Massenarbeitslosigkeit und Massenwohlstand. Das Janusgesicht unseres Kapitalismus zum Jahrhundertende und die Optionen der Beschäftigungspolitik | APuZ 14-15/1999 | bpb.de
Massenarbeitslosigkeit und Massenwohlstand. Das Janusgesicht unseres Kapitalismus zum Jahrhundertende und die Optionen der Beschäftigungspolitik
Karl Georg Zinn
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Zusammenfassung
Dauer und Ausmaß der Massenarbeitslosigkeit der Industrieländer lassen sich nicht durch kurzfristige, punktuelle Symptombetrachtung erklären. Angemessen ist vielmehr eine historisch dimensionierte, langfristige Ursachenanalyse. Hierbei erweisen sich die prognosetüchtigen Theorien von John Maynard Keynes und Jean Fourastie zur Entwicklung reifer Volkswirtschaften als tragfähige Grundlage für Diagnose und Therapie der aktuellen Beschäftigungsprobleme. Ein kurzer Überblick zu Theorie und Prognose des Strukturwandels und der Stagnationstendenz wird ergänzt durch Überlegungen zum Wachstums-bzw. Beschäftigungspotential von Produktinnovationen. Vor diesem Hintergrund erfolgt die Diskussion über die jüngst als beschäftigungspolitische Referenzmodelle hervorgehobenen Länder Dänemark, Großbritannien, Niederlande und USA. Die arbeitsmarktpolitische Laissez-faire-Strategie, insbesondere die angelsächsische Flexibilisierungs-und Lohnspreizungspolitik, wird sowohl aus sozialethischen als auch ökonomischen Gründen kritisiert. Als beschäftigungspolitisch erfolgreiche Alternative sieht der Verfasser eine Kombination verschiedener Instrumente, die u. a. nachfrage-und arbeitszeitpolitische Maßnahmen umfaßt, wie sie auch in dem 1996 vom Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung vorgelegten Handlungskonzept vertreten wird.
Die Massenarbeitslosigkeit in den OECD-Ländern wird weit über den Jahrhundertwechsel hinaus anhalten und dann mehr als ein Vierteljahrhundert überdauert haben. Das ist eine historische Zeitspanne, wenn man bedenkt, daß die Industrielle Revolution vor kaum mehr als 200 Jahren begonnen hat. Punktuelle Analysen und entsprechend enge Rezepturen sind dem Problem völlig unangemessen. Krisenprognosen zur Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie sind schon von den Klassikern her bekannt (David Ricardo, Thomas Robert Malthus), Massenarbeitslosigkeit läßt sich auch als „industrielle Reservearmee“ buchstabieren. Doch -wie Eric Hobsbawm jüngst konstatiert hat -bedarf es gar keiner nationalökonomischen Gelehrsamkeit, um festzustellen, daß unser kapitalistisches Wirtschaftssystem Krisen hervorbringt, sondern die historischen Tatsachen sprechen für sich. Eine leidlich sachgerechte Diagnose der Krisenlage erfordert eine längerfristige, wirtschaftsgeschichtliche Betrachtung, ohne die sich auch keine erfolgreiche Therapie gegen die Arbeitslosigkeit bestimmen läßt. Wir beginnen daher mit einer kurzen Darlegung der für die Entstehung der Massenarbeitslosigkeit ausschlaggebenden Langfristtrends.
I. Produktivitätswachstum und Sättigung bestimmen die langfristige Beschäftigungsentwicklung
Mit der Industriellen Revolution wurde der Wechsel vom extensiven zum intensiven Wachstum vollzogen. Intensives Wachstum, also der Anstieg nicht nur des Bruttoinlandsprodukts (BIP), sondern des Durchschnittseinkommens der Volkswirtschaften, basiert auf dem produktivitätswirksamen technischen Fortschritt (Prozeßinnovationen, Rationalisierung). Prozeßinnovationen bewirken Stückkostensenkungen, die früher oder später auch zu Preissenkungen führen. In der Regel wird die Nachfrage eine Zeitlang preiselastisch reagieren, so daß die Produktivitätssteigerungen bzw. Stückkosten-ZPreissenkungen zu einer starken Absatz-, Produktions-und häufig auch Beschäftigungszunahme auf dem betreffenden Markt führen. Doch mit zunehmender Befriedigung der Nachfrage tritt gemäß dem Ersten Gossenschen Gesetz (Sättigungsgesetz; Gesetz des sinkenden Grenznutzens) nachfrageseitig bedingte Stagnation ein. Die Preiselastizität der Nachfrage sinkt, und die Konsumdynamik bleibt hinter dem Produktivitätsfortschritt zurück, so daß auch das Produktionswachstum verlangsamt wird. Die Differenz aus Produktivitäts-und Produktionswachstum bestimmt das Ausmaß der zu erwartenden Beschäftigungsverluste. Da auf stagnierenden Märkten der Marktanteilswettbewerb intensiver wird und deshalb die Bemühungen um weitere Kostensenkungen eher verstärkt werden, wird die Beschäftigungsintensität sinken bzw. die Beschäftigungsschwelle steigen Die Beschäftigungswirkung des Produktivitätswachstums kehrt sich im Verlauf der skizzierten Entwicklung also um: Zu Beginn des Produktivitätswachstums (eines Unternehmens, einer Branche oder eines ganzen Sektors der Volkswirtschaft) werden das Nachfrage-und Produktionswachstum vom Rationalisierungsprozeß so stark angetrieben, daß auch neue Arbeitsplätze entstehen; mit zunehmender Sättigung, also im Übergang zur Stagnationsphase, überwiegen die rationalisierungsbedingten Arbeitsplatzverluste. In der folgenden Abbildung ist der zeitliche Verlauf von Produktivitäts-, Nachfrage-und Beschäftigungsentwicklung schematisch verdeutlicht. Das Schema gilt prinzipiell sowohl für einzelne Produktionen bzw. Gütermärkte als auch für Branchen und Sektoren. Das jeweilige Beschäftigungsmaximum liegt zeitlich mehr oder weniger weit vor dem Beginn völliger Nachfrage-bzw. Produktionsstagnation, nämlich dort, wo sich die Produktivitäts-Produktions-Schere zu öffnen beginnt.
II. Langfristprognosen zur Entwicklung kapitalistischer Volkswirtschaften
Abbildung 2
Abbildung: Zeitlicher Verlauf von Produktivitäts-, Nachfrage-und Beschäftigungsentwicklung
Abbildung: Zeitlicher Verlauf von Produktivitäts-, Nachfrage-und Beschäftigungsentwicklung
Die sättigungsbedingte Nachfragestagnation auf einem Markt zeugt vom Erfolg der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung, ist also Zeichen gestiegenen Wohlstands. Im Zuge der relativen Sättigung verlagert sich die Nachfrage auf andere Märkte, die wiederum jenen Zyklus von Wachstums-und Stagnationsphase durchlaufen. Gesamtwirtschaftliches Wachstum ist nur solange gewährleistet, wie die Wachstumsbereiche die Stagnations-und Schrumpfungsbranchen überwiegen. Im Kern läßt sich der langfristige Strukturwandel der Volkswirtschaften auf jene beiden Grundtendenzen, Produktivitätswachstum und relative Sättigung, zurückführen -eine ziemlich alte Erkenntnis, die aber jüngst quasi neu entdeckt wird Spätestens seit den Langfristprognosen von John Maynard Keynes (18831946) und Jean Fourastie (1907-1990) aus den dreißiger und vierziger Jahren lagen klare Vorhersagen über die zu erwartende Wachstumsabschwächung reifer kapitalistischer Volkswirtschaften vor. Aus diesen Prognosen ließ sich schlußfolgern, daß mit steigender Arbeitslosigkeit zu rechnen wäre, falls keine sachgerechten Gegenmaßnahmen eingeleitet würden Vorhersehbar war weiterhin, daß steigende Arbeitslosigkeit die Verteilungskämpfe verschärfen und erhebliche Finanzierungsprobleme der öffentlichen und Sozialhaushalte hervorrufen würde. Damit ließ sich auch Vorhersagen, daß der Wohlfahrts-bzw. Sozialstaat durch die angekündigte Wachstums-und Beschäftigungskrise zur Disposition gestellt werden würde Schließlich konnte -mit etwas historischer Phantasie -die Möglichkeit erkannt werden, daß die theoretisch-ideologischen Reaktionen auf die Krise des kapitalistischen Arbeitssystems darauf hinauslaufen würden, die klassisch-neoklassische Beschäftigungsrezeptur wiederzubeleben: Lohnkosten senken. Denn jene Theorie begründet die konservative Universalformel der Beschäftigungspolitik: „Ein entlassener Arbeiter findet zu einem genügend niedrigen Lohn-satz immer sofort eine neue Stellung.“ Die Lohnflexibilisierungen und Lohnspreizungen, die vor allem in den USA und in Großbritannien praktiziert werden und die als ein wesentlicher Grund der Beschäftigungszunahme in diesen Ländern gelten, entsprechen völlig der Logik der klassisch-neoklassischen Beschäftigungstheorie. Deshalb ließ sich schon in den siebziger Jahren die bedingte Prognose stellen, daß -unter der Voraussetzung, jene Schule gewönne hegemonialen Einfluß auf die Wirtschaftspolitik -die Beschäftigungskrise zur Ausweitung von Niedrigstlohn-und prekärer Beschäftigung führen und damit als Schrittmacher einer Art „industriefeudalistischer“ Gesellschaftsstruktur fungieren würde *D*ie Massenarbeitslosigkeit und die konservative Reaktion der Wirtschaftspolitik auf die Krise der vergangenen beiden Jahrzehnte können somit nicht als völlig unerwartete Erscheinungen charakterisiert werden, sondern erstaunen sollte vielmehr, daß die erwähnten Langfristprognosen in der Öffentlichkeit auch heute noch weitgehend unbekannt sind, die Politik ebenfalls keine Kenntnis davon genommen hat und die Wirtschaftswissenschaft den Stagnationstrend entweder leugnet oder ihn als zeitlich begrenztes Problem der Großen Depression der dreißiger Jahre zu relativieren versucht. Vor dem Hintergrund der ökonomischen Hegemonie der neoliberalistischen Angebotspolitik und ihrer Unterfütterung durch die neoklassische Gleichgewichtstheorie wird aber verständlich, daß die Stagnationsprognose, die u. a. auf dem Sättigungsgesetz basiert und eine eindeutig nachfrageseitige Krisenerklärung vertritt, ignoriert oder bagatellisiert wurde. Die Verdrängung einer prognosetüchtigen, empirisch bestätigten Theorie der Wirtschaftskrise läßt sich wohl nur als ideologisch bedingt erklären, worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann
III. Wachstum durch markterweiternde Produktinnovationen?
Abbildung 3
Tabelle 1: Internationaler Vergleich der Arbeitsproduktivität (BIP pro Arbeitsstunde).
Tabelle 1: Internationaler Vergleich der Arbeitsproduktivität (BIP pro Arbeitsstunde).
Es versteht sich, daß Sättigungserscheinungen solange keine gesamtwirtschaftlichen Wachstumsund Beschäftigungseinbußen hervorrufen, solange es genügend Wachstumsbereiche gibt. Wachstumsbereiche werden heute vor allem durch neue Produkte geschaffen. Daher ist es selbstverständlich, daß sich alle Industrien intensiv um Produktinnovationen bemühen, und dabei kommen ja auch immer wieder beachtenswerte Erfolge zustande. Doch sie reichen schon lange nicht mehr aus, um den Anteils'Verlust des industriellen Sektors an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung und Beschäftigung aufzuhalten. Sofern einzelne Länder wie Japan und die Bundesrepublik diesen Strukturwandel vom sekundären zum tertiären Sektor langsamer vollzogen bzw. vollziehen als die Mehrzahl der OECD-Länder, so war/ist dies nur aufgrund der hohen internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie jener Volkswirtschaften möglich, die steigende Exporte -und meist auch Exportüberschüsse -erreichen konnten Doch bekanntlich sind solche exportorientierten Strategien zur relativen Stabilisierung der industriellen Produktion nicht allen Ländern gleichzeitig möglich. Der langfristige Rückgang des industriellen Sektors ist ein länderübergreifender Trend, so daß zwar die Verteilung der Industrien auf die einzelnen Länder unterschiedlich ausfallen mag, sich dadurch aber insgesamt nichts an der „Gesetzmäßigkeit“ des Übergangs von der industriellen zur Dienstleistungsgesellschaft ändert; so wie ja auch im 19. Jahrhundert der Strukturwandel von der Agrar-zur Industriegesellschaft „gesetzmäßig“ eintrat, was nicht bedeutet, daß der damalige und heutige strukturelle Wandel völlig analog verlaufen
Wir können festhalten, daß industrielle Produktinnovationen nicht in der Lage waren, den relativen Bedeutungsverlust der Industrie aufzuhalten. Einzelne Länder mögen aufgrund besonderer Leistungsfähigkeit ihrer Industrien diesen industriellen Anteilsrückgang bremsen, aber es ist illusionär zu glauben, industrielle Produktinnovationen könnten den Strukturwandel hin zum tertiären Sektor grundsätzlich verändern. Daß immer noch unberechtigte Hoffnungen über Innovationen geschürt werden -durch Produktinnovationen heißt es, ließe sich sättigungsbedingte Stagnation dauerhaft verhindern -, mag unter anderem daran liegen, daß „Sättigung“ bei der Mehrzahl der professionellen Ökonomen immer noch ein Tabuthema darstellt, wie Ronald Schettkat jüngst meinte feststellen zu können Allerdings sollten Volkswirtschaften, die besonders wettbewerbsfähige Industrien aufweisen -und die Bundesrepublik gehört zu ihnen -, nicht den Fehler begehen, ihren komparativen Vorteil im industriellen Bereich zu vernachlässigen oder gar in einer kurzschlüssigen Orientierung an jenen Ländern, die bereits höhere Dienstleistungsanteile aufweisen, das beschäftigungspolitische Heil allein bei den Dienstleistungen suchen. Die Tertiarisierung kommt ohnehin -quasi gesetzmäßig. Worauf die Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik jedoch zu achten hat, ist die Qualität der entstehenden Dienstleistungsgesellschaft. Kommt es zur „tertiären Zivilisation“ im Sinne des Fourastieschen Zukunftsentwurfs einer Gesellschaft des „Wohlstands für alle“ oder zur „tertiären Krise“, d. h. einer in Arm und Reich gespaltenen Gesellschaft mit anhaltend hoher Arbeitslosigkeit? Die Erwartung, der Dienstleistungsbereich könne die Verluste industrieller Arbeitsplätze kompensieren, erschien lange Zeit recht plausibel, da angenommen wurde, Dienstleistungen ließen sich kaum rationalisieren, wiesen also nur geringes Produktivitätswachstum auf und Dienstleistungen träfen auf hohe Einkommenselastizität der Nachfrage. Diese beiden notwendigen Voraussetzungen der Beschäftigungszunahme bei den Dienstleistungen sind nicht erfüllt worden. Fourastie hatte jedoch bereits darauf aufmerksam gemacht, daß der Dienstleistungsbereich als Arbeitsplatzreservoir ausfallen würde, falls Dienstleistungen wider Erwarten doch in starkem Maße rationalisierbar sind. Bekanntlich haben die informationstechnischen Entwicklungen auch den Dienstleistungsbereich erfaßt und dort teilweise Produktivitätssteigerungen hervorgerufen, die über denen im industriellen Bereich liegen
IV. Anti-Krisenreaktionen und die Vorprogrammierung der künftigen Gesellschaft
Abbildung 4
Tabelle 2: Sozialleistungsquote der EU-Länder (Sozialausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts)
Tabelle 2: Sozialleistungsquote der EU-Länder (Sozialausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts)
Jede zukunftsorientierte Beschäftigungspolitik hat von der Tatsache auszugehen, daß die Industrie auch, ja gerade im Fall hoher Innovations-und Wettbewerbsfähigkeit Arbeitsplätze wegrationalisieren wird, ohne daß dies durch neue industrielle Beschäftigung kompensiert wird. Die Antwort auf die Beschäftigungsfrage muß also vorwiegend im Dienstleistungsbereich gesucht werden. Dabei geht es aber nicht um irgendwelche (Billig-) Beschäftigung neofeudaler Art, sondern um Beschäftigung, die angemessene Einkommen verschafft, soziale Sicherheit gewährleistet und mit den zivilgesellschaftlichen Wertvorstellungen vereinbar ist. Diese Qualifizierung der kommenden Dienstleistungsgesellschaft basiert auf bestimmten Werturteilen, doch dies gilt für jede Version einer „Zukunftsgesellschaft“.
Das wirtschaftspolitische Laissez-faire-Modell, das antigewerkschaftliche Politik, Sozialstaatsabbau und weitreichende Flexibilisierung der Arbeitsmärkte umfaßt, überläßt das Arbeitslosenproblem den „freien“ Marktkräften. Sie bewirken eine fortschreitende Lohnspreizung, wobei die unteren Lohneinkommen das soziale Existenzminimum unterschreiten. Niedriglöhne plus zunehmende Verteilungsungleichheit lassen unproduktive Arbeitsplätze nicht nur bestehen, sondern erweitern diesen Beschäftigungsbereich insbesondere in Richtung von Billigdienstleistungen, die von den kaufkraftstarken Mittel-und Oberschichten nachgefragt werden. Trotz -und auch wegen -der Lohnspreizung wird das Niedriglohnniveau auf Dauer aber auch die Einkommensposition der besser bezahlten Gesellschaftsgruppen infizieren. Kommt dann noch eine bewußte Lohnzurückhaltung hinzu, so wird damit die Massenkaufkraft erheblich geschwächt, und es ergeben sich höchstwahrscheinlich negative Rückwirkungen auf die Innovationstätigkeit in der Gesamtwirtschaft. Denn niedrige Löhne tragen zur Innovationsträgheit bei. Am Beispiel der niederländischen Entwicklung wurde von Alfred Kleinknecht jüngst auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht SE. s ist sicher auch kein Zufall, daß in Großbritannien und den USA relativ niedriges Produktivitätswachstum (vgl. Tabelle 1) und die Ausweitung der Niedriglohnbereiche im Verlauf der Arbeitsmarktflexibilisierungen Zusammentreffen. Doch der Haupteinwand gegen ein beschäftigungspolitisches Konzept, das auf extreme Lohnspreizung und unproduktive Niedriglohnbeschäftigung setzt, ist sozialethischer Art. In wohlhabenden und immer noch reicher werdenden Volkswirtschaften ist es eine Frage der Menschenwürde und der Menschenrechte, also auch ein verfassungsrechtliches Problem, ob der arbeitsteilig produzierte Reich-tum nicht nur immer ungleicher verteilt wird, sondern Teile der Gesellschaft auf ein menschenunwürdiges sozialökonomisches Niveau heruntergestoßen werden.
Selbstverständlich ist die moralische Kritik am arbeitsmarktpolitischen Laissez-faire gehalten, bessere Alternativen aufzuzeigen. Das ist jedoch nicht allzu schwer. Denn erstens besteht die Möglichkeit, über Nachfragepolitik -im Umweltschutz gibt es noch erheblichen Bedarf auch für industrielle Produktionen -der Stagnationstendenz entgegenzuwirken; zweitens sind Arbeitszeitverkürzungen, die sich am Produktivitätswachstum orientieren, und der Abbau von Überstunden probate angebotsseitige Instrumente zur Arbeitsplatzvermehrung; schließlich besteht ein erheblicher Bedarf an sozialen, medizinischen, kulturellen und dergleichen qualifizierten Dienstleistungen, die gegenwärtig aufgrund der „falschen“ Verteilungsverhältnisse nicht in angemessenem Umfang nachgefragt bzw. produziert werden Die Expansion qualifizierter Dienstleistungen, wie sie auch in Fourasties Entwurf der „tertiären Zivilisation“ vorgesehen sind, erfordert jedoch -wie in der Vergangenheit -staatliche Interventionen. Sei es, daß der Staat selbst als Anbieter der Dienste auftritt (z. B. im Sozial-, Kultur-und Bildungsbereich), was Konsequenzen für Steuern und Staatsanteil hat, oder durch Auflagen und Vorgaben private Dienstleistungsnachfrage mobilisiert (wie beispielsweise im Rahmen der sozialen Pflichtversicherungen gegen Krankheit, Pflegebedürftigkeit usw.). Unsere Argumentation basiert selbstverständlich auf einem anderen Paradigma als die gegenwärtig noch vorherrschenden, neoliberalistisch inspirierten Sichtweisen zur Beschäftigungspolitik. Das alte „Wagnersche Gesetz“ der wachsenden Ausdehnung der Staatstätigkeit, das auf der zivilgesellschaftlichen Entwicklung zum „Kultur-und Wohlfahrtsstaat“ gründet, ergänzt durch einen „vollständigen“ Keynes enthält u. E. mehr „Zukunftsfähigkeit“ als der beschäftigungs-und wohlstandspolitisch gescheiterte Konservatismus der bisher praktizierten Angebotspolitik.
V. Auf der Suche nach „Beschäftigungswundern“
Abbildung 5
Tabelle 3: Veränderung beschäftigungsrelevanter Faktoren 1983-1995 (in Prozent)
Tabelle 3: Veränderung beschäftigungsrelevanter Faktoren 1983-1995 (in Prozent)
In der aktuellen Diskussion über mögliche Wege aus der Massenarbeitslosigkeit finden verständlicherweise jene Länder verstärkte Aufmerksamkeit, denen es während der vergangenen Jahre gelungen ist, die Arbeitsplatzzahlen zu erhöhen und die statistischen Arbeitslosenquoten deutlich zu reduzieren. Als solche „Musterländle“ werden -nachdem das japanische Modell vorerst seinen einstigen Glanz völlig verloren hat -immer wieder Dänemark, Großbritannien, die Niederlande und die USA herausgestellt. Diese Länder waren -wie andere OECD-Staaten ebenfalls -von dem Wachstumseinbruch der siebziger Jahre und dem folgenden Anstieg der Arbeitslosigkeit betroffen. Wenn sie im Unterschied zu anderen Industrieländern, insbesondere auch zur Bundesrepublik Deutschland, ihre Arbeitslosenquoten in jüngerer Vergangenheit wieder deutlich senken konnten, so liegt die Vermutung nahe, daß dies der jeweiligen Wirtschaftspolitik zu verdanken ist. Überblickt man den gesamten Zeitraum seit Ende der Vollbeschäftigungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg, so sollte allerdings Schweden weit mehr Aufmerksamkeit finden als die vier vorgenannten Volkswirtschaften. Denn Schweden war es gelungen, bis Anfang der neunziger Jahre, als sich das Land auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union vorbereitete und die deflationspolitischen Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrages zu beachten gezwungen war, Vollbeschäftigung zu bewahren. Schweden blieb bis dahin von der Massenarbeitslosigkeit verschont, die sich in fast allen anderen Industrieländern seit den siebziger Jahren ausgebreitet hatte. Der Preis des „Schwedischen Modells“ besteht in einer hohen Staatsquote, entsprechend starker Steuer-und Abgabenbelastung und dem relativ hohen Beschäftigtenanteil des öffentlichen Sektors. Seit Beginn der schwedischen Vollbeschäftigungspolitik 1932, also während der Großen Depression, galt als Leitlinie, daß der Staat Arbeit schaffen sollte, statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Diese Zielsetzung ist -wie erwähnt -bis Anfang der neunziger Jahre auch durchgängig realisiert worden.
Die vier genannten Länder (DK, GB, NL, USA), die als mögliche Referenzmodelle einer erfolgreichen Beschäftigungspolitik gelten, weisen grundlegende institutionelle Unterschiede auf. In Großbritannien und den USA dominieren Flexibilisierungsstrategien, die Gewerkschaften sind schwach bzw. fast einflußlos und die sozialstaatliche Absicherung wurde massiv reduziert (GB) oder war schon traditionell unzureichend (USA). Die soziale Armut liegt in den beiden Ländern erheblich über den Vergleichswerten der mitteleuropäischen Kontinentalstaaten. Großbritannien hatte 1993 eine soziale Armutsquote von 23 Prozent, der Durchschnittswert der EU-Länder betrug 17 Prozent Die beiden kleinen Volkswirtschaften mit günstiger Beschäftigungsentwicklung, Dänemark und Niederlande, haben ihren relativen Erfolg nicht zu Lasten der Sozialpolitik erreicht, wie ihre erheblich über dem europäischen Durchschnitt liegende Sozialleistungsquote (vgl. Tabelle 2) ausweist. Vielmehr wird Sozialpolitik dort als Teil der Beschäftigungspolitik verstanden, während in den angelsächsischen Ländern die Politik der Vorstellung anhängt, es bestehe ein Gegensatz zwischen Sozialstaat und Vollbeschäftigung.
VI. Geringer Produktivitätsfortschritt = höhere Beschäftigungsintensität des BIP-Wachstums Die Ausweitung der Niedriglohntätigkeiten im Zuge forcierter Arbeitsmarktflexibilisierung korrespondiert in Großbritannien und den USA mit einem im OECD-Vergleich relativ schwachen Produktivitätswachstum, also einem verhältnismäßig dürftigen technischen Fortschritt in Form von Prozeßinnovationen (vgl. Tabelle 1). Wieso gerade jene Volkswirtschaften, die -wie Großbritannien und die USA -bis in die jüngere Vergangenheit deutlich schlechtere Produktivitätsverbesserungen als die mitteleuropäischen Länder aufweisen, als besonders „dynamisch“ und deshalb „vorbildlich“ gelten sollen, ist schwer nachvollziehbar S. USamerikanische Selbstkritik an der vermeintlichen Dynamik der US-Wirtschaft wird zwar bei uns nur sehr spärlich zur Kenntnis genommen, aber sie liefert eindrucksvolle Hinweise, daß das „USModell“ ungeeignet ist, um die mitteleuropäischen Beschäftigungsschwächen zu beheben Bei geringem Produktivitätswachstum liegt selbstverständ-lieh die Beschäftigungsschwelle niedriger als bei hohem und der Beschäftigungsgehalt des BIP-Wachstums ist größer. Doch wenn das als Orientierung der Beschäftigungspolitik gilt, dann könnte man sich auch gleich am vorindustriellen, extensiven Wachstum orientieren -und auf produktivitätswirksamen technischen Fortschritt ganz verzichten.
Wie dargelegt wurde, sind die beiden wesentlichen Einflußfaktoren für die langfristige Beschäftigungsentwicklung der Produktivitätsanstieg (angebots-seitiger Faktor) und die durch relative Sättigung bewirkte Verlangsamung des Nachfragewachstums. Je höher unter sonst gleichen Bedingungen das Produktivitätswachstum ausfällt, desto bedrohlicher erscheint das Risiko, daß Arbeitsplätze per Saldo wegrationalisiert werden. Umgekehrt verläuft der Arbeitsplatzabbau verhaltener, wenn die Produktivität relativ langsamer zunimmt. In den USA genügt bereits ein knapp über null Prozent liegendes BIP-Wachstum, um positive Beschäftigungseffekte auszulösen, während in der Bundesrepublik mehr als zwei Prozent Wachstum notwendig sind, um die Beschäftigung steigen zu lassen; bleibt das Wachstum unter zwei Prozent, so sinkt die Beschäftigung Für die USA war/ist es also viel leichter, durch Wachstum auch mehr Beschäftigung zu erzeugen. Daß dabei auch in starkem Umfang miese „McJobs“ entstehen, ist inzwischen kein Geheimnis mehr -trotz der eifrigen Versuche, diese eher als Mißerfolg denn als Erfolg der US-Beschäftigungspolitik zu qualifizierende Tatsache herunterzuspielen.
Seit der Industriellen Revolution gilt das Produktivitätswachstum einer Volkswirtschaft als Ausweis ihrer (technischen) Innovationsfähigkeit. Ohne Produktivitätswachstum gäbe es keinen Massen-wohlstand. Beschäftigungspolitik, die sich auf niedriges Produktivitätswachstum stützt, gar zur Ausweitung produktivitätsschwacher Tätigkeiten beiträgt, wie dies infolge von Niedriglohnpolitik unvermeidlich eintritt, ist wohlstandsschädlich und wird in ihren Langzeitwirkungen nicht nur mehr und mehr Menschen in soziale Armut drängen, sondern auch die Leistungsfähigkeit der produktiveren Wirtschaftsbereiche beeinträchtigen. Hierbei sind verschiedene Faktoren wirksam. Niedriglöhne vermindern die Rationalisierungsanreize; sie deprimieren die Massenkaufkraft und vermindern die Absatzmöglichkeiten aller, also auch der produktiven Branchen und begrenzen somit deren Wachstumsmöglichkeiten; Niedriglohnbereiche, die in wohlhabenden Gesellschaften immer erst infolge von Arbeitslosigkeit expandieren, haben eine Ausbreitungstendenz, so daß -insbesondere bei starken Lohnspreizungskräften -die Zahl der Lohnabsteiger höher als die der Lohnaufsteiger sein wird. Die traditionelle Erfahrung aus Zeiten hoher Beschäftigung, daß über Qualifizierung der Arbeitskräfte Aufstieg und Einkommenssteigerung fast sicher zu erreichen sind, kann nicht einfach auf die Arbeitsmarktbedingungen bei offener oder (statistisch) versteckter Unterbeschäftigung übertragen werden, wie sich unter anderem an der Akademikerarbeitslosigkeit, den sinkenden Anfangsgehältern auch für hochqualifizierte Arbeitskräfte sowie der Zunahme unterwertiger Beschäftigung ablesen läßt.
Aus einer ländervergleichenden Untersuchung Heinz Werners vom Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) (vgl. Tabelle 3) geht hervor, daß die Unterschiede im Zuwachs der Erwerbstätigenzahlen in Westdeutschland und in den vier „Musterländem“ (Dänemark, Großbritannien, Niederlande, USA) vor allem durch Unterschiede im Nachfrage-bzw. Produktionswachstum (BIP), im unterschiedlichen Anstieg der Arbeitsproduktivität und den starken Differenzen der Jahresarbeitszeiten zu erklären sind. Beschäftigungsgünstig erweist sich erwartungsgemäß eine Kombination aus relativ niedrigem Produktvitätswachstum und hohem Nachfragewachstum. Diese Konstellation zeigt sich am deutlichsten in den USA, deren äußerst schwa-ches gesamtwirtschaftliches Produktivitätswachstum aber, wie schon bemerkt, eigentlich abschrekken sollte, statt als Ausweis für „Dynamik“ zu gelten Doch niedriges Produktivitätswachstum ist selbstverständlich keine Garantie, sondern allen-falls eine begünstigende Voraussetzung für Beschäftigungszunahmen. So konnte Großbritannien -eines jener „Musterländle“ -trotz relativ bescheidenen Produktivitätswachstums in den neunziger Jahren per Saldo keinen Beschäftigungszuwachs mehr erreichen In den Niederlanden ist die Zunahme der Erwerbstätigenzahl vornehmlich auf Arbeitszeitverkürzungen ohne vollen Lohnausgleich, nämlich die Ausweitung der Teilzeitarbeit, gegründet, was sozusagen das Gegenmodell zur bundesdeutschen Überstundenexpansion, also der Konzentration von Beschäftigungszuwächsen auf die bereits Beschäftigten, darstellt.
VII. Lebensqualitätsbezogene Beschäftigungspolitik verlangt mehr als niedrige Arbeitslosenzahlen
Beschäftigungspolitik muß gesamtwirtschaftlich, und das heißt heute auf europäischer Ebene, ansetzen. Die mikroökonomische Perspektive, die unter dem Einfluß der neoklassisch fundierten Angebotspolitik in den vergangenen 20 Jahren auch in sozialdemokratische und gewerkschaftlich orientierte Beschäftigungskonzepte Eingang gefunden hat, entspricht zwar dem Denken in kapitalistischen Marktkategorien, und die neue Hegemonie dieser Denkweise war sogar absehbar, aber es war auch vorherzusehen, daß sich mit der Zurückdrängung des Keynesschen Interventionismus und seiner Verstümmelung zu einer rein konjunkturorientierten Fiskalpolitik die Massenarbeitslosigkeit weiter ausbreiten würde. Konservative Gegenstrategien vermögen zwar die statistische Arbeitslosenquote zu reduzieren, aber um den Preis übelster sozialökonomischer Folgen. Niedriglohnbeschäftigung und die Ausdehnung der Working-poor-Segmente sind kein Beitrag zur Lösung des Beschäftigungsproblems, sondern die skandalöse Polarisierung der Einkommens-und Vermögensverteilung gehört zu den Symptomen des von der Politik durchgesetzten Neo-Laissez-faire der achtziger und neunziger Jahre. Die mikroökonomischen „Erklärungen“ gesamtwirtschaftlicher Prozesse führen zu fatalen Fehlschlüssen. Denn aus der einzelwirtschaftlichen Perspektive läßt sich die Gesamtwirtschaft nicht begreifen Wenn punktuelle Aspekte wie die Arbeitskosten, vermeintliche Inflexibilitäten im Arbeitsrecht und im Tarifvertragssystem, die Höhe staatlicher Abgaben, administrative Auflagen bzw. Regelungsdichte usw. herausgelöst aus den makroökonomischen Zusammenhängen als Problemerklärungen angeboten werden, so bedeutet das bestenfalls, plausible Entschuldigungen für kardinale Systemfehler zu konstruieren. Doch das ist kein Beitrag zum Verständnis der krisenbildenden Prozesse.
Die angebotsorientierte Politik war nicht in der Lage, ihr Vollbeschäftigungsversprechen auch nur annähernd einzulösen. Vielmehr entstanden durch Lohnspreizung und Lohnabsenkung in erheblichem Umfang unproduktive, „vorindustrielle“ Arbeitsplätze. Die Reaktion der wahlberechtigten Bevölkerung Westeuropas auf die konservative Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik der vergangenen beiden Jahrzehnte signalisiert einen Umschwung. Die meisten der 15 Länder der Europäischen Union werden gegenwärtig von Mitte-Links-Parteien regiert. Wenn Mitte-Links beschäftigungspolitische Erfolge erreichen will, muß ein völlig neuer Ansatz praktiziert werden. Wie immer er im Detail konzipiert wird, es muß sich um eine integrierte Beschäftigungspolitik handeln, die -wie etwa das Konzept des IAB aus dem Jahr 1996 -verschiedene Instrumente miteinander verbindet und den gesamtwirtschaftlichen Wirkungszusammenhang beachtet.
Ein hohes Beschäftigungsniveau gehört zu den hervorgehobenen wirtschaftspolitischen Zielen, wie sie im sogenannten „magischen Viereck“ aufgelistet werden. Doch diese Ziele -neben dem Beschäftigungsziel werden Preisniveaustabilität, Wachstum und außenwirtschaftliches Gleichgewicht genannt -sind eigentlich nur Mittel zum Zweck, gesellschaftlichen Wohlstand zu gewährleisten. Es geht letztlich um die Lebensqualität der Menschen. Wie immer sie im einzelnen mit Hilfe von Sozialindikatoren spezifiziert wird, es kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß nicht jede Art von Beschäftigung, somit auch nicht jede Art einer statistischen Vollbeschäftigungssituation mit dem Ziel Lebensqualität vereinbar ist. Dieser qualitative Aspekt wird in den Debatten um die richtige Beschäftigungspolitik meist übergangen. Damit bleibt auch außer Betracht, daß die Entstehung von Niedrigstlohnarbeitsplätzen infolge von Deregulierung, Flexibilisierung, Dezentralisierung und Sozialstaatsabbau keine akzeptable Lösung des Beschäftigungsproblems darstellt, sondern Kapitulation der Politik vor der ökonomischen und sozialethischen Aufgabe bedeutet. Wenn in einer wohlhabenden Volkswirtschaft aufgrund unzulänglicher Arbeitseinkommen soziale Armut entsteht, gar noch parallel zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum zunimmt, wie es sich beispielsweise an der Zunahme der „working poor“ in den USA gezeigt hat, so mag das zwar als beschäftigungspolitischer „Erfolg“ gelobt werden, signalisiert aber zugleich den Rückfall in vorsozialstaatliche Konstellationen. Selbstverständlich bedeutet diese Feststellung ein Werturteil, aber die Billigung, gar bewundernde Hervorhebung der Niedriglohnbeschäftigung basiert in gleicher Weise auf bestimmten Wertvorstellungen.
Wertungen sind an Interessen, meist auch an gesellschaftliche Klassenpositionen gebunden. Deshalb stehen hinter den unterschiedlichen wirtschaftsund beschäftigungspolitischen Vorstellungen in aller Regel auch konfligierende Interessen. In der beschäftigungspolitischen Diskussion werden wir somit immer auch mit ideologischen Anschauungen konfrontiert, und deshalb bleibt trotz der oberflächlichlichen Bekenntnisse zur „Entideologisierung“ der Wirtschaftspolitik -wohl selbst eine Ideologie -die traditionelle Rechts-Links-Zuordnung wirtschaftspolitischer Positionen plausibel. Die Gegensätze zwischen interventionistischer wohlfahrtsstaatlicher Politikorientierung und neoliberalistischem Laissez-faire sollten nicht verwischt werden und in diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß „die Wirtschaft in den OECD-Ländern ... in der Periode des Ultraliberalismus langsamer gewachsen (ist) als im keynesianischen Goldenen Zeitalter“ In der Diskussion zur Übertragbarkeit beschäftigungspolitischer Konzepte von einem auf ein anderes Land müssen also auch die jeweiligen Vorstellungen über Lebensqualität und Angemessenheit der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse in Rechnung gestellt werden. Oder sollte etwa eine vollbeschäftigte Sklavenhaltergesellschaft als Referenzmodell für die Beschäftigungspolitik eines reichen Industrie-landes mit Massenarbeitslosigkeit herangezogen werden?
Im Vergleich zu anderen Ländern, die als beschäftigungspolitisch erfolgreich gelten, hat die Bundesrepublik das Arbeitslosenproblem in weit stärkerem Maße durch Umverteilung zu entschärfen versucht. Die hohe Produktivität erlaubte auch relativ stärkere Abgabenbelastungen der. produktiven Bereiche, so daß dann über Sozialtransfers Lohnersatzleistungen möglich waren, die sowohl vom Niveau als auch von der Dauer her bei uns deutlich über den Standards vieler anderer Länder liegen. Der bisherige Verzicht, das angelsächsische Modell zu übernehmen und auf dem Weg starker Lohnspreizung bei gleichzeitigem Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen in größerem Umfang einen Billiglohnbereich entstehen zu lassen, muß vom sozialstaatlichen Standpunkt aus als die bessere Alternative bzw. das kleinere Übel beurteilt werden. Das ist kein Plädoyer für die Hinnahme von Arbeitslosigkeit, wohl aber gegen die Kaschierung des Arbeitslosenproblems durch die Rückkehr zu vor-und frühkapitalistischer Vollbeschäftigung. Das hohe Überstundenvolumen von 1, 83 Milliarden Stunden (1996) macht zudem deutlich, daß mehr Arbeitsplätze durch eine andere Verteilung der Arbeit möglich sind. Grundsätzlich zeigt die Überstundenexpansion, daß die Bundesrepublik Beschäftigungszuwachs in den produktiven Bereichen erreichen kann. Der Austausch von Überstunden durch Neueinstellungen setzt unter anderem allerdings voraus, daß es entsprechend qualifizierte, unbeschäftigte Arbeitskräfte gibt. Daher sind anhaltende Qualifizierungsprogramme und eher noch deren Ausweitung notwendig und sinnvoll im Sinn der Maxime „Arbeit statt Arbeitslosigkeit bezahlen“. Das ABM-Instrumentarium hat sich ja auch recht gut bewährt, und es gibt keinen Grund, diese -gegenüber vielen anderen OECD-Ländern -überlegene Arbeitsmarktpolitik Deutschlands in Frage zu stellen.
VIII. Handlungsempfehlungen
Aus unseren Überlegungen ergeben sich für eine integrierte Beschäftigungspolitik folgende Haupt-ansatzpunkte: -Nachfragepolitik kann auf mittlere Sicht noch einen wesentlichen Beitrag zur Beschäftigungsexpansion leisten, obgleich auf lange Frist sowohl die endogene Wachstumsbegrenzung durch relative Sättigung als auch natürliche Wachstumsgrenzen der Nachfragesteigerung entgegenwirken. Gegenwärtig sind jedoch vor allem drei Felder für nachfragepolitische Maßnahmen geeignet: Erstens besteht infolge der über zwei Jahrzehnte angestiegenen Massenarbeitslosigkeit ein erheblicher Nachholbedarf; zweitens gibt es eine Fülle drängender Umweltschutzerfordernisse, die erhebliche Investitionen erfordern (erinnert sei etwa an die veralteten, gar maroden städtischen Entsorgungssysteme); drittens besteht hoher Bedarf an sozialen, medizinischen, kulturellen und anderen zivil-gesellschaftlichen Dienstleistungen, die allerdings relativ teuer, weil (bisher) kaum rationalisierbar sind. Alle drei Nachfragebereiche lassen sich nur aktivieren, wenn es zu erheblichen Kaufkraft-umverteilungen zugunsten der jeweiligen Bedarfs-träger kommt. Dies ist nur durch staatliche Interventionen möglich, und auf Dauer wird die Staatsquote wieder steigen müssen. Dies braucht jedoch nicht zu Lasten der privaten Nettoeinkommen zu gehen, wenn die Arbeitslosigkeit zugunsten produktiver Beschäftigung reduziert wird. Die bundesdeutsche Arbeitslosigkeit entspricht gegenwärtig einem gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfungsverlust von ca. 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts! -Als beschäftigungspolitische Dauerlösung kommt jedoch nur die Arbeitszeitverkürzung in Frage. Denn bei anhaltendem Produktivitätswachstum wird auch eine energische Nachfrage-politik nicht in der Lage sein, die Produktions-Produktivitäts-Schere völlig zu schließen. Der Einschränkung der Überstunden zugunsten von Neueinstellungen sollte kurzfristig Vorrang gegeben werden, da allgemeine Arbeitszeitverkürzungen wie schon in der Vergangenheit als kontinuierlicher Prozeß in kleinen Schritten zu vollziehen sind, um die Umstellungsfriktionen möglichst gering zu halten. Zwischen 1960 und 1997 hat sich das (westdeutsche) Bruttoinlandsprodukt (in Preisen von 1991) etwa verdreifacht -von einer auf drei Billionen DM. Gleichzeitig ist das geleistete
Arbeitsvolumen um etwa ein Fünftel zurückgegangen. Künftig wird sich die Relation zwischen BIP-] Wachstum und Absenkung des Arbeitsvolumens umkehren müssen, wenn es darum geht, den Produktivitätsfortschritt wohlstandssteigernd zu nutzen. Das bundesdeutsche Produktivitätswachstum dürfte -u. a. wegen des Nachholeffekts der neuen Bundesländer -weiterhin relativ hoch bleiben -eine Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität von etwa 2, 5 Prozent pro Jahr über die nächsten 10 bis 20 Jahre hinweg erscheint nicht unrealistisch. Bei unverändertem Arbeitsvolumen ergäbe sich damit eine Verdoppelung des BIP in 28 Jahren, also bis zum Jahr 2026. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß die Nachfrage eine solche Zunahme des BIP zuläßt. Daher sind Arbeitszeitverkürzungen entsprechend der Differenz aus Produktivitätswachstum und BIP-Wachstum erforderlich, um auch nur die bisherigen Beschäftigtenzahlen zu stabilisieren.
-Bildungs-und Qualifizierungspolitik müssen ausgebaut und in stärkerem Maße mit der Beschäftigungspolitik abgestimmt werden. Unter anderem erfordert das, die ABM-Politik noch weit stärker als bisher für (Re-) Qualifizierungsmaßnahmen einzusetzen. Dabei wäre eine stärkere Präventionskomponente -im Unterschied zur Problemgruppenorientierung -in dem Sinn angebracht, daß etwa vorbeugende Ausbildungs-, Umschulungs-und Überleitungsprogramme (z. B.
für Jugendliche beim Übergang von der Ausbildung zur Beschäftigung) konzipiert bzw. ausgebaut werden
-Fortsetzung des produktivitäts-, generell innovationsorientierten Wachstums, was den Verzicht auf Niedriglohnpolitik im angelsächsischen Sinn erfordert, somit auch die Abwehr aller auf die „McJob“ -Expansion gerichteten Maßnahmen wie extreme Lohnspreizung, übermäßige Flexibilisierungen usw.
-Schließlich haben sich mit der europäischen Währung die Möglichkeiten einer „Euro-Beschäftigungspolitik“ wesentlich verbessert, denn nunmehr ist eine Nachfragepolitik (im Euroraum) möglich, die weit weniger durch außenwirtschaftliche Sickereffekte konterkariert wird. Für die wettbewerbsstarke bundesdeutsche Industrie bedeutet der Fortfall des Wechselkursrisikos (sprich: der Aufwertungstendenz der nationalen Währung) gegenüber den anderen Euro-Staaten einen erheblichen Vorteil. Es ist absehbar, daß die handels-schaffenden Effekte im Euro-Raum vor allem der Bundesrepublik zugute kommen werden. Damit hat die deutsche Regierung auch eine besondere Verantwortung, zu einer europäischen Beschäftigungspolitik beizutragen, von der alle Partnerländer profitieren. -Von der Antwort auf die Beschäftigungsfrage hängt auch die Zukunft des Sozialstaates ab Die bundesdeutsche Arbeitslosigkeit entspricht inzwischen einem jährlichen Wertschöpfungsverlust von weit über 500 Mrd. DM. Es bedarf keiner ausführlichen Erläuterungen, daß die Finanzierungsprobleme des Sozialstaates fast verschwänden, wenn wieder (produktive) Vollbeschäftigung erreicht würde. Daher sollten Beschäftigungsund Sozialpolitik als Einheit gesehen und in einem integrierten Handlungskonzept verbunden werden.
Karl Georg Zinn, Dr. rer. pol., geb. 1939; Professor der Volkswirtschaftslehre an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Veröffentlichungen, zuletzt: Kanonen und Pest, Opladen 1989; Soziale Marktwirtschaft, Mannheim u. a. 1992; Die Wirtschaftskrise, Mannheim u. a. 1994; Jenseits der Markt-Mythen, Hamburg 1997; Wie Reich-tum Armut schafft, Köln 1998; Sozialstaat in der Krise, Berlin 1999.
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