Der Erfolg des amerikanischen Beschäftigungsmodells und seine Ursachen Gesicherte Erkenntnis oder vage Vermutungen?
Sabine Leutenecker
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Zusammenfassung
Die Arbeitsmarktentwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika wird in Deutschland mit Interesse und Bewunderung verfolgt. Eine seit Jahren sinkende Arbeitslosenquote und ein stetig steigendes Beschäftigungswachstum scheinen nahezulegen, aus dem amerikanischen „Modell“ Lehren für den deutschen Arbeitsmarkt zu ziehen. Dabei konzentrieren sich die Vorschläge regelmäßig auf eine Übernahme der flexiblen Ausgestaltung zentraler Arbeitsmarktinstitutionen. In diesem Aufsatz wird versucht, die vermuteten Zusammenhänge zwischen dem institutioneilen Rahmen des Arbeitsmarktes und der beschäftigungspolitischen Bilanz der Vereinigten Staaten empirisch zu beleuchten. Es wird gezeigt, daß sich der vermutete Zusammenhang zwischen flexiblen Arbeitsmarkinstitutionen und einer positiven Beschäftigungsentwicklung sowie einem aktuell niedrigen Niveau der Arbeitslosigkeit auch empirisch untermauern läßt. Andere vermutete Effekte, wie die verbesserte Integration von Problemgruppen in den Arbeitsmarkt, ließen sich jedoch nicht beobachten. Die Suche nach den beschäftigungspolitischen Lehren des amerikanischen Modells für Deutsch-land müßte deshalb ausgedehnt werden.
Der Vergleich der arbeitsmarktpolitischen Situation in Deutschland mit derjenigen in den Vereinigten Staaten von Amerika ist beinahe schon Routine geworden in der Diskussion um mögliche Lösungen des deutschen Beschäftigungsproblems. Denn auf den ersten Blick scheint der Fall offensichtlich zu sein: Der seit Jahren sinkenden Arbeitslosigkeit und beständig zunehmenden Beschäftigung in den USA stehen auf seiten der Bundesrepublik die höchsten Arbeitslosenzahlen ihrer Geschichte entgegen. Auch die wesentlichen Ursachen für diese unterschiedlichen Ergebnisse auf dem Arbeitsmarkt scheinen für viele bereits ausgemacht: Die flexiblen Arbeitsmarktinstitutionen, insbesondere dezentralisierte Lohnverhandlungen, schwach ausgeprägte Kündigungsschutzregelungen und knapp bemessene Leistungen der Arbeitslosenversicherung, sind nach neoliberaler Sicht ursächlich für den Erfolg am Arbeitsmarkt und sollten deshalb so auch in Deutschland übernommen werden Daß Ursachen und Wirkung jedoch nicht so eindeutig zu bestimmen sind, wie es die oben skizzierte Argumentation nahelegt, soll hier durch einen detaillierten Blick auf die US-amerikanische Arbeitsmarktbilanz gezeigt werden. Dabei werden zunächst die wesentlichen Elemente des amerikanischen „Modells“ dargestellt, um dann mögliche Auswirkungen dieser institutioneilen Rahmengebung besser beurteilen zu können.
I. Das amerikanische „Modell“
1. Lohnfindung
Abbildung 13
Tabelle 3: Stellenentwicklung in unterschiedlichen Berufsgruppen 1989-1997 Quelle: Randy E. Igl/Angela Clinton, Strong Job Growth Continues, Unemployment Declines in 1997, in: Monthly Labor Review, (1998) 2, S. 48.
Tabelle 3: Stellenentwicklung in unterschiedlichen Berufsgruppen 1989-1997 Quelle: Randy E. Igl/Angela Clinton, Strong Job Growth Continues, Unemployment Declines in 1997, in: Monthly Labor Review, (1998) 2, S. 48.
Im Bereich der Lohnverhandlungen wird die Überlegenheit des amerikanischen Systems oft an der Dezentralisierung des Tarifsystems festgemacht. Im internationalen Vergleich werden dabei in der Regel drei Kennzahlen betrachtet: der gewerkschaftliche Organisationsgrad (Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen Arbeitnehmern), der Deckungsgrad der Tarifverträge (Anteil der Arbeitnehmer, für die gewerkschaftlich ausgehandelte Tarifverträge gelten) sowie der Zentralisierungsgrad der Lohnverhandlungen (Ebene, auf der Tarifverhandlungen geführt werden). Obwohl die Erhebung der relevanten Zahlen international erheblichen Variationen unterliegt kann mit einiger Sicherheit festgestellt werden, daß das amerikanische Lohnverhandlungssystem bei jedem einzelnen dieser Indikatoren durch einen sehr geringen Wert gekennzeichnet ist. Nur noch 16 Prozent aller Arbeitnehmer waren 1994 Mitglied in einer Gewerkschaft, lediglich 18 Prozent arbeiteten unter gewerkschaftlich ausgehandelten Tarifverträgen. Diese geringe Anzahl von Verträgen wird in erster Linie auf Unternehmensoder Betriebsebene ausgehandelt, während in Deutschland hauptsächlich auf sektoraler Ebene eines Industriezweiges und in skandinavischen Ländern wie Finnland und Norwegen zentral auf nationaler Ebene verhandelt wird. Spektakuläre Aktionen und Verhandlungserfolge, wie etwa nach dem Streik der Fahrergewerkschaft beim Paketlieferdienst UPS im September 1997, fallen angesichts dieser Zahlen auf nationaler Ebene kaum noch ins Gewicht. Für den größten Teil der Amerikaner hängen Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen somit nicht von kollektiven, sondern von individuellen Verhandlungen mit ihrem Arbeitgeber ab
2. Gesetzlicher Kündigungsschutz
Gesetzlicher Kündigungsschutz existierte in den USA auf nationaler Ebene lange Zeit lediglich in Form von Antidiskriminierungsbestimmungen. 1988 wurden mit der Verabschiedung des , Worker Adjustment and Retraining Notification Act (WARN) erstmals minimale staatliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern kodifiziert Weiterführende Regelungen wie etwa die Möglichkeit der Kurzarbeit zur Verhinderung von Entlassungen wurden 1994 im Rah-men des . Reemployment Act durch Präsident Clintons Arbeitsminister Reich eingeführt, was beiden die Kritik der „Germanisierung Amerikas“ einbrachte Trotz dieser ersten Ansätze zur Regulierung von Arbeitsvertragsbeziehungen ist jedoch festzustellen, daß die Pflichten deutscher Arbeitgeber zur Einhaltung von Kündigungsfristen, der Anhörung des Betriebsrates sowie zur Erstellung eines Sozialplanes bei Massenentlassungen in den Vereinigten Staaten nicht annähernd eine Entsprechung finden.
Jenseits der gesetzlichen Normierung vollzogen sich im Bereich des Kündigungsschutzes jedoch seit den siebziger Jahren einschneidende Änderungen auf juristischer Ebene. Im amerikanischen, auf Präzedenzfällen beruhenden Rechtssystem werden von Gerichten zunehmend Entscheidungen getroffen, die Ausnahmen von der bislang geltenden Doktrin der absoluten Vertragsfreiheit im Bereich des Arbeitsverhältnisses (, employment-at-will doctrine) darstellen. Entlassungen können seitdem unrechtmäßig sein, wenn der Beschäftigte durch vertragliche Zusicherung (, implied contract exception) oder auch nur im guten Glauben an faires Vertragsverhalten (, covenant of good faith and fair dealing) von der Beständigkeit des Arbeitsverhältnisses ausgehen konnte. Diese durch Richterrecht entstandene neue , wrongful-termination doctrine kann für Arbeitgeber zu Schadensersatzzahlungen in Höhe von mehreren Millionen Dollar an entlassene Beschäftigte führen. So werden Streitigkeiten, die in Deutschland kooperativ zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung beigelegt werden können, in den Vereinigten Staaten immer häufiger vor Gericht ausgetragen
3. Arbeitslosenversicherung
Höhe und Dauer der Leistungen der Arbeitslosenversicherung sind nach Meinung einiger Kritiker des deutschen Systems mitverantwortlich für die Höhe der Arbeitslosenquote Dabei sind auch die Leistungen des amerikanischen Versicherungssystems in den ersten Monaten nach Verlust des Arbeitsplatzes im internationalen Vergleich relativ generös. Sie ersetzen durchschnittlich zwischen 50 und 70 Prozent des Bruttolohns. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, daß die Dauer des Leistungsbezugs -abhängig von der Dauer der vorhergehenden Beschäftigungszeit und/oder dem zuvor erzielten Einkommen -in nahezu allen Bundesstaaten auf maximal 26 Wochen begrenzt wird. Anders als in der Bundesrepublik schließen sich an das Auslaufen der Versicherungsleistungen in der Regel weder subsidiäre Arbeitslosenhilfe noch ein der deutschen Sozialhilfe vergleichbares System von Unterstützungsleistungen an. Arbeitslosigkeit kann so bereits nach kurzer Zeit zur Existenzbedrohung werden.
II. Institutionen und Arbeitsmarktentwicklung
Abbildung 10
Abbildung 1: Arbeitslosigkeit in den USA und in Deutschland (in Prozent) Quellen: OECD, Quaterly Labour Force Statistics, Paris 1998. BLS 1998 (vgl. Anm. 8 und 9).
Abbildung 1: Arbeitslosigkeit in den USA und in Deutschland (in Prozent) Quellen: OECD, Quaterly Labour Force Statistics, Paris 1998. BLS 1998 (vgl. Anm. 8 und 9).
Der Einfluß der institutionellen Ausgestaltung des Arbeitsmarktes auf die Arbeitsmarktbilanz steht im Zentrum der Diskussionen um den Vorbildcharakter der Vereinigten Staaten für Europa im allgemeinen und den deutschen Arbeitsmarkt im besonderen. Zwischen den hier dargestellten Institutionen und den Entwicklungen auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt werden -vereinfacht -folgende Zusammenhänge vermutet: -Das weitestgehend dezentralisierte System der Tarifverhandlungen sollte die Anbietermacht der Gewerkschaften so weit zähmen, daß der Preis für die angebotene Arbeit in Höhe und Struktur dem jeweiligen Gleichgewichtspunkt zwischen Angebot und Nachfrage nahekommt. Der beschäftigungspolitische Erfolg -gemessen in Arbeitslosenquote und Beschäftigungsentwicklung -eines solchen Systems müßte deshalb deutlich über dem der Bundesrepublik Deutschland liegen. Insbesondere müßten auch Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt in den Vereinigten Staaten besser integriert werden können als in Deutschland, da negative Charakteristika -wie etwa eine geringe Qualifikation -durch niedrige Löhne kompensiert werden könnten. -Der schwach ausgeprägte gesetzliche Kündigungsschutz ermöglicht in den USA eine schnelle Reduzierung der Beschäftigtenzahlen in Zeiten von Auftragsrückgängen. Es ist zu vermuten, daß diese Möglichkeit bei positiver Geschäftsentwicklung ebenso zur raschen Einstellung neuer Arbeitnehmer führen wird. Außerdem müßten sich die geringen Restriktionen ebenfalls positiv auf die Beschäftigungschancen von Randgruppen, den sogenannten „Outsidern“, auswirken. -Auf seiten der Anbieter auf dem Arbeitsmarkt wird vermutet, daß die materielle Not Arbeitslose, deren Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung ausgelaufen ist, dazu zwingt, schnell ein -wenn auch schlechter bezahltes -Arbeitsplatzangebot anzunehmen.
Insgesamt wird also angenommen, daß sich die flexible Ausgestaltung der Arbeitsmarktinstitutionen sowohl auf das Niveau als auch auf die Struktur von Arbeitslosigkeit und Beschäftigung positiv auswirkt. Diesen Annahmen werden im folgenden einige empirische Beobachtungen der amerikanischen Arbeitsmarktbilanz gegenübergestellt, um im Anschluß daran diskutieren zu können, wie schlüssig der vermutete Zusammenhang zwischen Institutionen und Arbeitsmarktentwicklung tatsächlich ist. Dabei geht es zunächst vor allem um die Fragen, wie sich die Zahl der Arbeitslosen und der Beschäftigten entwickelt hat, welche Gruppen auf dem Arbeitsmarkt von dieser Entwicklung profitiert haben und welche Art von Beschäftigungsverhältnissen in den Vereinigten Staaten entstanden ist.
III. Arbeitslosigkeit und Beschäftigung
Abbildung 11
Tabelle 1: Anteil der Beschäftigung nach Sektoren (in Prozent) Quelle: OECD, Labour Force Statistics, Paris 1997.
Tabelle 1: Anteil der Beschäftigung nach Sektoren (in Prozent) Quelle: OECD, Labour Force Statistics, Paris 1997.
Im Hinblick auf die standardisierten Arbeitslosen-quoten *ist*zunächst auffallend, daß die Bundesrepublik bis Mitte der achtziger Jahre das beschäftigungspolitisch erfolgreichere Land war. Betrachtet man lediglich die Zahlen für Westdeutschland, erschien die Arbeitsmarktsituation sogar noch in der ersten Hälfte der neunziger Jahre günstiger als in den Vereinigten Staaten. 1991 errechnete das amerikanische Arbeitsministerium für Westdeutschland mit einer Arbeitslosenquote von 4, 3 Prozent einen niedrigeren Wert als die 1997 in den USA als Vollbeschäftigung gefeierten 4, 9 Prozent (siehe Abbildung 1). Mit dem raschen Anstieg der Arbeitslosenquoten für West-und Gesamtdeutschland ab 1991 sind deshalb aus Abbildung 1 die Belastungen Deutschlands im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung auch deutlicher abzulesen als die vermuteten Folgen eines erstarrten deutschen Arbeitsmarktes.
Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man als zweiten Indikator zur Beurteilung des arbeitsmarktpolitischen Erfolgs eines Landes die Entwicklung der Beschäftigungszahlen betrachtet. Die große Bewunderung, die der amerikanischen Arbeitsmarktentwicklung seit Jahren von deutschen und anderen europäischen Beobachtern entgegengebracht wird, gründet in erster Linie auf dem absoluten Zuwachs der Beschäftigtenzahlen. Seit 1975 sind dort mehr als 40 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden. Die prozentuale Veränderung der Erwerbstätigkeit lag zwischen 1975 und 1997 durchschnittlich bei 1, 7 Prozent im Jahr, in Deutschland hingegen bei lediglich 0, 5 Prozent Bei der Mehrzahl der Stellen handelt es sich um Vollzeitstellen in der Privatwirtschaft, so daß das sogenannte amerikanische Beschäftigungswunder'nicht durch den vermehrten Ausbau von Teilzeitstellen oder die Ausdehnung des öffentlichen Dienstes erklärt werden kann.
Trotzdem überzeichnen diese Zuwachsraten den beschäftigungspolitischen Erfolg der Vereinigten Staaten, da dem überdurchschnittlichen Bevölkerungszuwachs zu wenig Rechnung getragen wird. Alan B. Krueger und Jörn-Steffen Pischke schätzen, daß bis zu 60 Prozent des Beschäftigungswachstums auf die Zunahme der Erwerbsbevölkerung zurückgeführt werden kann. Allerdings verweisen sie in ihrer Studie ebenfalls darauf, daß das schwächere Bevölkerungswachstum in der Bundesrepublik nicht in ähnlicher Weise in den Arbeitsmarkt integriert werden konnte Es spricht deshalb vieles dafür, daß flexible Lohnver-handlungssysteme durch das Nachgeben der Löhne nach unten im Zusammenhang mit einem extremen Angebotsdruck auf dem Arbeitsmarkt wachsende Beschäftigungsmöglichkeiten hervorrufen können Außerdem entsteht mit einer zunehmenden Bevölkerungszahl auch eine wachsende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Da bei den meisten Dienstleistungen Produktion und Konsum räumlich und zeitlich zusammenfallen, führt vor allem in diesem Sektor eine gestiegene Nachfrage schnell zu wachsender Beschäftigung. Genau dieser Zusammenhang kann auch in den USA beobachtet werden (siehe Tabelle 1). Diese Verlagerung von Beschäftigungsanteilen in den Dienstleistungssektor hat natürlich -wie in allen westlichen Industrienationen -auch in Deutsch-land stattgefunden. Die Besonderheit des amerikanischen Arbeitsmarkts liegt darin, daß diese Verlagerung auf extrem hohem Niveau erfolgte; bereits Mitte der siebziger Jahre arbeiteten in den USA 65 Prozent der Beschäftigten im Dienstleistungssektor, mehr als in Deutschland heute.
1. Gewinner und Verlierer auf dem Arbeitsmarkt
Vom amerikanischen Beschäftigungswachstum profitierten fast ausschließlich Frauen. Ihre Beschäftigungsquote hat sich zwischen 1975 und 1997 um 14, 8 Prozentpunkte erhöht. Dem steht ein relativer Beschäftigungsverlust von 0, 4 Prozentpunkten bei den Männern gegenüber Der Anteil erwerbstätiger Frauen an der erwerbsfähigen weiblichen Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren lag in den USA 1996 bei 71 Prozent. Innerhalb der OECD wird dieser Wert nur von den skandinavischen Ländern Schweden, Norwegen, Dänemark und von Island übertroffen, in Deutschland lag die Quote bei 61 Prozent (1995). Diese Zahlen verweisen auf einen extremen Wandel im Erwerbsverhalten amerikanischer Frauen während der letzten 30 Jahre. 1968 lag der deutsche Wert mit 47, 7 Prozent noch knapp über dem amerikanischen mit 46, 9 Prozent Die Vermutung, die Arbeitslosigkeit konzentriere sich in einem System mit flexiblen Arbeitsmarktinstitutionen weniger auf Randgruppen als in anderen Ländern, läßt sich durch das verfügbare Zahlenmaterial in dieser Deutlichkeit allerdings nicht bestätigen. So lag 1996 die Arbeitslosigkeit bei schwarzen Amerikanern um vier Prozentpunkte höher als bei Weißen. Diese Problematik wird besonders dramatisch im Zusammenhang mit der ebenfalls erhöhten Jugendarbeitslosigkeit. 1996 waren über 12 Prozent junger Amerikaner zwischen 16 und 24 Jahren arbeitslos, in (Gesamt-) Deutschland traf das „nur“ für acht Prozent zu. In beiden Ländern sind junge Männer stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als junge Frauen (vgl. Tabelle 2). So waren 1996 18 Prozent der amerikanischen Männer zwischen 16 und 19 Jahren arbeitslos. Die Arbeitslosenquote für schwarze Männer zwischen 16 und 19 Jahren erreichte im Juli 1996 einen vorläufigen Höhepunkt von 43 Prozent Richard B. Freeman verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß die offizielle Zahl der Arbeitslosen noch deutlich höher wäre, würde man die Insassen in Gefängnissen hinzuzählen. Nach seinen Berechnungen befanden sich 1995 12 Prozent der schwarzen Amerikaner zwischen 25 und 34 Jahren in Haft
Besondere Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden, haben in beiden Ländern Menschen mit einer geringen Ausbildung. Ihre Situation ist in den Vereinigten Staaten besonders dramatisch. Teilt man die Erwerbsbevölkerung nach ihrem Qualifikationsniveau in vier Gruppen, so zählt man in den USA für einen Arbeitslosen aus der höchsten Qualifikationsgruppe 3, 5 niedrig qualifizierte Arbeitslose. In Deutschland wird die Relation der Arbeitslosenquoten nach Qualifikationsniveau mit 1: 2, 6 angegeben
2. Welche Jobs wurden geschaffen?
Über die Natur der zusätzlichen Beschäftigung ist viel gestritten worden. Häufig wird vermutet, daß es sich bei den neu entstandenen Arbeitsstellen um sogenannte , junk jobs‘ handelt, also um schlecht bezahlte, oft befristete Arbeit unter fragwürdigen Bedingungen, wie sie typischerweise in Fast-Food-Ketten angeboten wird. Dem wird entgegengehalten, daß gerade in Branchen, in welchen überdurchschnittlich hohe Löhne bezahlt werden -wie etwa im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung -die Beschäftigung am stärksten expandierte. Beides stimmt. In den achtziger Jahren hat sich die Anzahl der Beschäftigten in der Computerbranche nahezu verdreifacht. Somit fand der höchste relative Beschäftigungszuwachs in einer Branche statt, in welcher 1994 mit einem durchschnittlichen Stundenverdienst von 16, 8 Dollar sehr hohe Arbeitseinkommen erzielt werden konnten. Wird die Beschäftigungsentwicklung hingegen in absoluten Zahlen gemessen, bestätigt sich die These von der Zunahme der Junk-Jobs, vor allem in der Gastronomie. 1994 arbeiteten in dieser Branche über sieben Millionen Amerikaner und Amerikanerinnen, allein in den achtziger Jahren sind hier fast zwei Millionen neue Jobs entstanden. Dane-ben ist der kräftige Stellenzuwachs der , Personnel Supply Services'bemerkenswert -eine Branche, in welcher sich neben privaten Arbeitsvermittlungsagenturen vor allem Zeit-und Leiharbeitsfirmen finden. In den achtziger Jahren wuchs dieser Wirtschaftszweig in absoluten Zahlen gemessen am fünftschnellsten, zwischen 1993 und 1994 war er sogar die „number one growth industry“ Wird der Beschäftigungszuwachs nicht nach Branchen, sondern nach Berufsgruppen gemessen, ergibt sich erneut ein anderes Bild. Tabelle 3 zeigt, daß zwischen 1989 und 1997 ein deutlicher Stellenzuwachs sowohl in den bestbezahlten Berufsgruppen (Manager, Geschäftsführer) als auch in Berufen mit den niedrigsten Verdiensten (Verkäufer, Hilfsarbeiter) verzeichnet werden konnte. Abgenommen haben die Stellen jedoch in den mittleren Kategorien (Techniker, Facharbeiter).
Auffallend ist, daß die Abnahme der Beschäftigung in der mittleren Gehaltsgruppe mit einer gleichzeitigen Polarisierung der Einkommen korrespondiert. Zwischen 1979 und 1993 ist das Durchschnittseinkommen der ärmsten 20 Prozent der amerikanischen Haushalte real um 400 Dollar auf 7 411 Dollar jährlich gesunken, obwohl in den meisten Haushalten mittlerweile mindestens zwei Personen einer Vollzeitarbeit nachgehen. Das Durchschnittseinkommen des reichsten Fünftels aller Haushalte stieg hingegen um 14 000 Dollar auf 98 589 Dollar pro Jahr. Das Gini-Maß, ein Indikator, der bei absolut gleicher Verteilung den Wert Null annimmt, bei perfekter Ungleichheit den Wert 1, stieg kontinuierlich von 0, 388 im Jahr 1968 auf 0, 454 im Jahr 1993
Hauptverlierer dieser Umverteilung von Einkommen sind gering qualifizierte Männer. Zwischen 1974 und 1990 verloren amerikanische Männer ohne High-School-Abschluß real ein Fünftel ihres Einkommens So erklärt sich auch die beunruhigende Zunahme des Anteils der sogenannten , working poor‘, also von Personen, die trotz Vollzeitarbeit nicht genug verdienen, um oberhalb der Armutsgrenze zu leben. In den Vereinigten Staaten verdienen über ein Viertel aller Vollzeitbeschäftigten weniger als zwei Drittel des mittleren Einkommens. In Australien fallen unter diese international anerkannte Armutsdefinition lediglich ein Zehntel der Vollzeitbeschäftigten, in der Europäischen Union ein Fünftel
IV. Fakten und Vermutungen
Abbildung 12
Tabelle 2: Erwerbsbeteiligung und Jugendarbeitslosigkeit 1996 (in Prozent) Quelle: OECD, Labour Force Statistics, Paris 1997.
Tabelle 2: Erwerbsbeteiligung und Jugendarbeitslosigkeit 1996 (in Prozent) Quelle: OECD, Labour Force Statistics, Paris 1997.
Die hier präsentierten Zahlen zeichnen somit kein klares Bild. Nur ein Teil der für Amerika typischen Arbeitsmarktcharakteristika läßt sich leicht in einen Zusammenhang mit der Ausgestaltung des institutioneilen Rahmens stellen. Empirisch weitestgehend fundiert ist so zum Beispiel die Annahme, daß ein hoher Angebotsdruck auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt, hervorgerufen durch ein starkes Bevölkerungswachstum und die zunehmende Frauenerwerbsbeteiligung, in einem System mit flexiblen Lohnverhandlungen zu einem Nachgeben der Löhne, vor allem in den untersten Einkommenskategorien, führte und es so gelang, das wachsende Arbeitsangebot in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Kehrseite dieser Medaille ist das für die Vereinigten Staaten typische Phänomen der , working poor', das in einem Kreisschluß erneut eine höhere Erwerbsbeteiligung erzwingt, da ein Arbeitseinkommen in vielen Haushalten nicht ausreicht, den Unterhalt zu sichern. Flexible Kündigungsschutzregelungen und ein schwach ausgebautes soziales Sicherungssystem unterstützen diesen Prozeß, indem sie Arbeitslose zwingen, Stellenangebote auch zu ungünstigeren Bedingungen anzunehmen.
Auf der anderen Seite fügen sich nicht alle Elemente der amerikanischen Arbeitsmarktbilanz in die regelmäßig vorgebrachten institutionellen Erklärungen. Vor allem drei Fragen sind bislang unbeantwortet:
1. Die Entwicklung der Arbeitslosenquote
In der Tat zeugt die im internationalen Vergleich niedrige und seit Anfang der neunziger Jahre stetig fallende Arbeitslosenquote vom Erfolg der Vereinigten Staaten bei der Lösung des Arbeitslo-senproblems. Jenseits des aktuellen Niveaus der Arbeitslosigkeit, das die oben formulierten Vermutungen zur Wirkung der institutioneilen Ausgestaltung des Arbeitsmarkts bestätigen könnte, müßte aber auch der Trend erklärt werden. Welchen Einfluß hatten die flexiblen Institutionen auf den Verlaufder Arbeitslosenkurve? Die Dauer der Leistungsgewährung der Arbeitslosenversicherung scheidet als Erklärung aus, sie hat sich in den letzten 20 Jahren nicht grundsätzlich verändert. Der Kündigungsschutz ist zwar immer noch kaum gesetzlich geregelt, über den Weg des Richterrechts wurde er jedoch eher ausgebaut als zurückgenommen, müßte also in die umgekehrte Rich-tung wirken.
Eine Möglichkeit, die Entwicklung der Arbeitslosenquote zu erklären, bleibt die seit den achtziger Jahren schwindende Gewerkschaftsmacht. Gerade im Vergleich mit Deutschland ist dabei aber festzustellen, daß das amerikanische Lohnverhandlungssystem schon immer durch einen niedrigen Organisationsgrad und eine dezentrale Verhandlungsstruktur gekennzeichnet war. Warum konnte der Arbeitsmarkt davon nicht schon früher profitieren?
2. Arbeitslosigkeit von Problemgruppen
Neoliberalen Argumentationen zufolge dürften in einem Land mit individualisierten Lohnverhandlungen wie den USA eigentlich keine Barrieren bestehen, auch Gruppen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, die wegen negativer Charakteristika, wie etwa eine niedrige Qualifikation, in anderen Ländern bei hohen und/oder einheitlichen Löhnen keine Stelle finden würden. Auch, die Furcht, bei Fehlbesetzungen Arbeitnehmer nicht mehr entlassen zu können, dürfte die Beschäftigung dieser Personen in den USA im Grunde nicht behindern. Trotzdem ist der entgegengesetzte Fall eingetreten: Auch in den Vereinigten Staaten konzentriert sich Arbeitslosigkeit auf Problemgruppen am Arbeitsmarkt, besonders auf Jugendliche und niedrig Qualifizierte, und zwar noch stärker als in der Bundesrepublik. Warum wirken sich für diese Gruppen die realen Einkommensverluste, die sie in den letzten beiden Jahrzehnten hinnehmen mußten, nicht positiver auf ihre Beschäftigungssituation aus?
3. Die Entstehung von hochbezahlten Arbeitsplätzen
Wie oben gezeigt wurde, sind in den neunziger Jahren in den USA nicht lediglich die sogenannten , junk Jobs, sondern auch Arbeitsplätze für hochqualifizierte und hochbezahlte Arbeitnehmer entstanden. Während der theoretisch formulierte Zusammenhang zwischen den institutioneilen Rahmenbedingungen in den USA und der Entstehung von niedrig bezahlten Arbeitsplätzen leicht nachvollziehbar ist, fällt es schwerer, eine Verbindung zwischen flexiblen Institutionen und dem Beschäftigungszuwachs für Manager und Spezialisten herzustellen. Die Verdienstzuwächse, die in diesem Arbeitsmarktsegment auf der Grundlage von individualisierten Lohnverhandlungen erzielt wurden, müßten Unternehmen doch ebenfalls belasten. Warum steigt das Volumen anspruchsvoller Arbeitsplätze jedoch parallel zu ihrem Preis? Im Ergebnis zeigt sich der Fall des „amerikanischen Beschäftigungswunders“ doch nicht so eindeutig bestimmt, wie häufig angenommen wird. Die Konzentration auf die institutioneilen Rahmenbedingungen des Arbeitsmarkts als einzige Erklärungsfaktoren für den stetigen Beschäftigungszuwachs und die seit den neunziger Jahren sinkende Arbeitslosenquote birgt deshalb die Gefahr in sich, andere, wichtige Einflüsse zu vernachlässigen. Auf der Seite des Arbeitsangebots stellt sich die Frage nach den Auswirkungen eines starken Bevölkerungswachstums und der zunehmenden Erwerbsbeteiligung von Frauen, im Bereich der Produktmärkte fehlen Untersuchungen zu Zugangsbeschränkungen und Produktinnovation in ihrer Relation zum Arbeitsmarkt. Schließlich sind innerhalb der Finanzmärkte unter anderem die Rolle der Zins-und Währungspolitik sowie die Verfügbarkeit von Risikokapital wichtige, bislang zu wenig beachtete Faktoren. Lehren für Deutschland bietet ein Blick auf das „amerikanische Beschäftigungswunder“ sicherlich, sie sollten sich jedoch nicht allein auf die Veränderung des institutioneilen Rahmens beschränken.
Sabine Leutenecker, Dipl. -Verwaltungswiss., geb. 1970; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Europäischen Zentrum für StaatsWissenschaften und Staatspraxis, Berlin; seit 1998 Regierungsreferendarin bei der Senatsverwaltung für Inneres, Berlin.
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