsgüter-, Nahrungs-und Genußmittelproduktion im Schatten de*r von der Sowjetunion vorgegebenen Praxis und ihres Modells einer nachholenden Industrialisierung mit Schwerpunktsetzungen in den Bereichen der Grundstoff-und Investitionsgüterindustrie.
Folgen dieser industriepolitischen Gewichtung finden sich heute noch in fast allen Stadtregionen Ostdeutschlands, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. Denn von der Industrie-und Territorialplanung der DDR sind diese Industrialisierungsbemühungen für eine neue industrielle Standortverteilung in Verbindung mit der Durchsetzung einer wirtschaftlichen Spezialisierung der Stadtregionen genutzt worden, um -wie es damals hieß -„durch planmäßige Standortverteilung der Produktivkräfte“ die Disproportionen in der territorialen Produktionsstruktur schrittweise zu beseitigen In diesen territorialen Umbauprozeß wurden die folgenden deutlich voneinander unterscheidbaren Räume auf je spezifische Weise einbezogen: • der sächsische Industrieraum und Teile des heutigen Sachsen-Anhalt mit einer Mischung aus Grundstoff-, Metallverarbeitungs-, Verbrauchsgüter-
und Konsumgüterindustrien sowie mit einem damals höheren Industriebesatz (Anteil der Industriebeschäftigten) je Einwohner als in westdeutschen Industrieregionen (Raumtyp 7); • der mittlere Raum zwischen Magdeburg und Frankfurt/Oder mit der Stadtregion Berlin und ihrem Umland sowie unterentwickelten Zonen zwischen den drei Stadtregionen (Raumtyp 2); • der nordostdeutsche Raum, der ländlich geprägt, industriell unterentwickelt war und eine geringe Bevölkerungsdichte aufweist (Raumtyp 3). Das im südlichen Teilraum vorhandene alte industrielle Potential war in der industriellen Planung der DDR ein wesentlicher Leistungsträger für die Erwirtschaftung von Ressourcen, die für die Erweiterung der Zweig-und Bereichsstruktur der Volkswirtschaft benötigt wurden, konkret, für die Entwicklung Berlins zur Hauptstadt und zum Standort der zentralen planenden Verwaltungen sowie des Nordostraums zum Standort neuer industrieller Kristallisationskerne. In diesen altindustrialisierten Regionen wurde im wesentlichen eine Strukturen konservierende Wirtschaftspolitik betrieben, und es wurden lediglich die vorhandenen Produktionskapazitäten ausgebaut („intensive Entwicklung der Territorialstruktur“ Dagegen sah man in den Agrargebieten des Nordens und teilweise auch des mittleren Raumes Möglichkeiten, durch Bildung neuer Industriezentren um die Grundstoff-und Investitionsgüterindustrie Grundlagen „für die materiell-technische Basis des Sozialismus zu schaffen“ und diese für eine grundsätzliche Veränderung der territorialen Nutzungsstrukturen zwischen Stadt und Land zu nutzen: durch Ausbau der Kapazitäten der Metallerzeugung und -Verarbeitung und des Maschinenbaus in Brandenburg/Havel, des Schwermaschinenbaus in der Region Magdeburg, durch Schaffung eines neuen Raffineriestandortes in Schwedt, die Entwicklung eines Schwerpunktes der Elektrotechnik und Elektronik in Neuruppin oder der großen Werften und Hafenkomplexe in den Ostseestädten, vor allem in Rostock, um nur einige Beispiele zu nennen. Resultat dieser Bemühungen war neben der wirtschaftlichen Expansion und dem Bevölkerungswachstum eine ausgeprägte industrielle Monostruktur an jedem einzelnen Standort, Ausdruck einer spezifischen Rollenzuweisung an jeden Standort innerhalb der „planmäßig“ gestalteten „territorialen Produktionsstruktur“ Die nördlichen Regionen der DDR erlebten die deutsche Teilung als eine Periode der Industrialisierung, eines zum Teil dramatischen Bevölkerungswachstums, flankiert von Stadterweiterungen und Neugründungen, während der Süden bei nur geringfügigem wirtschaftlichen Wachstum stagnierte und an Einfluß verlor. 3. Marktwirtschaftliche Perspektiven Von Regionalökonomen wird häufig die Meinung vertreten, daß dieses in der DDR geschaffene System von Städten und räumlicher Arbeitsteilung auf Dauer kaum Bestand haben könne, daß die in der DDR -vor allem in den stukturschwachen dünn besiedelten Regionen Nordostdeutschlands -erzielten Erfolge unter markwirtschaftlichen Bedingungen beim Aufbau neuer Wirtschaftszentren keine Zukunftsperspektive haben könnten. Hierfür werden sowohl externe als auch interne Faktoren zur Begründung herangezogen. So sei aufgrund der Neuordnung des Osthandels und der Einbindung in die etablierte nationale und internationale Arbeitsteilung mit erheblichen Funktionsverlusten in jenen Regionen zu rechnen, die zu DDR-Zeiten Schwerpunkte der Industrialisierung im Rahmen von Autarkiebemühungen oder von Produktionsabsprachen im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) waren, also in den Gebieten der heutigen Länder Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. An diesen Standorten werde eine Stabilisierung der Industriestrukturen auch durch ungünstige endogene Rahmenbedingungen erschwert, durch die in der Tat einseitige Sektorstruktur, die Dominanz von Grundstoffindustrien und Maschinenbau und das Fehlen einer mittelständischen und handwerklichen Tradition Damit seien die Potentiale für den Aufbau von regionalen Produktionsnetzwerken und Wertschöpfungsketten, das heißt für international konkurrenzfähige integrierte regionale Produktionssysteme, äußerst begrenzt. Dagegen werden den südlichen Regionen aufgrund der größeren Bevölkerungsdichte, der größeren Vielfalt und Dichte industrieller Potentiale und der noch in Resten vorhandenen vorsozialistischen industriellen Vielfalt bessere Entwicklungschancen eingeräumt.
Die Entwicklung der letzten Jahre hat einige dieser Annahmen bestätigt: Zwar konnte die Beschäftigung in den Industriestandorten nach einer Phase des Niedergangs stabilisiert werden, auch konnten viele Betriebe nach der Auflösung der Industrie-kombinate als „Kerne“ einer sich fortsetzenden industriegeprägten Entwicklung in allen Regionen Ostdeutschlands erhalten werden, aber insgesamt sind die wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den nordostdeutschen ländlichen Räumen und den alten Agglomerationsräumen des Südens sowie dem Berliner Raum wieder größer geworden, das heißt, die wirtschaftlichen Wachstumsprozesse haben sich -unabhängig von der Förderpolitik des Bundes und der Länder -wieder in die traditionellen Agglomerationsräume zurückverlagert Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß ein solcher ökonomischer Determinismus, wie er sich an Hand räumlich nur grob differenzierter ökonomischer Indikatoren (Bruttowertschöpfung, Arbeitslosigkeit, Investitionsvolumen, Arbeitskräftewanderung usw.) aufdrängt, zu Fehlinterpretationen verleiten kann, weil darin die verschiedenen stadtregionalen strukturellen und institutioneilen Traditionen sowie die eingeschlagenen wirtschaftlichen Entwicklungspfade ausgeblendet bleiben. Gerade unter den Bedingungen des deutschen Föderalismus und der wiederentstandenen kommunalen Selbstverwaltung haben die Städte und Regionen es bis zu einem gewissen Grad selbst in der Hand, sich optimal in die neue raumwirtschaftliche Arbeitsteilung als wettbewerbsfähige Standorte einzubinden. Dabei zeigt sich dann auch, ob die institutioneilen industriellen Traditionen als eine Ressource, gleichsam als gewachsene regionale „institutioneile Infrastruktur“ in diesem Prozeß anzusehen sind oder ob sie den Transformationsprozeß eher hemmen.
II. Pfade der wirtschaftlichen Anpassung
Zur Verdeutlichung der Differenziertheit des wirtschaftlichen Umbauprozesses in den Stadtregionen sollen am Beispiel von jeweils einer Industriestadt und ihrer Region aus den drei Raumtypen exemplarisch unterschiedliche regionalwirtschaftliche Entwicklungspfade nachgezeichnet werden. Ausgewählt sind als typische Vertreter der drei Raumtypen die Stadtregionen -Schwedt/Uckermark (Raumtyp 3);
-Brandenburg/Havel (Raumtyp 2);
-Zwickau/Zwickauer Land (Raumtyp 1) (vgl.
die Karte). 1. Schwedt: Kontinuität des Industrialisierungspfades Schwedt steht für die Bemühungen der DDR, sich eine eigene Basis in den Grundstoffindustrien zu schaffen (Erdöl-und Papierverarbeitung) und sich dabei auf die Rohstofflieferungen aus der damaligen Sowjetunion zu stützen. Die Stadt ist darüber hinaus regional gesehen ein Beispiel für einen gewaltigen Strukturbruch und eine Transplantation von Industrien, industriellen Lebensformen und Industriearbeiterschaft in eine dünn besiedelte, weitgehend ländlich geprägte periphere Region im Nordosten Brandenburgs an der polnischen Grenze. Und sie ist ein Beispiel für den Aufbau einer weitgehend geschlossenen sozialistischen Industriestadt auf dem Territorium einer im Krieg zerstörten ländlichen Kleinstadt. Während die Landstädte der Region -Angermünde, Prenzlau, Templin -vorwiegend auf die landwirtschaftliche Produktion beschränkt und damit eng mit den tradierten wirtschaftlichen Grundlagen der Region verbunden blieben, waren in Schwedt unmittelbar vor der Wende fast 50 Prozent aller Beschäftigten in der Industrie tätig. Die Stadt überflügelte mit 50 000 Einwohnern die bisher größte Stadt der Region (Prenzlau) in ihrer Einwohnerzahl um mehr als das Doppelte.
Nach dem Systembruch stellte sich die Frage, ob und wie diese Stadt als Verkörperung des sozialistischen Produktionsmodells, in dem der Betrieb integrativer Bezugspunkt des sozialen Lebens ist, sich in die Marktwirtschaft transformieren läßt.
Damit ist einerseits die innere Organisation der Stadt und ihre wirtschaftliche Basis angesprochen, andererseits aber auch ein der Stadt fremder regionaler Kontext, innerhalb dessen sich der Wandel vollziehen mußte. Ohne eine entsprechende Industrie-und Regionalpolitik des Landes Brandenburg wäre Schwedt sicher nicht zu erhalten gewesen. Zumindest in der Anfangsphase des neugegründeten Landes setzte die regionale Strukturpolitik auch primär auf die Erhaltung und Modernisierung der wirtschaftlichen Kerne der DDR-Kombinate und die Förderung industrieller Großinvestitionen. In Schwedt konnten dadurch Investitionen in Milliardenhöhe für die Erhaltung des in der DDR geschaffenen internationalen industriellen Komplexes, bestehend aus Erdölverarbeitung (PCK-Schwedt), Papier-und Pappeproduktion, stimuliert und ergänzend ein zusätzlicher Großinvestor der Papierindustrie (Haindl) angesiedelt werden. Im Umfeld dieser Großbetriebe hat sich ein Kranz kleinerer Betriebe, die teils durch Ausgliederung aus den alten Kombinaten, teils durch Neugründung entstanden sind, niedergelassen. Schwedt zieht aus den geowirtschaftlichen Veränderungen nach dem Zusammenbruch des RGW besonderen Nutzen. Als Produktionsstandort für materialintensive Grundstoffindustrien (Vorleistungsgüter) mit relativ geringer Empfindlichkeit gegenüber den in Deutschland vergleichsweise hohen Arbeitskosten bot die Stadt günstige Voraussetzungen als Stützpunkt, von dem aus liberalisierte ostmitteleuropäische Märkte für Vorleistungsgüter ebenso gut erschlossen werden können wie die nationalen Märkte. Aufgebäut mit dem Ziel, den Bedarf an Vorleistungsgütern in der DDR zu befriedigen, sieht sich die Stadt nunmehr unverhofft in der Rolle eines Wirtschaftsstandortes mit internationalem Bedeutungspotential auf derselben, nun aber aufgewerteten Produktionsgrundlage wie vorher. Allerdings ist Schwedt im Hinblick auf die Verkehrserschließung auf die veränderte Rolle nur ungenügend vorbereitet. Erreichbarkeitsnachteile, begrenzte Transportkapazitäten und ein nur bedingtes Interesse der polnischen Seite, Schwedt in die eigenen Infrastrukturplanungen einzubeziehen, halten die Stadt in einer geographischen Insellage und behindern die Markterschließung. Mit einer ganzen Kaskade von Infrastrukturmaßnahmen bemühen sich Bund, Land und die Stadt inzwischen, diese Erreichbarkeitsdefizite auszugleichen: Geplant sind der Ausbau der Wasserstraßen nach Berlin und Stettin, kombiniert mit einem Regionalhafen; ein Autobahnzubringer und Ortsumgehung; ein neuer Grenzübergang als Ersatz für den jetzt vorhandenen innerstädtischen; Verbesserungen der Schienenverkehrsverbindungen; Entwicklung grenzüberschreitender Kooperationen, vor allem Richtung Stettin
Betrachten wir die Interessenlage und das Zusammenspiel der für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt relevanten Akteure aus Politik und Wirtschaft, so wird erkennbar, daß ein derartig ambitioniertes Projekt eines langen Atems und einer starken Lobby bedarf. Rückendeckung fanden die Interessen Schwedts zunächst in der Landesregierung, die im Grunde keine andere Alternative hatte, wenn sie die Stadt nicht insgesamt aufgeben wollte. Mit der Erklärung Schwedts zum regionalen Entwicklungszentrum im Rahmen des Landesentwicklungsprogramms ist das Land eine von der Öffentlichkeit überprüfbare Verpflichtung eingegangen, diese Stadt zu einem Schwerpunkt ihrer Politik zu machen. Auf der kommunalen Ebene hat sich mittlerweile eine starke Lobby aus Vertretern der kommunalen Exekutive, der politischen Vertretung der Einwohner und der betrieblichen Leitungen der alten Betriebe gebildet, ergänzt um aktive Pionierinvestoren aus dem westlichen Bundesgebiet. Diese lokale private/öffentliche Interessenkoalition, in der sich die wichtigsten Entscheidungsund Kontrollkapazitäten der Stadt zusammengefunden haben, wirbt erfolgreich in den Medien sowie auf Landes-und gar auf Bundesebene für die Weiterentwicklung des Industriestandortes Schwedt und seine Einbindung in die internationalen europäischen Verkehrsnetze. Der Erfolg der Schwedter Interessenkoalition liegt darin, daß sie, gleichsam in Fortsetzung des sozialistischen Produktionsmodells, die Stadt und ihre räumlichen Bindungen wie eine große Maschine um ihre Kernelemente -die großen Industriebetriebe -vertikal organisiert hat. Vergleichbar übrigens vielen Städten des Ruhrgebiets, die als Stahl-und Montanstandorte ähnlich organisiert waren, liegt die Schwäche dieser Konstellation möglicherweise gerade in ihrer derzeitige Stärke Denn solange die örtliche Allianz allein auf die Stabilisierung der Großindustrie zielt, kann sie auch als Innovationsbremse wirken und eine Vernetzung der städtischen Wirtschaft mit anderen wirtschaftlichen Möglichkeiten blockieren.
Auf Mißtrauen und Widerstand stößt diese Interessenkoalition bei den Vertretern der Region, die Schwedt eher als Fremdkörper empfinden, der den von ihnen verfolgten Entwicklungspfaden, in denen die landwirtschaftlichen und landschaftlichen Potentiale im Vordergrund stehen, widerspricht. Es droht neben der wirtschaftlichen auch eine politische Spaltung der Region, in deren Ergebnis die Stadt Schwedt national und international eingebunden wäre, regional dagegen isoliert dastehen könnte, während Prenzlau als Kreisstadt und ländliches Versorgungszentrum sich als regional angepaßterer und den Bedürfnissen der übrigen regionalen Bevölkerung besser entsprechender Stadttypus erweisen könnte. Die innerregionale Isolierung der Schwedter Industrie könnte sich langfristig auch zu einem Problem für die wirtschaftliche Existenz der Stadt auswachsen. Die hochmodernen Kernbetriebe in Schwedt tragen zwar dazu bei, daß die Region Uckermark in ihrer Wirtschaftskraft, gemessen an der Zahl der Beschäftigten, alle anderen ostdeutschen Landkreise übertrifft, aber aufgrund ihrer erreichten und weiter steigenden Produktivität findet nur noch ein Bruchteil der Arbeitskräfte, die zu DDR-Zeiten in den örtlichen Kombinatsbetrieben tätig waren, in der Stadt und Region einen Arbeitsplatz. Die Arbeitslosenquote liegt bei fast 25 Prozent Schwedts Beschäftigungsbasis in den Kernsektoren schmilzt. Langfristig wird in den großen Industriekomplexen noch eine Beschäftigtenzahl von maximal fünftausend Arbeitskräften erwartet, so daß in einem zirkulären Prozeß mit dem Verlust der Beschäftigungsbasis auch das Versorgungssystem der Stadt zu erodieren droht und die Bevölkerung abwandert. Hinzu kommt, daß mit den Vorleistungsindustrien Branchen gehalten werden, deren Bindung an den Standort keineswegs als sicher gelten kann. Ein dauerhafter regionaler Einkommens-und Arbeitsmarktimpuls wäre dann gesetzt, wenn es gelänge, entweder diese Firmen stärker als bisher in innerregionale Wertschöpfungsketten einzubinden, das heißt einen regionalen Produktionskomplex mit Stufen der Weiterverarbeitung aufzubauen, oder zusätzlich neue wirtschaftliche Felder zu erschließen. 2. Brandenburg/Havel: Gefangen zwischen Industrietradition und Modernisierung Brandenburg/Havel ist eine Stadt mit ca. 85 000 Einwohnern, 50 km westlich von Berlin an der West-Ost-Verkehrsachse gelegen. Die Konstellation ähnelt in mancher Hinsicht der in der Stadt Schwedt. Im Unterschied zu Schwedt hat Brandenburg aber eine lange und vielfältige industrielle Tradition. Bereits 1926 schrieb Friedrich Grasow, die Industrie der Stadt Brandenburg weise eine Mannigfaltigkeit auf, „wie sie kaum in einer anderen Stadt ähnlicher Größe zu finden ist. In etwa 90 Betrieben werden ungefähr 17 000 bis 18 000 Personen beschäftigt“ Insbesondere die Metall-industrie und die Stahlproduktion haben Brandenburgs Ruf als Industriestadt begründet. Daneben hat sich in der Stadt auch ein reiches baukulturelles Erbe erhalten, aus dem ablesbar ist, daß Brandenburg mehr war als eine moderne Industriestadt, deren gesellschaftliches Leben sich aus den Produktionszusammenhängen ableitete.
In der DDR ist diese kulturelle Seite des historischen Erbes zugunsten eines forcierten Ausbaus der industriellen Basis vernachlässigt worden. Die Spezialisierung auf Stahlproduktion, Metallverarbeitung und Maschinenbau errang eine beherrsehende Stellung in der Stadt. Vor 1990 dominierte vor allem das Stahl-und Walzwerk (SWB), das mit seinen rund 12 000 Beschäftigen etwa ein Drittel des Rohstahlbedarfs der DDR deckte. Es beherrschte nicht nur die wirtschaftliche, sondern in weiten Bereichen auch die soziale und städtebauliche (z. B. Infrastrukturausbau, Wohnungs-und Gesellschaftsbauten) Entwicklung der Stadt. Ähnlich wie in Schwedt ist hier ein Produktionsmodell verwirklicht worden, in dem das Werk nicht nur den Lebensbereich Arbeit bestimmte, sondern als integrativer Bezugspunkt das gesamte soziale Leben der Stadt dominierte. Das Denken in Kategorien dieses Modells ist auch an den städtebaulichen Ergebnissen der Stadtentwicklungspolitik ablesbar: am Zerfall der gering geschätzten historischen Bausubstanz der Stadt, an der Entvölkerung der Innenstadt sowie an einer „extensiv erweiterten Reproduktion“ des Siedlungsgebietes durch den Bau neuer in der Industrietradition stehender moderner Wohnsiedlungen am Stadtrand.
Die Stadt Brandenburg ist nach der Wiedervereinigung eine der drei kreisfreien Städte des Landes Brandenburg geworden und hat in dieser Rolle erhebliche Handlungsspielräume in der Kommunalpolitik gewonnen, die jedoch faktisch nur begrenzt genutzt worden sind. Vielmehr hat sich in der Stadt kommunalpolitische Handlungsunsicherheit ausgebreitet. Deren Ursachen dürften einerseits im Zerfall des Orientierung bietenden Stahl-kombinats zu suchen sein, andererseits in einer neuen Vielfalt von privaten und öffentlichen Aktivitäten, deren Koordination auf größte Schwierigkeiten stößt.
Anfangs stand in der Lokalpolitik, unterstützt durch die Landespolitik, wie in Schwedt unhinterfragt die Sicherung der alten industriellen Basis im Vordergrund. Die Ansiedlung der Heidelberger Druckmaschinen AG, die Übernahme des Getriebewerkes durch ZF (Zahnradfabrik) Friedrichshafen sowie die Sicherung des Elektrostahlwerkes durch den italienischen RIVA Konzern haben die alten Industrieschwerpunkte zumindest vorübergehend konsolidiert und Weltmarktansprüchen angepaßt. Weitere international bekannte Unternehmen des Maschinenbaus komplettieren die industrielle Struktursicherung. Obwohl damit eine Fortführung der auf Stahl und Maschinenbau gegründeten industriellen Traditionslinie angestoßen wurde, ist dieser Vorgang -anders als in Schwedt -mit gewaltigen Verwerfungen in der örtlichen und regionalen Wirtschaft verbunden gewesen: In Brandenburg haben auch das vorhandene außerökonomische Umfeld sowie die damit ver21 bundenen sozialen und politischen Regulationsformen ihre über Jahrzehnte gepflegten funktionalen Bezugspunkte weitgehend verloren. Das moderne Elektrostahlwerk hat nur noch 750 Beschäftigte und ist damit zwar nach wie vor der größte Arbeitgeber im verarbeitenden Gewerbe. Es hat aber seine einst für Stadt und Region beherrschende Funktion vollständig verloren, und mit diesem Verlust ist auch die Rolle der Stadt als einer Suprastruktur für die Produktion und den Transport des Stahls sowie der in diesem System arbeitenden Menschen obsolet geworden. Auch die verbliebenen Maschinenbaubetriebe, die einst das zweite wichtige Standbein der Industrieentwicklung in der DDR bildeten, können der Stadt und ihren Einwohnern keinen Halt im Sinne eines sicheren Produktions-, Konsum-und Lebensmodells mehr bieten. Der Maschinenbau steht unter erheblichen globalen Anpassungszwängen, und die in Brandenburg ansässigen Betriebe sind als relativ kleine Filialen großer Konzerne abhängig von den Entscheidungen und den Produktinnovationen des Mutterunternehmens außerhalb der Region. Durch Eingliederung in die Produktions-und Lieferverflechtungen weltweit tätiger Konzerne wird der Standort Brandenburg tendenziell austauschbar, zumal die ansässigen Betriebe bisher kaum in regionale Zulieferbeziehungen eingebettet sind.
Hinzu kommt, daß trotz hoher Arbeitslosigkeit unter den ehemals Industriebeschäftigten ein Mangel an hochqualifizierten Facharbeitern herrscht, was als Indiz für die derzeit nur begrenzten Entwicklungschancen der Stadt als Standort für HighTech-Produktionen gelten kann. Das Fehlen hochqualifizierter Arbeitskräfte bei einer Arbeitslosenquote von 19, 5 Prozent im Mai 1998 verweist auf eine in der Stadt und der Region entstandene Lücke zwischen den Qualifikationsanforderungen der bisherigen standardisierten Massenproduktion und einer hochspezialisierten flexiblen Fertigung für die Weltmärkte Schließlich stellt sich das Gründergeschehen, von dem man im allgemeinen einen Wiederaufbau der industriellen Basis von unten erwartet, in der Stadt Brandenburg als wenig dynamisch dar. Die Stadt rangiert nicht nur am unteren Ende der Existenzgründerdichte in Brandenburg, sondern hat die Schwerpunkte ihrer Gewerbeanmeldungen in den Wirtschaftszweigen Handel, Dienstleistungen und Reparaturgewerbe, während im Verarbeitenden Gewerbe nur wenige Existenzgründungen stattfinden. Auch das darin zum Ausdruck kommende Fehlen einer „Kultur der Selbständigkeit“ spricht gegen eine auf längere Sicht erfolgreiche Erneuerung des Industriestandortes. Auffallend ist, daß es vielen mit den DDR-Erfahrungen ausgestatteten örtlichen Akteuren bis heute schwer fällt, sich von den alten an der Industrie orientierten staatlichen Steuerungsprinzipen zu lösen, sich in der auffächernden Vielfalt von Akteuren auf der lokalen Agenda zurechtzufinden und einen für diese Situation der Unübersichtlichkeit angemessenen Modus des Miteinanderumgehens und Formulierens von städtischen Entwicklungszielen zu finden Dadurch entsteht ein Bild der politischen Handlungsunfähigkeit und chaotischen Entwicklung, das in Bezeichnungen wie „Krisenstadt der Mark“ gipfelt und eine Konsensbildung zwischen den Interessengruppen in der Stadt fast unmöglich macht. Zur Unübersichtlichkeit trägt auch bei, daß ausgerechnet die neuen Eigentümer der alten Großbetriebe von der Stadt-politik eine Abkehr von der alten Industrietradition und die Schaffung von städtischer Lebensqualität durch Aufwertung der städtischen Umwelt verlangen. In diesen Forderungen steckt ein für die Stadtpolitik brisanter Strukturbruch. Es wird nicht mehr und nicht weniger gefordert, als sich vom Leitbild einer grundstoffbezogenen und großindustriell geprägten Agglomeration abzuwenden und die Gestaltung eines attraktiven urbanen Zentrums in den Mittelpunkt zu rücken, das dem Gewerbe, der Industrie, der Verwaltung, der Wissenschaft, der Kultur und dem Wohnen angemessene Räume für die Selbstentfaltung bietet. Ohne hier den Nachweis durch gesicherte empirische Erhebungen liefern zu können, scheinen sich in dieser Stadt zwei Linien im politischen Raum zu blockieren: eine „alte“ Linie entlang der industriellen Produktionstraditionen und eine neue, bisher schwächere, die eher auf die Aktivierung privaten und bürgerschaftlichen Engagements in der Stadt z. B. unter Bezug auf die Fachhochschule, das TGZ (Technologie-und Gründerzentrum), die kulturelle Tradition der Stadt und nicht zuletzt den neuen Mittelstand und die global orientierten Unternehmen setzt. 3. Zwickau: Städtische Krise und industrielle Erneuerung im Umland Die Stadt -im westsächsischen Raum am Fuß des Erzgebirges und des Vogtlandes gelegen -ist Teil des polyzentrischen Verdichtungsraumes Chem-nitz/Zwickau mit mehr als 400 000 Einwohnern. Der engere Raum Zwickau mit 200 000 Einwohnern -davon gut 100 000 in der Stadt -gilt heute wieder als eine führende Region des Automobil-baus. Zwickau war vor dem Zweiten Weltkrieg zu einem Zentrum des deutschen Automobilbaus herangewachsen, das mit der Auto-Union Marken wie Horch, Audi, DKW und Wanderer zusammenfaßte. Vor dem Krieg bildeten die Stadt und die Region darüber hinaus zusammen mit Chemnitz eine industrielle Agglomeration mit einer breiten Streuung mittlerer und kleinerer Betriebe der Metallverarbeitung, des Maschinenbaus, der Textilindustrie und des Bergbaus. Noch in den Anfangsjahren der DDR war diese Struktur vorherrschend, was von der Industrie-und Territorialplanung kritisch als eine räumliche, betriebliche und sortimentsmäßige Zersplitterung bewertet wurde. Der Bezirk Karl-Marx-Stadt umfaßte damals rund 1 300 Industriebetriebe aller Größenordnungen mit etwa 5 000 verschiedenen Produktionsstätten. Diese wurden nach und nach zu gebietlich organisierten Kombinaten oder Produktionsgemeinschaften zusammengeführt. Anders als die Grundstoffindustrie und die Investitionsgüterproduktion (Schwedt, Brandenburg/Havel) ist im Zwickauer Raum das historische Erbe des Automobilbaus als für die Industrialisierung nachrangig eingestufter Wirtschaftszweig nur sehr begrenzt gefördert worden. Hierfür stehen der in Zwickau gefertigte Trabant, der bis zu seiner Produktionseinstellung 1991 kaum innovative Veränderungen erfuhr, und die stagnierende Beschäftigtenentwicklung in diesem Wirtschaftszweig.
Heute haben sowohl der Maschinenbau als auch die Textilindustrie, die neben dem Automobilbau einst das wirtschaftliche Rückgrat der Region darstellten, wegen mangelnder internationaler Konkurrenzfähigkeit an Bedeutung verloren. Auch im Automobilbau war das Ende des Produktionsstandortes vorprogrammiert. Jedoch gelang ausgerechnet in der Automobilindustrie ein beispielhafter Neuanfang, also in jenem Industriebereich, der in der DDR technologisch hoffnungslos hinter den in den westlichen Industrieländern erreichten Entwicklungsstand zurückgefallen war. Ähnlich wie in den beiden anderen Beispielregionen verband sich hier das Interesse eines Großinvestors (VW), sich an der Schwelle zu den osteuropäischen Märkten zu positionieren, mit dem öffentlichen Interesse, einen alten Industriestandort zu retten. Von der und Bundesregierung der sächsischen Landesregierung ebenso wie von den regionalen und kommunalen Akteuren massiv gefördert, sind mit Milliardeninvestitionen die Grundlagen einer neuen regionalen Produktionsstruktur gelegt worden. Die Versorgung mit öffentlichen Diensten ist gänzlich auf die Bedürfnisse dieses Großinvestors zugeschnitten worden. Straßenanbindung, Schienenanschluß, Erdgasversorgung, Trinkwasserversorgung, Abwasserentsorgung und Telekommunikation wurden in kürzester Frist und nachfragegerecht auf der „grünen Wiese“ eingerichtet. Eine breite öffentlich geförderte Qualifizierungsoffensive unterstützte die Anpassung der Arbeitskräfte an die auch in den Zulieferwerken geforderten neuen Produktionsaufgaben. Schließlich bemühte man sich um eine Stärkung des regionalen Standortes durch Gründung der Fachhochschule für Wirtschaft und Technik in Zwickau, an der Lehre und Studium sowie angewandte Forschung rund um das Kraftfahrzeug angeboten werden.
Im Gegensatz zu den beiden Vergleichsstädten bot das DDR-Erbe im Zwickauer Raum nur punktuelle Anknüpfungspunkte für diese Strategie: Es waren vor allem die Reste vorsozialistischer Erfahrungen, das um den Automobil-und Maschinenbau sich rankende industriebezogene Erfahrungsund Qualifikationspotential der Region, das forciert durch fremdes Kapital und angereichert um externes Know-how für die Entwicklung eines neuen -allerdings sekundären -regionalen Produktionskomplexes genutzt werden konnte Für den investierenden VW-Konzern bot sich hier die Chance, gleichsam experimentell den Restrukturierungsprozeß der ostdeutschen Industrie für neue und in dieser Radikalität an den westdeutschen Standorten damals nicht durchsetzbare Organisationsprinzipien von „lean production“ zu nutzen. Im Unterschied zu Schwedt und Brandenburg/Havel entstand in Mosel vor den Toren der Stadt Zwickau eine hocheffiziente, flexible Fertigungsorganisation mit einer vergleichsweise geringen Fertigungstiefe von nur 30 Prozent, was zu ihrer Funktionsfähigkeit den Aufbau eines ganzen Netzwerkes von Zulieferbetrieben im näheren Umfeld notwendig machte. Stammten diese Zulieferer anfangs primär aus dem westlichen Bundesgebiet, wurden im Laufe der Zeit auch aus dem Automobilkombinat Sachsenring hervorgegangene Betriebe und andere regional verankerte Produ-zenten in das Zuliefernetz integriert Diese Zulieferer siedeln in der Nachbarschaft des Montagewerkes innerhalb und außerhalb Zwickaus Auf dem Gelände des alten Horch-Werks in Zwikkau ist heute der aus dem Kombinat Sachsenring hervorgegangene Automobilzulieferer Sachsenring AG tätig.
Im Rahmen des VW-Produktionsverbundes zählt der Schwerpunkt Mosel inzwischen zu den produktivsten Automobilmontagewerken Europas -durch Optimierung der Wertschöpfungskette vom Zulieferer über die Montage des Finalproduktes bis zum Vertrieb. Er ist aufgrund seiner Lage unter anderem auch eng mit der tschechischen Tochter Skoda verbunden und wird durch den geplanten Aufbau eines weiteren Produktions-und Forschungsstandortes in Dresden gestärkt. Rund 35 000 Arbeitsplätze, darunter die Motorenfertigung in Chemnitz, sind inzwischen mit der Automobilfertigung am Standort Mosel verbunden. Im Gegensatz zu Schwedt und Brandenburg/Havel mit ihren industriellen Solitären ist im Zwickauer Raum um die Leitindustrie herum bereits eine semi-autonome Reindustrialisierung mit günstigeren Beschäftigungseffekten und robusten Netzwerkstrukturen entstanden.
Die regionale Erfolgsgeschichte ist allerdings von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den politischen Akteuren der Stadt Zwickau und den erfolgreichen Gemeinden der Region begleitet. Verglichen mit der Region Schwedt/Uckermark, in der aus der Region gegen die erfolgreiche Industriestadt opponiert wird, sind die Vorzeichen des Konflikts hier umgekehrt. Dessen Ursachen liegen vordergründig darin, daß der industrielle Aufschwung der Region sich im wesentlichen an der Stadt vorbei organisiert, während die Akteure der Stadt keine Ansatzpunkte mehr finden, an ihre traditionsreiche Geschichte der Automobilproduktion anzuknüpfen. Bezogen auf das VW-Werk sind die Güter-und Personen-verflechtungen vielmehr aus der Stadt heraus orientiert, so daß Zwickau, betroffen von Bevölkerungsverlusten, vom Niedergang ihrer alten Industrien und belastet mit den Problemen einer kostenaufwendigen Sanierung großer industrieller Brachen in einer tiefen Krise steckt Von den Akteuren aus Politik und Verwaltung der Stadt Zwickau werden die Problemursachen vor allem in der räumlichen Begrenztheit (fehlende Gewerbeflächen und Flächen für Einfamilienhäuser) der Stadt gesucht und weniger in den veränderten Standortstrukturen moderner Produktionssysteme, die andere Ansprüche an Standorte und Standortbeziehungen stellen, als sie von den traditionsreichen alten Industriestädten geboten werden können.
Konsequenz dieser auf die Tradition eines untergegangenen Industriesystems fixierten Sicht sind die bekannten Forderungen nach umfangreichen Eingemeindungen, mit denen die politischen Akteure der Stadt die Industrie und die ins Umland abgewanderte Bevölkerung wieder in das Stadtgebiet zurückholen wollen, wogegen sich die Umlandgemeinden stemmen. Sie organisieren sich in Opposition zur Stadt in von der Kernstadt abgewandten Verwaltungsverbänden. Nicht zu Unrecht fürchten sie, durch Eingemeindung würden sich die bisher so erfolgreich genutzten wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsbedingungen der eigenen Gemeinde drastisch verschlechtern und die Gemeinden der Region zum Finanzier kernstädtischer „Fehlentwicklungen“ degradiert. Der Streit zwischen den Gebietskörperschaften hat 1998 an Schärfe zugenommen, nachdem der sächsische Landtag in einem „Stadt-Umland-Gesetz“ sich auf die Seite der Städte geschlagen hat und unter anderem den Gemeindeverband Mosel mit 5 500 Einwohnern, der Sitz des VW-Werkes ist, der Stadt Zwickau zum 1. Januar 1999 zugeschlagen worden ist. Mosel hat wie andere sächsische Umlandgemeinden beim Verfassungsgerichtshof des Landes Klage gegen die geplante Umsetzung des neuen Gesetzes eingereicht.
Hier paaren sich die Interessen des Landes an im europäischen Maßstab politisch handlungsfähigen Städten und Städtenetzen (Sachsendreieck Leipzig, Dresden, Chemnitz/Zwickau) mit eher rückwärts gewandten Begehrlichkeiten der Stadt. Die von der industriellen Tradition Zwickaus geprägten Haltungen stehen auch in einem diametralen Kontrast zur Netzwerkstruktur des vom VW-Werk organisierten neuen flexiblen Produktionssystems, das sich in seiner regionalen Ausdehnung und internationalen Verflechtung weitgehend der Kontrolle durch eine wie auch immer räumlich sich ausdehnende Kernstadt entzieht.
III. Fazit
Die wirtschaftlichen Entwicklungen ostdeutscher Stadtregionen und die Akteurskonstellationen in diesem Prozeß belegen eine breite Variation industrieller Restrukturierungspfade, ungeachtet des einheitlichen Systems der staatlichen Förderung und eines einheitlichen Rechtsrahmens. Aus dem Vergleich der drei Städte läßt sich ablesen, daß in Abhängigkeit von den historischen Entwicklungen, geprägt vor allem von 40 Jahren Industrie-und Territorialplanung der DDR, Entscheidungsund Handlungskonstellationen entstanden sind, die innerhalb gegebener lokaler Manövrierspielräume spezifische Pfadlogiken der wirtschaftlichen Transformation begünstigen, die jedoch in unterschiedlicher Weise von den lokalen und regionalen Akteuren genutzt werden: In Schwedt hat sich die erst in der DDR geschaffene Grundstoffindustrie in einem gewaltigen Akt abgestimmter öffentlicher Förderung und privater Investitionen gegen nationale und internationale Konkurrenz behaupten können. Brandenburg/Havel hingegen repräsentiert einen in den neuen Bundesländern verbreiteten Falltyp, in dem es nur punktuell gelang, Reste der alten Industrietradition zu bewahren. Hier steht eine an den Erfahrungs-, Qualifikations-und Wissensfundus des sozialistischen Produktionsmodells gebundene Stadtpolitik der wirtschaftlichen Erneuerung und einer „Kultur der Selbständigkeit“ noch relativ verständnislos gegenüber. In der Region Zwickau löst sich die Reindustrialisierung -verglichen mit den beiden anderen Stadtregionen -am weitesten aus den Vorgaben des untergegangenen Industriesystems der DDR. Hier wurde von einer öffentlich-privaten Interessenkoalition, den räumlichen, institutioneilen und ökonomischen Rigiditäten des alten Industriezentrums Zwickau ausweichend, auf der „grünen Wiese“ ein den Interessen eines global agierenden Investors angepaßtes Standortsystem geschaffen, das sich den siedlungsstrukturellen Vorgaben dieser alten Industrieregion in keiner Weise fügt.
Es zeigt sich in allen drei Stadtregionen, daß mit den neuen Investoren die engen Kontexte, innerhalb derer sich die DDR-Industrie bewegt hat, gesprengt werden und die Städte und Regionen auf unterschiedliche Weise in globale, zumindest aber neue europäische Kontexte einbezogen werden, auf die sich die kommunale und regionale Wirtschaftspolitik bisher nicht immer angemessen eingestellt hat. Diese Einbindung konnte bisher kaum dazu beitragen, die örtlichen und regionalen Arbeitsmarktprobleme zu lösen. Mit den zum Teil gewaltigen Investitionen wurden in allen drei Regionen kapitalintensive, hochproduktive Industrien geschaffen, jedoch vergleichsweise wenige Arbeitsplätze. Selbst in der Region Zwickau, in der es bereits gelungen ist, ein regionales Produktionsnetz aufzubauen und zusätzliche Arbeitsplätze im Zuliefererbereich zu schaffen, liegt die Arbeitslosenquote noch bei 18 Prozent.
Hans Joachim Kujath, Dr. phiL, Dipl. -Ing., geb. 1942; Abteilungsleiter „Regionale Entwicklung“ und stellvertretender Direktor des Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung, Erkner b. Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Gespaltene Ökonomie und regionale Integrationsansätze, in: BISS-Public, (1998) 25; (Hrsg.) Strategien der regionalen Stabilisierung. Wirtschaftliche und politische Antworten auf die Internationalisierung des Raumes, Berlin 1998.
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