Zur Haltung der südosteuropäischen Staaten im Kosovo-Konflikt
Wolf Oschlies
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Zusammenfassung
Die militärische Auseinandersetzung zwischen der NATO und der Republik Jugoslawien ist zu Ende. Dieser ungleiche Konflikt zwischen dem Militärbündnis des demokratischen Westens und einem post-kommunistischen Diktator in Serbien ließ allen Anrainerstaaten keine Wahl: Zur NATO stehen hieß, Glaubwürdigkeit zu demonstrieren und die'eigenen Chancen zur euroatlantischen Integration zu verbessern. Es bedeutete aber auch, „Kollateralschäden“ durch Wirtschaftsverluste und Flüchtlings-ströme hinzunehmen -ohne mehr als vage Hoffnungen auf „Kollateralnutzen“ dafür zu bekommen. In der nächsten Zukunft werden die westlichen Länder und vor allem die EU gefragt sein: Milliarden werden für den Wiederaufbau benötigt, ein „Stabilitätspakt“ soll den Balkan vor weiterer „Balkanisierung“ bewahren, und den Integrationswünschen der Balkanländer ist entgegenzukommen. Die Notwendigkeit dazu ist unstrittig, die Risiken sind es aber auch: Die Schutz-und Hilfsbedürftigkeit der Länder stellt sich für die EU als Belastung ihrer Strukturen, Ziele und Möglichkeiten dar.
I. Einführung
Wenn das Nachbarhaus brennt, ruft man die Feuerwehr. Wenn deren Löschbemühungen so massiv ausfallen, daß das eigene Haus etwas abbekommt, wendet man sich an die Versicherung. Und wenn infolge des Brandes und der Begleitumstände der Feuerschutz der ganzen Region verbessert wird, sind alle zufrieden. Diese . simplen Zusammenhänge wären auch auf den Kosovo-Konflikt und seine regionalen Breitenwirkungen übertragbar. Oder um es noch präziser und unter Verwendung eines neuerdings häufig verwendeten Wortes auszudrücken: Die näheren oder ferneren Kosovo-Anrainer leiden unter „Kollateral-Schäden“ der NATO-Mission und hoffen auf „Kollateral-Nutzen“ von dieser.
Alle betroffenen Staaten sind nur unter NATO-Aspekten dergestalt gleich, daß sie von der NATO gebraucht wurden: Um das Milosevic-Jugoslawien anzugreifen, mußten fremde Lufträume durchquert, fremde Flughäfen genutzt und fremde Territorien als Aufmarsch-oder Rückzugsräume zumindest eingeplant werden. Davon abgesehen, differenzieren sich die Länder im Maße ihrer geographischen Nähe zum Kosovo, denn diesem näher oder ferner zu sein hieß auch, von den Folgen des Konflikts mehr oder weniger betroffen zu sein: Flüchtlinge weichen nun einmal in das nächstgelegene Land aus -militärische Depots und Reserven werden zweckmäßig in Grenznähe errichtet. Und „Fehlschüsse“ aus Bombern fallen natürlich auf nahe Gebiete, auf die sie im Prinzip nie hätten fallen dürfen. Mit anderen Worten: Alle südosteuropäischen Länder haben unterschiedliche Probleme, aber vergleichbare Ängste und identische Hoffnungen. Wenn zu den gut zwei Millionen Einwohnern der Republik Makedonien 360 000 albanische Flüchtlinge kommen, dann hat das Land eine Fülle von Problemen infrastruktureller, logistischer, demographischer und politischer Natur, von denen z. B. das etwa gleich große Slowenien nichts ahnt. Aber beide haben, wie alle anderen, dieselbe Angst, daß Spillover-Etfekte des Konflikts die ganze Balkanregion entzünden und deren „Europäisierung“ ungemein verzögern könnten -wie alle natürlich auch hoffen, daß derselbe Konflikt in „Europa“ Überlegungen auslöst, wie man die ganze Region stabilisieren, unterstützen und integrieren kann, um ähnliche Konflikte für alle Zukunft zu verhindern.
Eine Mitte April 1999 in Rumänien durchgeführte Repräsentativumfrage ist geeignet, dieses Gemisch aus Problemen, Ängsten und Hoffnungen in einer Weise zu illustrieren, die für das Land und weit über dieses hinaus charakteristisch sein dürfte So sprachen sich 52 Prozent der Rumänen für einen NATO-Beitritt und 64 Prozent für einen EU-Beitritt aus. Immerhin sahen 41 Prozent der Bevölkerung in Rußland die größte militärische Gefahr. 61 Prozent befürchteten sogar einen regionalen Konflikt. Rumänien ist ein nichtslawisches Land, aber ein direkter Nachbar Serbiens, so daß gewisse Ängste verständlich sind.
Die Tschechische Republik liegt geographisch weit vom Kosovo entfernt, jedoch verspürten die Tschechen noch größere Ängste: Laut einer Telefonumfrage vom Mai 1999 meinten 55, 8 Prozent aller Tschechen, „daß sich der Krieg in Jugoslawien in einen dritten Weltkrieg auswachsen kann“, nämlich wenn sich „in den Konflikt irgendeine weitere Großmacht einmischt und dadurch einen weltweiten Konflikt auslöst“ Real gab es keinen Grund für solche Ängste, sie waren aber psychisch nachvollziehbar, zumal sie in der ganzen Region bestanden. Slawen und andere reagierten auf den Kosovo-Konflikt und die NATO-Mission mit denselben zweifelnden Fragen: Sind die Serben allein schuldig an der Eskalation im Kosovo, oder waren dort auch „Serben Opfer ethnischer Säuberungen“? Wird Milosevic gestürzt, oder kann er neue Konflikte auslösen, etwa in Montenegro? Ist die NATO-Mission gerechtfertigt, oder ist sie eine Einmischung in innere Angelegenheiten eines souveränen Staates, steht sie gar für eine „Ideologisierung der internationalen Politik“? Wer bezahlt die Aktion und den Wiederaufbau, wer bringt Flüchtlinge und Vertriebene zurück? Müßte die NATO das, was sie gegen Jugoslawien unter-nimmt, nicht auch anderswo exekutieren, z. B. in Nord-Irland
Diese Fragen mußte in Brüssel schon darum niemand zur Kenntnis nehmen, weil sie sozusagen Nebengeräusch einer durchgehend kooperativen Einstellung zur NATO waren. „Angst hat große Augen“, sagt man im Osten allgemein, aber Angst überwindet man am besten dadurch, daß man eine Beziehung zur stärksten Militärallianz der Geschichte aufnimmt -mag man gegenüber deren Überlegungen, Plänen und Aktionen auch ein deutliches Unbehagen spüren
II. NATO-Kombattanten und -Opfer
1. Albanien Albanien ist Europas Armenhaus, in dem selbst bescheidenste Anfänge einer ökonomischen Wiederbelebung durch Korruption, Gewalt, strukturelle Paralyse allenthalben behindert werden Schlimmer noch: Albanien erscheint auch als Europas politisches Sorgenkind, das sich seit Anfang 1997 in völligem „ökonomischem Zusammenbruch“, „Desintegration“, „partikularistischer Gruppensolidarität und Gewaltlegitimation im Vakuum von Staatsgewalt“, vor allem „Gewaltlegitimation gegenüber den Nichtzugehörigen“ des jeweiligen Clans, befindet -ein Ensemble von „Regionen mit wiederaufgelebter Blutrachepraxis“
Wenn bosnische Analytiker recht haben dann hat es seit 1990 eine gefährliche Angleichung zwischen Albanern aus Albanien und solchen aus dem Kosovo gegeben, welche das zwischen beiden bestehende Gefälle auf einer „großalbanischen“ Grundlage nivelliert hat: Die zu kommunistischen Zeiten verarmten und von der Welt hermetisch abgeriegelten albanischen Albaner erkannten den relativ hohen Lebensstandard ihrer kosovarischen Vettern, deren Möglichkeiten zu Reisen in alle Welt -die Kosovaren hingegen revitalisierten den aggressiven Nationalismus der albanischen Stalinisten der Hoxha-Ära, der in Albanien längst, obsolet geworden war. Und beide trafen sich auf dem „großalbanischen“ Fundament der Liga von Prizren (1878), das ein Albanien um ostmontenegrinische, südserbische, westmakedonische und nord-griechische Regionen erweitern wollte
Diese Einheit ist fast vollständig zerfallen: In Albanien befehden die „Demokraten“ des ehemaligen Staatspräsidenten Sali Berisha die Regierung unter dem Sozialisten Pandeli Majko -sie boykottieren das Parlament, haben nordalbanische Gebiete zu UCK-Land erklärt und bemühen sich mit Erfolg, inneralbanische Uneinigkeit ins Kosovo zu prolongieren: Berisha unterstützt die von „Präsident“ Rugova und „Premier“ Bukoshi geführte „Regierung“ der „Republik Kosova“ -Majkos Favorit ist die von UCK-Chef Hasim Thaci gebildete Gegenregierung, und das Objekt aller Begierden sind Hunderte Millionen Mark, die Bukoshi per Zwangssteuer bei Albanern in Westeuropa eingesammelt hat
In Albanien war auch die NATO präsent -vor allem aber wurde das Land der Zielpunkt von zuletzt schätzungsweise 500 000 Flüchtlingen aus dem Kosovo Diese lösten wiederum einen Zustrom internationaler humanitärer Organisationen aus, deren unkoordinierte Arbeit zudem von albanischer Bürokratie weiter in ihrer Effizienz gemindert wurde Effizient sind allein bewaffnete, albanische Banden, die internationale Helfer kidnappen, ihre Eager ausrauben und daran weder von albanischen Behörden noch von albanischer Polizei gehindert werden Größere Gefahren drohen aber von anderer Seite: So liefert zwar die UCK einige ihrer'Waffen ab, aber ihr internationales Netzwerk für Drogen-, Waffen-und Menschenhandel, mit dem sie sich zum größeren Teil finanzierte ist noch intakt. Zwar hat die NATO den denkbar größten Fehler vermieden, die UCK anstelle eigener Bodentruppen einzusetzen, aber eine „enge Zusammenarbeit“ hat sie mit ihr doch gepflegt Entsprechend chaotisch sieht das Kosovo nach Beendigung der NATO-Mission aus: Vertreibung von Serben, Brandschatzung ihrer Häuser und „Plünderungs-Tourismus“ aus Albanien. Die radikalen Albaner aus Albanien und dem Kosovo haben den Konflikt stets als „Krieg gegen die serbische Nation“ aufgefaßt, als militanten Beitrag zur „Idee der albanischen nationalen Einigung“, die zuerst gegen Serbien durchgesetzt werden müsse, dann gegen Griechenland, Makedonien und Montenegro -wo es starke albanische Minderheiten gibt -, schließlich gegen Rußland (den angeblichen „Beschützer“ der Serben) und Italien (in dessen Süden schätzungsweise 100 000 Albaner leben) 2. Makedonien Mit Stolz nennt Makedonien sich eine „Oase des Friedens“, weil es als einziger Nachfolgestaat Ex-Jugoslawiens seine Eigenstaatlichkeit 1991/92 ohne einen einzigen Schuß erreichte. Welche Risiken das kleine Land dabei aushielt, welchen Gefahren es von Tag zu Tag ausgesetzt war, wurde erst später bekannt im Ausland aber weiter nicht zur Kenntnis genommen.
Vier existenzbedrohende Hauptgefahren hat Makedonien seit 1990 erlebt, von denen drei nicht mehr oder kaum noch bestehen, die vierte dafür um so realer geworden ist: Der Druck Serbiens vom Norden, die Embargos Griechenlands, um Makedonien zum Verzicht auf seinen Staatsnamen zu zwingen, Bulgariens provokante Negation der makedonischen Nation und der makedonischen Sprache. Diese Gefahren sind nur noch böse Erinnerung an Entwicklungen, die nicht mehr bestehen. Dafür hat die vierte Gefahr mit jedem Jahr zugenommen: die Bedrohung durch albanische Nationalisten. Zu Beginn der neunziger Jahre versuchten diese den direkten Angriff: Proklamierung einer „Albanischen Republik Ilirida". Aufstellung einer albanischen Untergrundarmee und Gründung einer „albanischen Universität“ in Tetovo-Recica, was die Makedonen in abgestufter Mischung aus gerichtlicher Härte, balkanischer Ironie und schlichtem Übersehen abwehrten Daraufhin wechselte die albanische Seite die Taktik: Gestützt auf eigene Zahlenangaben behauptete man, knapp die Hälfte der Bevölkerung zu stellen, um daraus Forderungen nach einer „Föderalisierung" Makedoniens, Nennung der Albaner als „zweites Staats-volk“, Albanisch als zweiter Staatssprache, einem albanischen Vizepräsidenten etc. abzuleiten Aus all dem erklärt sich die ablehnende Haltung der mazedonischen Behörden gegenüber den albanischen Kosovo-Flüchtlingen.
Nach der international ausgerichteten und überwachten Volkszählung in Makedonien vom Sommer 1994 stellen die Albaner in Makedonien 22, 9 Prozent (442 914 Menschen). Wann immer die Makedonier konnten -also mit der gewissen Ausnahme der achtziger Jahre, als Belgrad ihnen enge Grenzen setzte -, haben sie den Albanern Rechte eingeräumt, von denen deren Vettern im Kosovo nicht einmal zu träumen wagten übrigens auch nicht die rund 130 000 Makedonier in Albanien, von deren Paria-Dasein ich mich im August 1998 in Albanien in Gesprächen mit Vertretern der Menschenrechtsgesellschaft „Prespa“ der albanischen Makedonier überzeugen konnte.
Zu den im Zensus von 1994 ausgewiesenen Albanern kommen noch etwa 100 000 weitere hinzu, die vom Kosovo ins benachbarte West-Makedonien gewandert sind und dort illegal leben Mit der Eskalation des Kosovo-Konflikts strömten weitere Zehntausende Albaner nach Makedonien, wo sie bei Verwandten Unterschlupf fanden und von den Behörden als „Gäste“ (gosti) toleriert wurden (zumal sie sich auch nie bei makedonischen Ämtern meldeten).
Makedonien hat bei den Parlamentswahlen im Herbst 1998 einen Machtwechsel erlebt, bei dem zwei Orientierungen aber unverändert blieben: die Koexistenz mit den Albanern im Lande -an der Wahl nahmen albanische Parteien teil, nach der Wahl waren Albaner wie vordem in der Regierung -und das Bekenntnis zu EU und NATO. Makedonien wurde Ende 1995 als 27. Mitglied in die „Partnerschaft für den Frieden“ aufgenommen, beherbergte bis 1998 eine UN-Schutztruppe von 1 300 Mann, danach NATO-Einheiten von 12 000 Soldaten Dennoch wurde Makedonien vom Kosovo-Konflikt in einer Weise in Mitleidenschaft gezogen, daß Präsident Kiro Gligorov Ende April 1999 in Erwägung zog, vom Nationalen Sicherheitsrat die Erklärung eines „Zustandes unmittelbarer Kriegsgefahr“ zu verlangen UCK-Aktivitäten im Lande, randalierende Serben in Skopje, drohender wirtschaftlicher Kollaps und der Flüchtlingsström bedrohten die Stabilität des Landes. Schon vor zwei Jahren hatte Gligorov vorgeschlagen, für mögliche Flüchtlingsströme einen „Korridor“ nach Albanien einzurichten. Das geschah nicht. Die makedonische Regierung mußte somit von ihren ursprünglichen Plänen Abschied nehmen, maximal 20 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Wie viele es am Ende waren, wußte wohl niemand genau -Gligorov sprach auf einer Pressekonferenz am 12. Juni 1999 in Bad Godesberg von „über 300 000“. Dazu gab es ständige Querelen mit dem UNHCR (das in zehn Tagen keine Liste seiner eigenen Mitarbeiter erstellen konnte, aber von Makedonien verlangte, Hunderttausende Flüchtlinge binnen weniger Tage zu registrieren und zu verteilen) und mit der EU, die Hilfsgelder zusagte, aber nicht zur Verfügung stellte und am Ende sogar die Skopje fest zugesagte „Agentur für Wiederaufbau“ nach Pristina legte
Mit dieser -an sich unwichtigen -Agentur hatte Premier Ljupco Georgievski fest gerechnet: Nach der Aufnahme von 360 000 Flüchtlingen, 1, 5 Milliarden US-Dollar direkten Wirtschaftsverlusten und der Beherbergung von zuletzt 16 000 NATO-Soldaten würde Makedonien „das Zentrum sein, über das die Erneuerung der ganzen Region“ verliefe Eine kleine Anerkennung seiner Bemühungen hatte sich Makedonien erhofft, sie wurde dem Land aber von Brüssel verweigert. Makedoniens einziger Trost wird sein, daß das Verhältnis zu den Albanern im Lande noch konstruktiver wird: Gerade diese Albaner haben gemerkt,, daß Makedonien friedlicher als Serbien, wohlhabender und geordneter als Albanien ist, also auch für Albaner so etwas wie eine Heimat bedeutet
III. Jugoslawiens Nachbarn
1. Kroatien Die nationalistische Presse Kroatiens sah in der NATO-Mission eine Bestätigung des Kurses, den der rechtsautoritäre Staats-„Führer" (poglavar), General Franjo Tudjman, seit Jahren verfolgt: Kroatien „gehört nicht zum Balkan“, muß also Serbien nicht bedauern -Kroatien unterhält eine „strategische Partnerschaft“ mit den USA, wird also von der Aktion profitieren
Der EU gilt Kroatien als ein Land, das wegen seiner politischen Natur keine wirtschaftlichen Präferenzen verdient Die OSZE betrachtet es als undemokratischen Staat, der nationale Minderheiten drangsaliert und internationale Institutionen wie das Haager Kriegsverbrecher-Tribunal brüskiert Alle diese Image-Verluste wollte Kroatien im Umfeld der NATO-Mission nicht nur wettmachen, sondern darüber hinaus auch noch politischen und militärischen Nutzen ziehen. Mit gezielten Presse-Indiskretionen suggerierte man der Welt, die NATO wolle „südlich von Dubrovnik“ Raketen aufstellen, Kroatien eine wichtige Rolle „bei der Vorbereitung von NATO-Bodenaktionen“ zuweisen, desgleichen bei der Betreuung von Flüchtlingen; auch sei „kroatische Erfahrung gefragt, wie mit Serben umzugehen sei“, ferner würde der Westen Waffen liefern
Die NATO wollte jedoch außer Überflugrechten über Kroatien nichts von dem Land, was General Tudjman wohl ahnte. Während der ganzen NATO-Mission äußerte er sich nicht zu dieser. Kroatien wird weder Waffen erhalten, noch wird es Mitglied der „Partnerschaft für den Frieden“. Der ohnehin stark beeinträchtigte kroatische Adria-Tourismus erlitt einen weiteren Rückschlag, als westliche Agenturen Kroatien einer „Kriegszone“ zuteilten, in die man keine Touristen lassen könne 2. Bosnien-Herzegovina Bosnien-Herzegovina wurde nach dreieinhalb Jahren Krieg vom Dayton-Friedensvertrag im November 1995 in zwei „Entitäten“ geteilt -in die Bosnisch-Kroatische Föderation und die Repuhlika Srpska (RS). Der geopolitischen Teilung entsprach die Medienreaktion auf die NATO-Mission -„patriotisch“ gegen die „verbrecherische NATO-Allianz“ in der RS, freilich nicht lange schadenfroh und bissig in der Föderation. Allerdings waren hier die „Medien extremer als die Politik“ Ko-Premier Haris Silajdzic machte eine Ausnahme, als er die möglichste Verkleinerung Serbiens anstelle von Milosevics „Groß-Serbien“ forderte während das Gros der Politiker eher für Friedensbemühungen für den gesamten Balkan eintrat. Hinzu kamen hausgemachte Ängste In der Föderation, in der noch fast eine Million Vertriebene des Bosnien-Krieges leben, mußten kurzfristig 21 300 Kosovo-und 21 000 Sandzak-Flüchtlinge untergebracht werden; außerdem wurden rund 20 Millionen DM Wirtschaftsverluste wegen des Krieges errechnet; nicht gezählt die Einbußen, die die „überethnisch“ funktionierenden Schwarzen Märkte erlitten.
Ein tragisches Kapitel sind für Bosnien die Flüchtlinge, deren Zahl sich bis Ende Mai auf 63 500 erhöht hatte: 29 000 aus dem Sandzak, 14 000 aus dem Kosovo und 20 500 Serben. In der bosnischen Presse tauchten Berichte auf, daß speziell die Kosovo-Albaner Probleme bereiteten: Sie äußerten ihren „Haß“ auf bosnische Politiker, beschwerten sich, daß „sie mit Serben, Zigeunern und Sandzak-Leuten, die schlimmer als Serben sind, ein Lager teilen“ müßten. Die Sandzak-Flüchtlinge, oft genug unter Lebensgefahr aus Milosevics Serbien geflohen lieferten sich mit den Kosovaren allnächtliche Schlägereien, um dann zu verkünden: „Die aus dem Kosovo sind richtiges Vieh. Milosevic hat sie nicht umsonst vertrieben.“ Aber auch die Sandzaklije selber, die sich seit einigen Jahren „Bosnier“ nennen, sind bei den Bosniern nur solange gern gesehen, wie sie Geld haben, um die exorbitant gestiegenen Preise und Mieten zu bezahlen -weswegen viele von ihnen nach Serbien zurückkehrten
Darüber hinaus war Bosnien insofern in die NATO-Mission involviert, als die UN-„Blauhelme" sich auf bosnischem Territorium entlang der Grenze zu Serbien umgruppiert hatten, so daß eine potentielle NATO-Landflanke entstand, die von (dem neuen NATO-Mitglied) Ungarn über das kroatische Ost-Slavonien und Bosnien bis nach Montenegro reichte (sofern letzteres aus Milosevics „Umarmung“ freikäme) Zudem bot Sarajevo der NATO freiwillig an, sie könne die Flughäfen und den Luftraum der Föderation nutzen 3. Montenegro Von allen Ländern des Balkans war Montenegro durch den Kosovo-Konflikt und die NATO-Mission am schlimmsten betroffen. Es war Teil der Bundesrepublik Jugoslawien, Aufmarschgebiet der Jugoslawischen Armee und folglich ein Ziel von NATO-Bomben Da half es der Führung in Podgorica wenig, daß sie immer wieder auf den „illegalen“ Charakter dieser Bundesrepublik verwies (die nie rechtsgültig entstanden ist), daß sie die Bundesregierung und deren Gesetze nicht anerkannte, daß sie keine Soldaten in der Armee stellte und Milosevics Gesetze zum „Kriegszustand“ ignorierte
Seit dem Ende der NATO-Mission kann die internationale Gemeinschaft „honorieren“, daß Montenegro unter Präsident Milo Dukanovic demokratisch, marktwirtschaftlich, pluralistisch und multiethnisch ist. Milosevic befahl am Abend des 30. Juni 1999 einigen Panzern in Herceg Novi, die Adria-Magistrale zu sperren, was zur Blockade aller montenegrinischen Grenzübergänge nach Bosnien, Kroatien und Albanien führte; dies betraf auch die humanitäre Hilfe An sich eine sinnlose Aktion, die Dukanovic geradezu lustvoll nutzte, mit dem Milosevic-Regime hart ins Gericht zu gehen: Nichts als Torturen und Destruktionen habe Montenegro von Serbien erfahren, das „autistische und xenophobe Regime von Milosevic ist im Dauerkrieg mit der ganzen Welt“, „wir haben keinen Bundesstaat mehr“, und wenn die Bundesrepublik Jugoslawien nicht im Sinne montenegrinischer Gleichberechtigung und Souveränität „neu definiert“ werde, müsse Montenegro aus ihr ausscheiden -was mittlerweile über 50 Prozent aller Montenegriner wollen 4. Slowenien Ende Juni 1999 feierte Slowenien den „Tag der Staatlichkeit“, den achten Jahrestag der Erlangung seiner Eigenstaatlichkeit. Aus diesem Anlaß lobte Präsident Milan Kucan die Leistungen seiner Regierung: guter Verlauf der Reformpolitik, positive Wirtschaftsdaten, außen politische Annäherung an EU und NATO weit fortgeschritten, baldiger EU-Beitritt unstrittig Diese Selbsteinschätzung war jedoch zu optimistisch: Slowenien hat einen sehr großen Reformbedarf, kämpft mit einer hohen Inflation, schleppt marode Staatsbetriebe mit durch und hat ähnliche „Schwachpunkte“ mehr zu verzeichnen, die einen EU-Beitritt bis zum Jahre 2002 illusorisch erscheinen lassen
Zutreffend aber war Kucans Einschätzung, daß sein Land ein gutes Verhältnis zur NATO unterhält und deren neue Strategie, „Menschenrechte über staatliche Souveränität“ zu stellen, ohne Wenn und Aber mitträgt. Das wurde schon im Oktober 1998 deutlich, als Slowenien einer Bitte der NATO entsprach, ihr den slowenischen Luftraum zur Verfügung zu stellen. Als die eigentliche NATO-Mission startete, mußte Slowenien nur einige zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen im Landesinneren und an den Grenzen treffen, um als untadliger NATO-Verbündeter dazustehen
Damit befand sich die slowenische Führung im Einklang mit der öffentlichen Meinung, auch und gerade in der Frage der Flüchtlinge, die in Slowenien kaum jemand wollte Slowenien vergab „zeitweilig“ keine Visa mehr an jugoslawische Staatsbürger, zu denen auch Kosovo-Albaner zählen. Wer dennoch nach Slowenien gelangt, hat praktisch keine Chance, als „Flüchtling“ anerkannt zu werden, und diese Verweigerung schließt zahlreiche Nachteile bei der Versorgung und der medizinischen Betreuung mit ein. Im Lande erinnert man sich daran, als 40 000 Bosnien-Flüchtlinge eintrafen, die man später nur schwer los-wurde Insgesamt hat Slowenien 1 600 Kosovo
Flüchtlinge aufgenommen, vorwiegend Sozialfälle und solche, die Verwandte in Slowenien haben. Diese Verwandten wurden dann auch von Amts wegen zur Hilfe herangezogen, und man nahm die Aktion zum Anlaß, in Slowenien illegal lebende Albaner zur Regelung ihres Status zu veranlassen. Diese etwas zweifelhaften Verfahren brachten Slowenien noch den Dank des zuständigen UNHCR-Direktors Cengiz Aktar ein, daß das Land an der europäischen Gemeinschaftsleistung teilnahm, um in den beteiligten 'Ländern insgesamt 85 000 Kosovo-Flüchtlinge unterzubringen
Hatte Slowenien also das Flüchtlings-Problem „kostengünstig“ gelöst, so mußte es doch „wegen des Kriegs in der Bundesrepublik Jugoslawien und des Ausbleibens fremder Gäste einen Ausfall von Einnahmen in Höhe von 15, 6 Milliarden Tolar erleiden“ (1 US-Dollar = 189, 4 SIT).
IV. Ferne nahe Nachbarn
1. Ungarn „Seit zwölf Tagen in der NATO und schon sind wir in einen Krieg verwickelt“, lautete ein geflügeltes ungarisches Wort nach Beginn der NATO-Mission. Das Land fand sich in einer schwierigen Situation wieder: Einerseits war es NATO-Mitglied und mit der NATO-Mission vollauf einverstanden, andererseits explizit dagegen, daß etwaige Bodenaktionen von Ungarn aus gestartet oder sonst etwas unternommen würde, was den Zorn Belgrads auf die über 300 000 Ungarn in der benachbarten Vojvodina lenken könnte
In Budapest sah man die Lage absolut realistisch: Der Konflikt in Serbien wäre „sowieso“ ausgebrochen, womit Ungarn „sowieso“ Probleme bekommen hätte -ergo: „Die NATO-Mitgliedschaft ist gut.“ Und: „Wir müssen alles für den Erfolg der NATO tun, damit diese nicht durch den Konflikt beschädigt wird.“ Flughäfen und Luftraum samt dessen Kontrolle sowie weitere Installationen wurden der NATO zur Verfügung gestellt. Dagegen lehnte man es ab, ungarische Soldaten auf jugoslawischem Boden, nicht einmal im Rahmen von UN-Friedenstruppen, bereitzustellen. Auch in der jugoslawischen Armee dienen ethnische Ungarn, und darum soll sogar der hypothetische Fall ausgeschlossen werden, daß irgendwo, irgendwann in Jugoslawien Ungarn gegen Ungarn kämpfen Aus diesen Erwägungen resultierten zwei unverrückbare Standpunkte: Der NATO wurden keinerlei Beschränkungen bei der Nutzung ungarischer Räume und Anlagen auferlegt, und Ungarn würde sich an keiner NATO-Aktion direkt beteiligen (gleichwohl auf einen Erfolg der NATO-Bomben hoffen, weil es dann nicht Aufmarschgebiet für etwaige Bodeneinsätze wäre) Die Rigorosität, mit der beide Optionen vertreten wurden, wurde im benachbarten Rumänien, wo man ganz ähnliche Probleme hatte, fast schon bewundernd registriert
Der Beschluß, der NATO logistisch freie Hand zu geben -bereits im Spätsommer 1998 gefaßt -, war von der oppositionellen Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) kritisiert worden, was wiederum Kritik an dieser auslöste, da ihre Einwände im Ausland Zweifel an ungarischer NATO-Treue provozieren könnten. NATO-Bomben fielen in der Vojvodina auf ungarisch geprägte Städte wie Subotica (Szabadka). Nach Ungarn strömten „angeblich Tausende von Kriegsdienstverweigerern“ Für die Zukunft war nicht auszuschließen, daß die NATO in Ungarn wenigstens eine beeindruckende „Drohkulisse“ aufbauen müßte, falls es den Vojvodina-Ungarn eines Tages so schlecht wie den Kosovo-Albanern gehen sollte
Davon konnte bislang aber noch keine Rede sein: Die Grenze blieb offen, ungarische Serben und serbische Ungarn wurden nicht behindert, und die Vojvodina war eben nicht das Kosovo, obwohl Milosevic 1989 beiden die politische Autonomie genommen hatte: „Die Ungarn dort haben die Wahlurnen, nicht Straßenproteste oder Guerillakämpfe genutzt, um der Vojvodina wieder eine gewisse Selbständigkeit zu verschaffen.“ 2. Rumänien Auf den ersten Blick reagierte Rumänien auf die NATO-Mission geschäftsmäßig routiniert: Die NATO hatte Rumänien um „unbeschränkte Überflugsrechte über den Luftraum Rumäniens“ ersucht. Diesen Wunsch hatte Präsident Emil Con-statinescu mit einem eigenen, befürwortenden Schreiben am 20. April 1999 an beide Parlaments-kammern, die Deputierten-Kammer und den Senat, weitergeleitet. Deren „Kommissionen für Verteidigung, öffentliche Ordnung und nationale Sicherheit“, unterstützt vom Generalstabschef Constantin Degeratu, analysierten die Lage am 21. April und erarbeiteten ein „Beschlußprojekt“, das am 22. April von den „vereinten Parlaments-kammern“ in gemeinsamer Sitzung verabschiedet wurde
Interessant an diesem Vorgang ist, daß der genannte Beschluß einen alten rumänisch-jugoslawischen Vertrag außer Kraft setzte, in dessen Artikel 7 geschrieben stand, daß keinem Drittstaat die Nutzung des eigenen Territoriums zu Aggressionshandlungen gegen das andere Land erlaubt würde. Im vorliegenden Falle, so hieß es jetzt, gehe es um die Umsetzung eines UN-Beschlusses, und da könne von „Aggression“ keine Rede sein. Zudem enthielt der Beschluß drei Artikel, nämlich erstens die Überfluggenehmigung für die NATO färä restrictii (ohne Einschränkungen), zweitens eine Weisung an die Regierung, alle dafür nötigen personellen und technischen Vorkehrungen zu treffen, und drittens „die Bestätigung des Wunsches, daß Rumänien in das Nordatlantische Bündnis integriert wird und daß man eine politische Lösung des Konflikts findet“
Artikel zwei des Beschlusses wurde pragmatisch so realisiert, daß Bukarest die südwestlichen Flughäfen, dazu die Straßen der Region kurzerhand für den rumänischen Verkehr sperrte. Artikel drei artikulierte zum wiederholten Male den außenpolitischen Wunsch Bukarests, in den auch innen-und regionalpolitische Momente involviert sind: Rumänien hat die NATO-Mission auch als Chance verstanden und genutzt, Klarheit in seiner Nordwest-Region Transsilvanien zu schaffen, sich mit Ungarn zu verständigen und sein historisch gewachsenes Mißtrauen gegen Rußland in die westliche Kosovo-Politik einzubringen -also sich aus einer politischen und regionalen zona gri (Grauzone) zu befreien.
Anfang 1990 schien der damalige rumänische Ministerpräsident Ion Iliescu von Milosevic , lernen zu wollen, um im rumänischen Transsilvanien, in dem das Gros der 1, 6 Millionen rumänischen Ungarn, 120 000 Deutschen und 30 000 Serben lebt, unter Berufung auf angeblichen „Separatismus“ dort Ordnung zu schaffen. Dazu kam es aber nicht Umgekehrt teilt Rumänien das ungarische Schicksal, Landsleute in Jugoslawien zu haben, auf die politische Rücksicht zu nehmen ist: An dem ostserbischen Grenzfluß Timok, der im rumänisch-serbisch-bulgarischen Dreiländereck in die Donau fließt, lebt eine rumänische Minderheit, von der die nationalistische Opposition Rumäniens behauptet, sie zähle anderthalb Millionen, während sie tatsächlich um 60 000 betragen dürfte nach serbischen Zensus-Angaben von 1991 sogar nur 42 364. Nördlich des Siedlungsgebiets dieser Rumänen spielte sich seit Ende April 1999 ein bizarrer Kampf an der Donau ab, wo die Serben ihre Schleusen am Eisernen Tor für „NATO-Schiffe“ schlossen -wohl wissend, daß aus dieser Maßnahme allein Rumänien ein wirtschaftlicher Schaden entstehen würde
Rumänien hat es vermocht, sich im Umfeld der NATO-Mission positiv darzustellen, was ihm von Besuchern wie Tony Blair und Madeleine Albright auch gern bestätigt wurde -als loyaler NATO-Alliierter, als Muster künftiger Demokratisierung Jugoslawiens und als Stabilisierungsfaktor Südosteuropas Dieser außenpolitische Effekt stellte sich sozusagen zufällig ein, da die rumänische Führung ihr Engagement vorrangig unter innenpolitischen Aspekten betrieb: Die jugoslawischen Machthaber entstammen denselben kommunistischen Securitate-Strukturen, die in Rumänien erst 1996 gestürzt wurden, aber immer noch präsent und gefährlich sind -wie nicht zuletzt die Unterstützung bezeugt, die Iliescu und seine Neokommunisten Milosevic zukommen ließen Diese Strukturen bilden auch das Machtgerüst in Ruß-land. Wenn das unreformierte Rußland zuviel Spielraum auf dem Balkan erhält, kann das für Rumänien negative Folgen haben. Folglich reagierte Bukarest aggressiv ablehnend, als Moskau Ende Juni 1999 sehr bestimmt und kurzfristig Überflugrechte für russische Kampfjets und Versorgungsflugzeuge vom Typ IL-76 ins Kosovo forderte -was nach Rücksprache mit der NATO verweigert wurde
Rumäniens nationale Interessen liegen dort, wo sie mit westlichen Werteinteressen -friedliche Staaten auf einem befriedeten Balkan -zusammenfallen Das betrifft insbesondere das rumänische Mißtrauen gegenüber Rußland: Zwölfmal wurde Rumänien in den letzten 300 Jahren von Rußland überfallen. Wegen der Moskauer Obstruktion ist „der zweite rumänische Staat“, die „Moldova“, noch immer nicht mit Rumänien wiedervereinigt. Der Westen sollte Rußland diesbezüglich drängen und Rumänien helfen, die positiven Ansätze, die sich gerade in der Gegenwart zeigen, zu fördern. Das stets mehr oder minder gespannte Verhältnis zu Ungarn könnte, unter dem Eindruck gemeinsamer Angst vor weiteren „Kosovos“, zu „exzellenten Beziehungen“ ausgebaut werden, wie sie zwischen Frankreich und Deutschland bestehen. Das von historischen Belastungen freie Verhältnis zu Serbien könnte für eine positive Veränderung Serbiens genutzt werden. Eine verstärkte Integration Rumäniens in europäische Strukturen könnte dem Land aus seiner allseitigen „Lähmung“ heraushelfen, ein Weg, den es aus eigener Kraft wohl nicht so schnell schafft
Das Ausland sollte von den Rumänen auch dies lernen: Balkan-Angelegenheiten sollten nie in dubia masura gemessen werden -nie in doppeltem Maßstabl Das heißt konkret, daß „Verbrechen, die von der UCK begangen wurden, nicht weniger grauenvoll sind als solche der Truppen Milosevics“. Wer das nicht beherzigt, macht die NATO zur „Schutztruppe“ albanischer Sezessionisten, überläßt das Kosovo „dem Terror der Rache“ und „entblößt es von Serben“ 3. Bulgarien Bulgarien hat in erstaunlich kurzer Zeit positive Entwicklungen hin zu wirtschaftlicher Stabilisierung, regionaler Kooperation und europäischer Integration absolviert
Unter allen diesen Leistungen ragen Bulgariens „Bereinigungen“ einiger alter Konflikte hervor, insbesondere das mittlerweile freundschaftlich geklärte Verhältnis zu Makedonien, das Bulgarien zwar als erster diplomatisch anerkannte, dem es aber eine eigene Nation und eigene Sprache absprach. Das wurde korrigiert und hat Bulgarien auch der NATO empfohlen, was sich im Umfeld des Kosovo-Konflikts positiv auf die Beziehungen ausgewirkt hat
Als dann die NATO-Mission startete, waren die „Kollateralschäden“ im Westen des Landes doch so erheblich, daß die Medien ganze Karten der Unglücksfälle veröffentlichten Das Land mußte weitere Nachteile in Kauf nehmen: einen Rückgang der Industrieproduktion um 18 Prozent, Außenhandelseinbußen gegenüber 1998 in Höhe von einer Milliarde US-Dollar, direkte Wirtschaftsverluste von über 200 Millionen US-Dollar sowie schlechte Aussichten für das Wirtschaftswachstum Aber Bulgarien wußte immer, daß das Milosevic-Regime von der „Entzündung konkreter Konflikte“ lebt, die neben Jugoslawien auch den ganzen Balkan in Mitleidenschaft ziehen Angesichts solcher Perspektiven erklärte Präsident Petar Stojanov: „Falls von Bulgarien logistische Unterstützung und Luftkorridore benötigt werden, rufe ich den Ministerrat und das Parlament auf, positiv zu reagieren, so wie es Slowenien, Kroatien und die Slowakei taten ... Unsere Interessen decken sich mit den Interessen der freien westlichen Welt, deren Werte der Nordatlantik-Pakt verteidigt. Verlangen Sie von mir nicht, unsere Unterstützung für diese Welt jetzt abzulehnen, da nicht deren Schicksal, wohl aber unseres auf dem Spiel steht. Deshalb sage ich nochmals ganz offen: Diese Welt braucht Bulgarien, aber Bulgarien braucht sie noch zweimal mehr.“
Es bedurfte wohl derart dramatischer Appelle, um das Parlament zu überzeugen, das solche Unterstützungen in Erklärungen vom Oktober 1998 bis März 1999 mehrfach eingeschränkt hatte Bulgarien hatte sich schon zu Beginn des Jahres 1998 erfolgreich bemüht, gesamtbalkanische Initiativen zur regionalen Konfliktminderung zustandezubringen. Als dann der Kosovo-Konflikt eskalierte, sah die bulgarische Regierung, „das Kosovo ist kein internes Problem Jugoslawiens“ und „eine Lösung mit politischen Mitteln“ müsse gefunden werden.
So erklärte das Parlament am 25. März 1999, daß Bulgarien sich zwar nicht direkt an etwaigen Militäraktionen beteiligen werde, wohl aber die volle NATO-Mitgliedschaft anstrebe. Dieses Bestreben untermauerte man mit der Beteiligung am Embargo gegen Jugoslawien. Am 4. Mai 1999 beschloß das Parlament, der NATO den bulgarischen Luftraum zu öffnen. Später engagierte sich das Land nachhaltig bei der Bewältigung der „humanitären Katastrophe“, denn „Bulgarien ist überzeugt, daß die vom Milosevic-Regime durchgeführte ethnische Säuberung auch die Destabilisierung der Nachbarländer bezweckt“. Mit diesen Maßnahmen verbesserte Bulgarien seinen Status hinsichtlich der Integration in NATO und EU nachhaltig
Bulgarien hatte keine andere Wahl. Als das offizielle NATO-Ersuchen am 17. April 1999 in Sofia eintraf, waren die Würfel gefallen. Die Presse kommentierte dies wie folgt: „Politiker und wir alle müssen uns eine furchtbare Verantwortung vergegenwärtigen. Wir müssen wählen, ob Bulgarien für immer im europäischen Ghetto bleibt oder ob es ein Teil des zivilisierten Europas wird. Denn vor zehn Jahren hat Slobodan Milosevic den Balkan ins Ghetto Europas verwandelt. Bulgarien kann nicht weiterhin den unbetroffenen Beobachter des Konflikts spielen. Sonst würde es sich nämlich in einen abgeschiedenen Beobachter europäischer Zivilisation verwandeln.“
Was das konkret heißen sollte, erläuterte der Historiker Metodi Petrov in einem Interview: Bulgarien wird sich von seinem mentalen Ballast falscher Geschichtsmythen, von seinen falschen Parteinahmen für russische und serbische Nationalisten, von seinen ideologisierten Debatten befreien, damit „erstmalig auf der Siegerseite“ sein und so seinen nationalen Interessen am besten dienen Worauf Petrov anspielte, verdeutlichten Umfragen unter Bulgaren 82Prozent sprachen sich für eine „europäische“ Orientierung aus, und 46 Prozent wollten, daß das Land NATO-Mitglied wird.
Die bulgarische Regierung war auch beschuldigt worden, sie „verkaufe“ das Land und betreibe „Geheimdiplomatie“, was Premier Ivan Kostov zurückwies: „Wenn es Abkommen gibt, wenn die Aktion Joint Guardian läuft, dann muß von Bulgarien jegliche Mitarbeit gegeben werden.“ Wenn Bulgarien im Westen „Freunde“ hat, fügte der Politologe Nansen Bechar hinzu, dann darf es diese nicht „in einer schweren Situation alleinlassen“
So hat sich die gesamtbulgarische NATO-Loyalität herausgebildet -erst bei der Regierung, dann beim Parlament, danach bei der Mehrheit der Bevölkerung. „Was kommt denn nun? Frieden oder Waffenstillstand? Ein Stückchen Frieden oder ein Frieden, der europäische Entwicklung bringt? Werden Frieden und Entwicklung für alle sein, oder werden wieder einige leer ausgehen? ... Europa wird geprüft -es darf den Balkan nicht von sich trennen.“
V. Was wird aus dem Kosovo?
Die NATO-Mission mußte zwangsläufig eine Fülle von Fragen aufwerfen. Für Konflikte dieser Art benötigt man Luftschläge, ein Friedensprogramm und Bodentruppen. Für ihre Mission erfüllte die NATO den ersten Faktor völlig, den zweiten nur halb und den dritten gar nicht. Das „halbe“ Friedensprogramm war von dem US-Botschafter in Makedonien, Christopher Hill, im Oktober 1998 vorgelegt worden und bildete im Februar 1999 die Grundlage der Konferenz von Rambouillet, die an ihrer Konzeptionslosigkeit für die Zukunft des Kosovo scheiterte Der unterlassene Einsatz von Bodentruppen -die doch zu Zehntausenden in Makedonien und Albanien standen, von dort aber dem Morden serbischer Truppen im Kosovo zusahen -traf auf das völlige Unverständnis der Südslawen und nährte deren Zweifel, daß dem Westen wirklich an einer dauerhaften Lösung auf dem Balkan gelegen sei
Zudem waren die Südosteuropäer in diesen schwer durchschaubaren Konflikt direkt involviert, und „die Mehrheit der jugoslawischen Nachbarn fand sich praktisch über Nacht in dem Zwiespalt wider, zwischen einer vielversprechenden (wiewohl noch ziemlich verschwommenen) Zukunftsvision und einer harten Realität, die sich schwer auf die gesamte Region legte, zu entscheiden“ Dabei war es nur ein geringer Trost, daß diese Bürde wenigstens in einem Punkt gemildert worden war: Die von Rußland jahrelang vehement befehdete Osterweiterung der NATO, die die Osteuropäer eben wegen Moskaus Gegnerschaft um so nachdrücklicher wünschten schien plötzlich kein Problem mehr zu sein: Die Russen akzeptierten, daß „je lauter Moskau die NATO kritisiert, desto aktiver streben die Osteuropäer dorthin“ allerdings fragten sich die im März 1999 in die NATO aufgenommenen Mitglieder Tschechien, Polen und Ungarn, ob sie ausgerechnet in diese NATO mit diesen Missionen gewollt hatten „Wenn wir es ablehnen, den NATO-Bombern den Überflug zu gestatten, werden wir ganz sicher aus dem Buch’ gestrichen und der Gnade einer verfluchten Geographie überlassen. Allerdings ist es überhaupt nicht sicher, daß wir nach Zahlung dieses Preises in den Atlantischen Militärclub aufgenommen und von sicherheitspolitischen Unbequemlichkeiten befreit werden, aber wir haben eine Chance, eine Illusion, eine Hoffnung.“ Ähnlich bange Fragen werden sich bei dem anvisierten EU-Beitritt nicht stellen Daß das post-kommunistische Osteuropa von der Ostsee bis zur Adria für diesen Beitritt schlichtweg nicht vorbereitet ist — toopoor, toopopulous, too agricultural-, ist seit Jahren ein offenes Geheimnis, zumal sich die ökonomischen Entwicklungen und Resultate dort verlangsamen und verschlechtern Diese Abwärtstrends haben sich durch die jüngsten Balkan-Konflikte verstärkt wie andererseits Brüsseler Bedenken im Umkreis des angestrebten „Sta-bilitätspakts für den Balkan“ lauter geworden sind: Weil die NATO die südosteuropäischen Staaten brauchte, muß die EU ein „klares und wiederholtes Bekenntnis“ zu deren Integration in die EU abgeben -„selbst wenn diese aus heutiger Sicht in unbestimmter Zukunft liegt“
Mit anderen Worten (und bewußt als Worst-case-Scenario formuliert): Im Umkreis ihrer Kosovo-Mission vermochte die NATO die Staaten Süd-Osteuropaskurzfristig durch „europäische“ Verheißungen zu faktischen Kombattanten zu machen. Die Uneinlösbarkeit dieser Versprechungen kann mittelfristig dazu führen, daß in der Region Frustrationen aufkommen, die ihrerseits neue und gefährliche Konflikte provozieren. Das wiederum könnte langfristig heißen, daß die EU vor die Entscheidung gestellt wird, die Stabilität auf dem Balkan durch die Integration dieser Staaten zu fördern, dabei aber angesichts von deren ökonomischer Unterentwicklung und demokratischer Unreife das Risiko einzugehen, die eigene Schwerfälligkeit bis zur Lähmung voranzutreiben.
Wolf Oschlies, Dr. phil. habil., geb. 1941; wissenschaftlicher Oberrat am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche Studien in Köln und apl. Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Veröffentlichungen u. a.: Duldung ist ein (neu) bosnisches Wort -Der Krieg in Bosnien-Hercegovina, Sankt Augustin 1997; Ceauescus Schatten schwindet -Politische Geschichte Rumäniens 1989-1998, Köln 1998; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften zu kulturellen und ethnischen Problemen Südosteuropas.
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