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Fluchthilfe als Widerstand im Kalten Krieg. Anmerkungen zu einem ungeschriebenen Kapitel DDR-Widerstandsgeschichte | APuZ 38/1999 | bpb.de

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APuZ 38/1999 Fluchthilfe als Widerstand im Kalten Krieg. Anmerkungen zu einem ungeschriebenen Kapitel DDR-Widerstandsgeschichte Der lange Arm der SED. Einflußnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit auf politische Protestbewegungen in Westdeutschland Totalitarismus und Sprache Die Neulehrer: Schlüsselsymbol der DDR-Gesellschaft Die DDR und Palästina

Fluchthilfe als Widerstand im Kalten Krieg. Anmerkungen zu einem ungeschriebenen Kapitel DDR-Widerstandsgeschichte

Karl Wilhelm Fricke

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Solange in der DDR ein legales Verlassen des ungeliebten Staates erschwert oder unterbunden war, wurde das „illegale“ Verlassen als „Republikflucht“ diskriminiert und kriminalisiert. Je riskanter eine Republik-flucht wurde, zumal infolge der Sperrmaßnahmen nach dem 13. August 1961, desto näher lag der Gedanke an organisierte Fluchthilfe. Sie entwickelte sich nach dem Bau der Berliner Mauer zu einer durchaus legitimen Form politischen Widerstands. Die gewerbsmäßige Fluchthilfe, die jenseits politischer Motivation lediglich vom Kalkül des Geldes bestimmt war, kann dagegen nicht dem Widerstand zugerechnet werden, auch wenn sich ihr Handeln „objektiv“ gegen die politischen Interessen der Diktatur der SED gerichtet hat.

I. Republikflucht und Fluchthilfe

Ein Staat wie die DDR, der seinen Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf Ausreise generell verweigert und das illegale Verlassen als „Republik-flucht“ diskriminiert und kriminalisiert hat, handelte gewiß folgerichtig, wenn er Fluchhilfe aus politischen Gründen als Staatsverbrechen ahnden ließ. Umgekehrt war Fluchthilfe vor diesem politischen Hintergrund durchaus als eine legitime Form von Widerstand anzusehen.

Eine massenhafte Flucht-und Abwanderungsbewegung ist seit Gründung der DDR in Erscheinung getreten. In ihr manifestierte sich eine „Abstimmung mit den Füßen“. Sie hat so lange gedauert wie die Herrschaft der SED. Allein in den Jahren von 1949 bis 1961, von der Gründung des zweiten deutschen Staates bis zur Errichtung der Berliner Mauer, wechselten rund 2, 7 Millionen Menschen ohne gesetzliche Genehmigung aus der DDR nach Westberlin oder in die Bundesrepublik Deutschland *InS. keinem Jahr des genannten Zeitraumes lag die Zahl der Menschen, die den ungeliebten Staat „illegal“ verließen, unter hunderttausend. Für die Herrschenden in der DDR wurden daher die Sperrmaßnahmen vom 13. August 1961 zur Ultima ratio. Sie erschienen ihnen als unumgängliche Alternative zur Eindämmung des Flucht-und Abwanderungsstromes; sie wollten damit ein Ausbluten der DDR unterbinden und ihrem Verfall als Staat entgegenwirken. Mit der Abriegelung aller bis dahin offenen Fluchtwege am 13. August war indes bei vielen Menschen im Staat der SED der Wille zur Flucht nicht gebrochen, sondern im Gegenteil herausgefordert, auch wenn die Republikflucht schwieriger und gefährlicher geworden war. Fluchthilfe, und zwar organisierte, wurde so geradezu zwangsläufig provoziert.

In der Tat konnten Flucht und Abwanderung aus der DDR nach dem Bau der Berliner Mauer zwar deutlich gedrosselt, aber nie gänzlich unterbunden werden Die Zahl der Menschen, die in der Zeit zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 die DDR illegal verließen, belief sich immerhin noch auf knapp 95 000. Davon waren rund 40 000 sogenannte Sperrbrecher, die entweder über die seit 1952 abgeriegelte, zeitweilig sogar verminte Demarkationslinie oder über den „antifaschistischen Schutzwall“ in Berlin geflüchtet waren, ferner über die „nasse Grenze“, das heißt durch die Elbe oder von der Ostseeküste aus. Ebenso wurde der Transitverkehr zwischen Berlin und dem Bundesgebiet zur Flucht genutzt. Mehreren Tausend Menschen gelang zudem die Flucht über Drittländer, vorwiegend über die damalige Tschechoslowakei oder über Ungarn, aber auch über Polen, Rumänien und Bulgarien, ferner über Skandinavien, speziell auf den nach Schweden führenden Fährlinien.

Zu den Flüchtlingen zählte die Staatssicherheit im übrigen die sogenannten „Verbleiber“ oder „Nicht-Rückkehrer“, das heißt solche DDR-Bürger, die eine legale Dienst-oder Privatreise zum Verbleib im Westen genutzt hatten, die nicht in den „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ zurückgekehrt waren. Der letzte Akt im Drama Republikflucht spielte im Spätsommer 1989, als es zu jenem Massenexodus kam, der nach Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze die Implosion des DDR-Sozialismus unaufhaltsam beschleunigen sollte.

Je riskanter eine Republikflucht wurde, desto näher lag der Gedanke an organisierte Fluchthilfe. Sie wurde im wesentlichen erst nach dem 13. August 1961 akut, nachdem durch Errichtung des von der SED so genannten antifaschistischen Schutzwalls alle Wege nach Westen blockiert bzw. unter Kontrolle genommen und unkontrollierte Reisen nach Westberlin unterbunden waren, zudem aber wenig Aussicht auf eine legale Ausreise aus der DDR bestand.

Für die Kriminalisierung der Republikflucht, die für den Ersten Sekretär des ZK der SED, Walter Ulbricht, „Verrat an den friedlichen Interessen des Volkes“ war, hatte das Regime schon vor dem Bau der Mauer gesorgt. In ihrer Sitzung vom 11. Dezember 1957 beschloß die Volkskammer erstens ein Gesetz zur Ergänzung des Strafgesetz-buches und zweitens ein Gesetz zur Änderung des Paßgesetzes Beide Gesetze enthielten spezielle Bestimmungen zur strafrechtlichen«Ahndung von Flucht-und Fluchthilfedelikten, die auf ihre Weise die Entschlossenheit des Regimes erkennen ließen, forciert gegen Republikflucht und Fluchthilfe vorzugehen.

Konkret wurde die Republikflucht durch das Änderungsgesetz zum Paßgesetz vom 15. September 1954 unter Strafe gestellt, indem ihm Paragraph 8 eingefügt wurde. Danach konnte mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden, „wer ohne erforderliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verläßt oder betritt oder wer ihm vorgeschriebene Reiseziele, Reisewege oder Reisefristen oder sonstige Beschränkungen der Reise oder des Aufenthalts hierbei nicht einhält“. Auch Vorbereitung und Versuch waren strafbar.

Infolgedessen kam es im Laufe der Zeit zu Zehntausenden von Verurteilungen -sei es wegen Fluchtvorbereitung oder Fluchtversuchs, sei es wegen Beihilfe, sei es wegen vollendeter Flucht in solchen Fällen, in denen sich ehemalige Flüchtlinge zu einer Reise nach Ostberlin oder in die DDR oder gar zur Rückkehr entschlossen hatten und so zur Rechenschaft gezogen werden konnten. „Allein wegen des Versuchs, ohne Genehmigung die DDR zu verlassen, kamen seit Ende der fünfziger Jahre jährlich zwischen 2 000 und 3 000 Menschen in Haft.“ Dennoch vermochte die strafrechtliche Ahndung von Fluchtdelikten den permanenten Exodus nicht zu stoppen. Die Zwangs­ maßnahmen vom 13. August 1961 waren aus der Sicht der Herrschenden unausweichlich geworden.

Unmittelbar davor und danach kulminierte die Strafrechtsprechung in zwei höchstinstanzlichen Urteilen vom 2. und 16. August 1961, in denen gegen fünf bzw. vier Angeklagte Zuchthausstrafen bis zu fünfzehn Jahren wegen „Spionage“ und „Menschenhandel“ ergingen Mit beiden als mehrtägige Schauprozesse inszenierten Verfahren vor dem Obersten Gericht bezweckte die Politbürokratie der SED nichts als eine propagandistische Rechtfertigung der Sperrmaßnahmen vom 13. August mit Hilfe der Justiz.

II. Fluchthilfe nach dem 13. August 1961

Widerständiges Verhalten ist in der DDR primär stets aus der Politik des Regimes hervorgegangen. Daher war es nur logisch, daß sich nach dem 13. August 1961 Fluchthilfe als aktuelle Form politischen Widerstands entwickelte -zumal im geteilten Berlin, wo unzählige Familien durch die Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls“ zerrissen waren. Binnen kürzester Zeit fanden sich zumeist junge Menschen in Westberlin, häufig selbst „Republikflüchtige“, aber auch in Westberlin lebende Bundesbürger mit Gleichgesinnten im Osten zu Fluchthelfergruppen zusammen, die planmäßig Fluchthilfe organisierten und Tausende fluchtwilliger Menschen, Familienangehörige, Freunde und Kommilitonen, aus Ostberlin und der DDR aus-schleusten -sei es mit gefälschten Pässen und durch Fluchttunnel, sei es im Transitverkehr in Fahrzeugen mit eingebauten Verstecken. Nichts blieb unversucht. Motiv ihres Handelns war die Solidarität mit den „Eingemauerten“ und der Protest gegen die Willkür der SED-Diktatur. Flucht-hilfe war Widerstand -das Eintreten für die Wahrung oder Wiederherstellung des Rechts auf Freizügigkeit. Es war kein Zufall, wenn sich gerade Studenten der Freien Universität, der Technischen Universität und anderer Hochschulen in Westberlin zu ersten Fluchthilfegruppen zusammenschlossen. Die vermutlich erste Organisation gründeten Detlef Girrmann und Dieter Thieme, beide Studenten an der FU, die aufgrund ihres Engagements im Studentenwerk plötzlich mit der Situation mehre-rer Hundert in Ostberlin lebender Kommilitonen konfrontiert waren, die bis dahin als „Grenzgänger“ in Westberlin studiert hatten. Ihnen sollte geholfen werden, nachdem ihnen die DDR-Behörden ein Weiterstudium im Westen verboten hatte. Die ersten Fluchthilfeaktionen wurden schon im August/September 1961 erfolgreich durchgeführt.

Allerdings sollte das ausgeklügelte Grenzkontrollund Sicherungssystem der DDR alsbald auch zu Festnahmen von Flüchtlingen und Fluchthelfern führen, und die ersten Strafprozesse, die abschrekkend wirken sollten, ließen nicht lange auf sich warten. Dabei wollten die Herrschenden in Ostberlin die Fluchthilfeaktionen natürlich nicht als spontane Reaktion auf ihr Grenzregime, sondern als Ausdruck einer durch die „Bonner und Westberliner Ultras“ entwickelten „politischen Offensive“ gegen die DDR verstanden wissen: „Die Hauptmethode dieser , Offensive'gegen die DDR sind gegenwärtig die Aktionen gegen das Hoheitsgebiet, die Grenze und die Grenzsicherungskräfte der DDR. Diese Aktionen verfolgen das unmittelbare Ziel, mit Waffen, Sprengstoffen und planmäßiger Unterwühlung den antifaschistischen Schutzwall in Berlin durchlässig zu machen, die Bürger der Hauptstadt der DDR zu terrorisieren und Verwirrung und Unruhe zu stiften.“ Diese Sätze finden sich in einem Urteil des Obersten Gerichts vom 4. Juli 1962, mit dem die fünf Angeklagten Gottfried Steglich, Carsten Mohr und Klaus-Peter Skrzypczak, Studenten aus Westberlin, sowie Walter Bleschinski und Wolfgang Richter aus Ostberlin, die mit der „Girrmann-Organisation“ beim Bau eines Fluchttunnels zusammengearbeitet hatten, zu Zuchthausstrafen zwischen fünf und 15 Jahren verurteilt wurden

Es war das erste Urteil des Obersten Gerichts gegen Fluchthelfer. Erstmals wurde darin die von Detlef Girrmann aufgebaute Fluchthelfergruppe massiv attackiert: „Sie beschäftigt sich mit der planmäßigen Organisierung von Grenzverletzungen, der Unterminierung der Staatsgrenze der DDR durch von Westberlin vorgetriebene Tunnel, der Fälschung falscher Pässe zur Täuschung der Grenzsicherungsorgane der DDR, mit organisiertem Menschenhandel und seit einigen Monaten mit der Vorbereitung gewaltsamer Grenzdurchbrüche unter Anwendung von Waffengewalt, Sprengstoffen und unter dem Feuerschutz von Agentengruppen und von Angehörigen der Westberliner Polizei.“ Ungeachtet der polemisch zugespitzten Übertreibungen -„gewaltsame Grenzdurchbrüche“ unter Einsatz von Waffen und Sprengstoff waren keineswegs geplant -entsprach die Schilderung der Fluchthilfe annähernd der Realität.

Dem ersten Fluchthelfer-Prozeß vor dem Obersten Gericht folgte ein zweiter: Am 3. September 1962 verurteilte der 1. Strafsenat nach mehrtägiger „öffentlichkeitswirksamer“ Verhandlung die Fluchthelfer Heinz Fink und Horst Sterzik zu lebenslangem Zuchthaus. Die aus Westberlin stammenden Mitangeklagten Dieter Gengelbach, Wolf-Dieter Sternheimer und Hartmut Stachowitz erhielten insgesamt 25 Jahre Zuchthaus. Die Anklage hatte auf „Spionage“ und „staatsgefährdende Gewaltakte“ gelautet.

Den strafpolitisch präjudizierenden Urteilen folgten in den sechziger und siebziger Jahren Hunderte von Verurteilungen von nun als „Kopfjäger“ und „Menschenhändler“ diffamierten Fluchthelfern -gnadenlose Verurteilungen, die sich juristisch vorerst noch auf die Paragraphen 17 und 21 des Strafrechtsergänzungsgesetzes gründeten. Paragraph 17 stellte „staatsgefährdende Gewaltakte“, Paragraph 21 „Verleitung zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik“ unter Strafe.

Die nach dem Bau der Berliner Mauer alsbald vielfältigen Versuche, die Grenzsperren zu durchbrechen, häufig durch Beschädigung von Sperranlagen, zum Beispiel durch Zerschneiden von Stacheldrahtsperren, wurden von der Strafjustiz nun als „Grenzprovokationen“ und „Grenzdurchbrüche“ qualifiziert und als „staatsgefährdende Gewaltakte“ geahndet. Demgegenüber wurden Fluchthelfer, die jemandem zur Flucht aus der DDR verholten hatten, absurderweise wegen „Verleitung zum Verlassen der Republik“ zur Rechenschaft gezogen. l'K;

Hunderte Fluchthelfer aus Ost und West, unter ihnen viele Studenten, sind in den sechziger Jahren für ihre uneigennützige Hilfsbereitschaft in die Zuchthäuser der DDR gegangen. Der folgende, durchaus typische Fall des damaligen FU-Studenten Manfred Görlach mag das beispielhaft illustrieren Da er als Inhaber eines bundesdeutschen Personalausweises damals problemlos von Westnach Ostberlin fahren durfte, hatte Görlach als Kurier daran mitgewirkt, zwei Kommilitoninnen aus Ost-nach Westberlin auszuschleusen. In Vorbereitung einer dritten Schleusung mit Hilfe eines schwedischen Passes wurde er am 13. Dezember 1961 in Ostberlin festgenommen. Aufgrund einer Denunziation, die durch einen fehlgeleiteten Brief möglich geworden war, hatte ihm die Staatssicherheit eine Falle stellen können. Nach vier Monaten Untersuchungshaft wurde der 25jährige Manfred Görlach vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Potsdam am 21. März 1962 zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt -„wegen fortgesetzter Verleitung zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik“. Sein solidarisches Handeln büßte er mit zweidreiviertel Jahren seiner Freiheit. Am 25. August 1964 wurde er aus dem Strafvollzug in Brandenburg-Görden entlassen -dank Frei-kauf durch die Bundesregierung.

Zu welch politisch motivierten, juristisch selbst nach DDR-Recht unsinnigen Fehlentscheidungen die Justiz in diesem Kontext fähig war, machte das Urteil gegen den Fluchthelfer Harry Seidel anschaulich. Der damals 24jährige Elektromonteur wurde am 29. Dezember 1962 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt Gemeinsam mit anderen Fluchthelfern hatte er in mehreren Schleusungen durch einen selbstgegrabenen Tunnel etwa 20 Flüchtlingen zur Flucht nach Westberlin verholten, geriet aber am 14. November 1962 bei einer abermaligen Aktion in einen Hinterhalt. Seidel wurde überwältigt und sechs Wochen später vom 1. Strafsenat des Obersten Gericht abgeurteilt. Es gründete seine Entscheidung jedoch nicht nur, wie in vergleichbaren Strafverfahren zuvor, auf die Paragraphen 17 und 21 des Strafrechtsergänzungsgesetzes, sondern zusätzlich auf Pragraph 6 des Gesetzes zum Schutze des Friedens, ein Gesetz vom 15. Dezember 1950, das im Grunde stets nur propagandistischen Zwecken zu dienen hatte, aber kaum angewandt wurde.

Im Fall Harry Seidel wurde die Anwendung damit begründet, daß der Angeklagte „nicht nur diesen Staat (die DDR, d. V.) schmählich verraten, sondern aus einer bewußten Feindschaft gegen die sozialistische Entwicklung in der DDR schwerste Verbrechen gegen den Frieden und das deutsche Volk begangen“ hätte. „In voller Kenntnis dessen, daß seine Handlungen jederzeit einen, in seinen Folgen kaum übersehbaren, bewaffneten Konflikt an der Staatsgrenze der DDR auslösen konnten, hat er seine Verbrechen mit ständig steigender Intensität durchgeführt, um der Arbeiter-und-Bauern-Macht schwersten Schaden zuzufügen.“ Was das Oberste Gericht als Präzedenzfall verstanden wissen wollte, blieb allerdings ein Einzelfall. Augenscheinlich ist das Friedensschutzgesetz bei Grenzdurchbrüchen später nicht mehr angewandt worden. Zu unglaubwürdig war die Gleichsetzung von Fluchthilfeaktionen mit „friedensgefährden-den Aggressionshandlungen“. Harry Seidel konnte am 13. September 1966 durch die Bonner Regierung freigekauft werden.

Als die Gefahren für Fluchthelfer unkalkulierbar geworden waren, verlagerten sie ihre Aktionen in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren auf andere, für DDR-Bürger zugängliche sozialistische Länder -und sie organisierten sich professionell. Einschlägige Fluchthilfeorganisationen der sechziger Jahre sind vor allem mit den Namen Wolfgang Fuchs, Hasso Herschel, Wolfgang Loeffler, Horst Dawid, Albert Schütz und Karl-Heinz Bley verbunden -um die w September 1966 durch die Bonner Regierung freigekauft werden.

Als die Gefahren für Fluchthelfer unkalkulierbar geworden waren, verlagerten sie ihre Aktionen in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren auf andere, für DDR-Bürger zugängliche sozialistische Länder -und sie organisierten sich professionell. Einschlägige Fluchthilfeorganisationen der sechziger Jahre sind vor allem mit den Namen Wolfgang Fuchs, Hasso Herschel, Wolfgang Loeffler, Horst Dawid, Albert Schütz und Karl-Heinz Bley verbunden -um die wichtigsten, besonders erfolgreichen Gruppen zu nennen. Nach einem MfS-Bericht schleusten sie allein zwischen 1964 und 1969 über Ungarn, Bulgarien, die CSSR und Jugoslawien 330 DDR-Bürger aus 11.

Getreu ihrer Philosophie, uneigennützig zu arbeiten, stand die Girrmann-Organisation nach gut zweieinhalb Jahren, in denen sie mehr als 900 Menschen zur Flucht nach Westen verholten hatte, vor der Alternative, entweder Fluchthilfe kommerziell und professionell zu organisieren oder sich zurückzuziehen. Die Mitglieder entschieden sich Ende 1963 für den Ausstieg 12. Risiko und Aufwand waren ihr zu hoch geworden.

Angesichts einer mehr als fragwürdigen Strafrechtsprechung, wonach Fluchthilfe als „Verleitung zum Verlassen der Republik“ geahndet wurde, lag es für die Herrschenden nahe, die in diesem Kontext entwickelten Grundsätze in die Neukodifizierung des DDR-Strafrechts einfließen zu lassen. So wurde im Strafgesetzbuch 13 vom 12. Januar 1968 in Paragraph 105 ein Tatbestand normiert, der die aktive Hilfe bei Republikflucht als „staatsfeindlichen Menschenhandel“ unter Strafe stellte. Wer es danach unternommen haben sollte, Bürger aus der DDR in Gebiete außerhalb ihres Staates „abzuwerben, zu verschleppen, aus­

III. Spezielles Strafrecht gegen Fluchthilfe zuschleusen oder deren Rückkehr zu verhindern“ mit dem Ziel, „die Deutsche Demokratische Republik zu schädigen“, oder „in Zusammenhang mit Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen, die einen Kampf gegen die Deutsche Demokratische Republik führen, oder mit Wirtschaftsunternehmen oder deren Vertretern“, der machte sich nach Paragraph 105 des „staatsfeindlichen Menschenhandels“ schuldig. Die Mindeststrafe belief sich auf zwei Jahre Freiheitsentzug. Das Delikt der Flucht selbst wurde in seinen verschiedenen Begehungsformen in Paragraph 213 des Strafgesetzbuches als „ungesetzlicher Grenzübertritt“ unter Strafe gestellt.

Natürlich war der Begriff des „staatsfeindlichen Menschenhandels“ von der Realität weit entfernt, denn die durch Paragraph 105 definierte Straftat hatte mit Menschenhandel nach herkömmlichem Strafrechtsverständnis überhaupt nichts zu tun. Kein DDR-Bürger wurde gegen seinen Willen oder unter arglistiger Täuschung aus „seinem Staat“ verbracht und zum Gegenstand von Menschenhandel gemacht. Fluchthilfe nahmen seit dem 13. August 1961 stets nur Bürger der DDR in Anspruch, die ihren Staat illegal verlassen wollten, weil ihnen legal die Möglichkeit dazu nicht gewährt wurde. Insoweit beruhte der Tatbestand des „staatsfeindlichen Menschenhandels“ aufeiner Fiktion.

Gleichwohl hat dieser Umstand die Gerichte der DDR von einer unerbittlichen Handhabung der in Paragraph 105 enthaltenen Strafbestimmung nicht abgehalten. Hohe und höchste Freiheitsstrafen wurden aus Gründen der Abschreckung daraus abgeleitet. Bezeichnenderweise wurden Fluchthelfer-Prozesse nur selten als Schauprozesse ausgestaltet, allenfalls in Pilotverfahren; in den Folgeprozessen blieb die Öffentlichkeit stets ausgeschlossen. Offenbar sollte nicht publik werden, auf welchen Wegen fluchtwillige DDR-Bürger dem Regime hatten entkommen wollen oder wie ihnen Flucht-hilfe zuteil geworden war. Zur Illustration ein Fallbeispiel aus den siebziger Jahren.

Am 9. April 1976 wurde der 20jährige FU-Student Matthias Bath aus Westberlin am Grenzkontrollpunkt Marienborn festgenommen, weil er in seinem Pkw ein junges Ehepaar aus der DDR mit Kind in die Bundesrepublik hatte „schleusen“ wollen. Das Bezirksgericht Frankfurt/Oder, dem der Angeklagte trotz Zuständigkeit der Ostberliner Gerichtsbarkeit aus politischen Gründen überantwortet worden war und das unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelte, erkannte am 6. September 1976 nach Paragraph 105 des Strafgesetz-buches auf fünf Jahre Freiheitsstrafe. An der politischen Argumentation in der Urteilsbegründung hatte sich nichts geändert: „Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat sich der Angeklagte des verbrecherischen Unternehmens des staatsfeindlichen Menschenhandels nach Paragraph 105 Ziffer 2 StGB schuldig gemacht, indem er sich bewußt in eine Gruppe, die einen Kampf gegen die DDR führt, eingliederte und in deren Auftrag Bürger der DDR in die BRD auszuschleusen versuchte. Die Schwere des Verbrechens des Angeklagten wird bestimmt durch die Gefährlichkeit des staatsfeindlichen Menschenhandels als eines schwerwiegenden Angriffs auf die Souveränitätsrechte der Deutschen Demokratischen Republik, die Sicherheit ihrer Staatsgrenzen und die Interessen der sozialistischen Gesellschaft. Die Tatsache, daß der Angeklagte die von der DDR auf der Grundlage des Transitabkommens zwischen der Regierung der DDR und der Regierung der BRD gewährten Reise-und Kontrollerleichterungen skrupellos für sein Vorhaben mißbrauchte, ist straftaterschwerend zu beurteilen.“

Trotz solcher unverhältnismäßig hohen Strafen sollte die in Paragraph 105 enthaltene Bestimmung zwecks größerer Abschreckung sogar noch verschärft werden. Denn das zweite Strafrechtsänderungsgesetz vom 7. April 1977 sah u. a. „für besonders schwere Fälle“ speziell von Fluchthilfe -sprich: „staatsfeindlichem Menschenhandel“ -als Höchststrafe lebenslange Freiheitsstrafe vor. In der ursprünglichen Fassung war keine Höchststrafe festgelegt worden.

Das Regime reagierte damit auf die Zunahme von Fluchthilfeaktionen nach Inkrafttreten des Transitabkommens vom 17. Dezember 1971 über den zivilen Personen-und Güterverkehr zwischen Westberlin und dem Bundesgebiet. Durch dieses Abkommen wurden die Kontrollen im Transitverkehr auf ein Minimum beschränkt und vereinfacht. Fluchthilfeorganisationen machten sich das sofort zunutze -mit dem vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) schon 1973 festgestellten Ergebnis, „daß der staatsfeindliche Menschenhandel gegenwärtig eine der hauptsächlichsten Methoden der Feindtätigkeit darstellt und dabei zielgerichet und systematisch die im Ergebnis der Entspannungstendenzen in Europa getroffenen vertraglichen Regelungen wie das Transitabkommen und die Reise-und Besuchervereinbarung sowie der grenzenüberschreitende Reise-, Touristen-und Transitverkehr, aus und nach sozialistischen Staaten mißbräuchlich ausgenutzt werden“ Die verstärkten Fluchthilfeaktionen nach Inkrafttreten des Transitabkommens lassen sich auch an Zahlen ablesen, die das MfS ermittelt hat. Von 3 295 Ausschleusungen in den Jahren 1972 bis 1988 entfielen 953 allein auf das Jahr 1973 -für Erich Mielke ein Alarmsignal. Die Folge war eine Intensivierung „operativer Maßnahmen“ gegen Fluchthelferorganisationen, die nicht ohne Wirkung blieb: In dem genannten Zeitraum konnten immerhin 2 748 Ausschleusungen verhindert werden

IV. Fluchthelfer im Stasi-Visier

Die politische Dimension von Republikflucht und Fluchthilfe trat nicht nur aus den einschlägigen Strafnormen und Strafurteilen, sondern auch aus Befehlen, Dienstanweisungen und anderen internen Bestimmungen des MfS hervor. Selbstverständlich hatte sich die Staatssicherheit schon vor Errichtung der Berliner Mauer der Problematik Flucht angenommen. „Einschätzung der Gründe der Republikflucht und Maßnahmen zur Bekämpfung“ lautete zum Beispiel Punkt 2 der Tagesordnung einer Beratung des Kollegiums des MfS am 28. Januar 1958. Vierzehn hochrangige Generäle und Offiziere der Staatssicherheit, darunter Erich Mielke und Markus Wolf, offenbarten ihre ganze Ratlosigkeit. „Genosse Minister Mielke wies darauf hin“, so stand hernach im Protokoll zu lesen, daß „zum Teil eine falsche Einstellung besteht bei unseren Genossen gegen die Republikflucht. Wir müssen die Republikflucht richtig beurteilen, damit die Partei eine große Kampagne dagegen entfalten kann und für die operative Arbeit des MfS richtige Maßnahmen festgelegt werden.“ Zugleich hob der Stasi-Chef das Problem ins politisch Grundsätzliche: „Die Republikflucht ist in erster Linie eine Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Diese Auseinandersetzung bringt auch gewisse Schwierigkeiten, die nicht umgangen werden können. Schwierigkeiten gibt es sogar auch in der Beziehung, daß unsere Mitarbeiter die Arbeit gegen die Republikflucht nicht richtig organisieren. Die Mitarbeiter sehen nicht, daß die Republikflucht zu dem Plan des Feindes gehört, die DDR aufzuweichen, zu schädigen.“ Selbst der Gedanke, „evtl. Grenzen (zu) schließen“ wurde von Mielke damals bereits erwogen -gut dreieinhalb Jahre vor dem 13. August 1961.

Im MfS waren für die Bekämpfung von Republik-flucht und Fluchthilfe in den ausgehenden fünfziger und sechziger Jahren in der Hauptsache die Diensteinheiten der Hauptabteilung II (Spionageabwehr) und der Hauptabteilung V bzw. XX (Bekämpfung der politischen Untergrundtätigkeit) zuständig. 1970 übernahm die neu gebildete Hauptabteilung VI (Paßkontrolle/Sicherung der Touristik) die Koordinierung in der „operativen Abwehr“ von Fluchthilfedelikten, bis 1975 in Gestalt der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) eigens eine Struktureinheit zur „Vorbeugung, Bekämpfung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und der Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels“ geschaffen wurde Ihre Kompetenzen, die in den Folgejahren erheblich ausgeweitet wurden, erstreckten sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre auch auf die Bekämpfung „rechtswidriger Versuche von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen“ das heißt, sie umfaßte auch die Unterdrückung der Ausreisebewegung.

Indizien dafür, für wie existentiell notwendig das MfS die Auseinandersetzung mit der Flucht-und Fluchthilfeproblematik gehalten hat, lieferten neun Stasi-Generale und Obristen mit einer soge-nannten Kollektiv-Dissertation, die 1975 an der Juristischen Hochschule Potsdam zu folgendem Thema erarbeitet wurde: „Organisierung der Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und der Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels.“ Selbst 1987, zwei Jahre vor der Implosion des DDR-Sozialismus, wurde noch eine zweite einschlägige Kollektiv-Dissertation vorgelegt: „Kampftraditionen und Erfahrungen des MfS aus der politisch-operativen Tätigkeit gegen den staatsfeindlichen Menschenhandel, andere Formen des organisierten Verlassens der DDR und Schlußfolgerungen für die aktuelle und perspektivische Arbeit.“ Wenn auch derlei Machwerke ohne wissenschaftlichen Erkenntniswert waren, so stellen sie doch signifikante Belege dafür dar, wie die Staatssicherheit von der Flucht-und Fluchthilfeproblematik herausgefordert war. Die Zielrichtung ihrer Bemühungen zeigt folgendes Zitat aus einer Dissertation aus dem Jahre 1975: „Die Bekämpfung der kriminellen Menschenhändlerbanden ist darauf auszurichten, ihre Wirkungsmöglichkeiten systematisch einzuengen und zu verschließen, sie zu verunsichern, zu desinformieren und zu zersetzen, sie in Widersprüche untereinander, zu ihren Auftraggebern und ihrer Umwelt zu bringen, ihnen damit die Fortsetzung ihrer verbrecherischen Tätigkeit zunehmend zu erschweren und letztendlich ihre Liquidierung zu erreichen.“

V. Fluchthelfer oder Menschenhändler?

Fluchthilfe war als Widerstand im Kalten Krieg allerdings zunehmend differenziert zu bewerten, seitdem ab Mitte der sechziger Jahre kommerzielle Fluchthilfeunternehmen entstanden, die fluchtwilligen DDR-Bürgern den Weg in den Westen gegen zum Teil erhebliche Honorare öffneten. Beträge zwischen 5 000 und 20 000 DM waren keine Seltenheit. In einzelnen Fällen kamen sie auch auf das Doppelte bis Dreifache. Hier wurden Profite gemacht, die sich aus humanitären Gründen nicht rechtfertigen ließen.

Fluchthilfeverträge waren gleichwohl nicht sitten-widrig, sondern rechtsgültig, woran auch die relative Normalisierung der innerdeutschen Beziehungen in den siebziger und achtziger Jahren nichts änderte. In drei Entscheidungen des 3. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes über die Einklagbarkeit von Fluchthilfe-Verträgen vom 29. September 1977 ist das ausführlich begründet worden: „Ein Deutscher, der aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland oder nach Berlin (West) übersiedelt, verstößt daher nicht gegen die in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Gesetze und Wertvorstellungen, sondern macht von seiner ihm durch das GG (= Grundgesetz) gewährleisteten Freizügigkeit Gebrauch. Er handelt nicht sittenwidrig. Fürden, der ihm beim Verlassen der DDR und bei der Einreise in die Bundsrepublik Deutschland oder nach Berlin (West) hilft, kann im Grundsatz nichts anderes gelten. Die Gewährung von Fluchthilfe verstößt daher als solche nicht gegen die guten Sitten, ebensowenig die Verpflichtung zu solcher Hilfe.“ Und auch nachstehenden lapidaren Satz prägte der BGH: „Die Gewährung von Fluchthilfe und die Verpflichtung dazu ist auch nicht deshalb sittenwidrig, weil die Gesetze der DDR sie verbieten.“

Die Übergänge zwischen ideeller und professioneller Fluchthilfe waren fließend. Die berufsmäßig betriebene Fluchthilfe schloß bei den hier tätigen Fluchthelfern politische Motive keineswegs aus. Ungeachtet dessen haben einige gewerbsmäßige Fluchthilfeorganisationen aus der Situation flucht-williger Menschen in der DDR durchaus ein einträgliches Geschäft gemacht. Allerdings ist vor allzu voreiliger Verurteilung zu warnen. Nachdem die DDR ihr Grenzkontroll-und Sicherungssystem seit den sechziger Jahren systematisch ausgebaut und verbessert hat, erforderte die planmäßige Organisation von Fluchthilfe immer höhere finanzielle Aufwendungen.

Zu bedenken ist ferner das hohe Risiko, daß Fluchthelfergruppen eingegangen sind, wenn sie ihre Aktionen auf dem Hoheitsgebiet der DDR angebahnt oder durchgeführt haben. Wolfgang Kockrow beziffert die Zahl der Fluchthelfer, die aufgrund fehlgeschlagener Fluchthilfeunternehmungen zwischen 1961 und 1988 in der DDR verhaftet und verurteilt wurden, auf 800 Personen, darunter auch viele Ausländer *S*ie fielen der Staatssicherheit als Fahrer, Kuriere und Schleuser in die Hände, weil Inoffizielle Mitarbeiter des MfS in ihre Organisationen hatten eindringen und sie verraten können. Ein Schulbeispiel dafür liefert der Fall Rainer Schubert. Der in Westberlin ansässige Journalist war als Fluchthelfer für die Schweizer Organisation „Aramco AG“ tätig, ehe er sich verselbständigte. Insgesamt konnte man 98 ausreisewilligen DDR-Bürgern zur Flucht verhelfen -zumeist durch Schleusungen mit falschen Pässen im Transitverkehr. Als einer seiner Mitstreiter auf der Transitstrecke nach Berlin festgenommen worden war, erkannte das MfS Schuberts Rolle im Fluchthelfer-milieu. Am Abend des 8. Januar 1975 wurde er von einem Ostberliner Bekannten, der vom MfS zur inoffiziellen Zusammenarbeit genötigt worden war, auf Weisung des Führungsoffiziers unter dem Vorwand, eine Fluchthilfeaktion zu besprechen, zu einem Treffen nach Ostberlin gelockt. In einem Fußgängertunnel am Alexanderplatz wurde der Fluchthelfer wie geplant von einer operativen Gruppe des MfS erwartet und festgenommen

Das Stadtgericht (Ost-) Berlin verurteilte Rainer Schubert am 26. Januar 1976 -nach einem Jahr Untersuchungshaft -„in teilweise nichtöffentlicher Hauptverhandlung ... wegen staatsfeindlichen Menschenhandels, teilweise in Tateinheit mit Sabotage im besonders schweren Fall, mehrfacher Spionage, mehrfachen ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall . . . sowie mehrfacher Urkundenfälschung und wegen Terrors und staatsfeindlicher Hetze“ zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe von denen er knapp neun Jahre in Berlin-Hohenschönhausen und Bautzen II bis zu seinem Freikauf am 14. Oktober 1983 zu verbüßen hatte.

Fluchthelfer haben, was kaum mehr in Erinnerung ist, nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihr Leben riskiert. Einer der ersten, der bei einer Schleusungsaktion von DDR-Grenzsoldaten erschossen wurde, war Heinz Jercha. Er wurde am 27. März 1962 bei dem Versuch, Flüchtlinge durch einen Tunnel nach Berlin-Neukölln, Heidelberger Straße, zu schleusen, entdeckt und angeschossen Er erlag seinen Verletzungen in Westberlin.

Ungeklärt blieb bis in die Gegenwart der Mordfall Hans Ulrich Lenzlinger. Der umstrittene Chef der Fluchthilfeorganisation „Aramco-AG“ wurde im Februar 1979 in seiner Villa in Zürich erschossen. Der naheliegende Verdacht, Stasi-Agenten könn­ ten die Hände im tödlichen Spiel gehabt haben, wurde nicht bewiesen. Ähnliches gilt für den Mordanschlag auf Kay Mierendorf. Der langjährige Chef einer Fluchthelferorganisation, der über 100 DDR-Bewohnern zur Flucht nach Westdeutschland verhalf, sollte am 9. Februar 1982 durch eine offenbar technisch perfekte Brief-bombe in Bad Tölz getötet werden. Er verlor mehrere Finger einer Hand und trug weitere Verletzungen davon, kam aber mit dem Leben davon Auch hier ist der dringende Verdacht eines Stasi-Attentats bis heute nicht ausgeräumt, freilich auch nicht bewiesen.

Demgegenüber ist der an Wolfgang Welsch versuchte Mord durch die Staatssicherheit in vollem Umfang bewiesen: Der Fluchthelfer, Schauspieler und Autor, 1964 in der DDR aus politischen Gründen verhaftet und zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, 1971 freigekauft, organisierte Fluchthilfeaktionen. Die Staatssicherheit plante im Rahmen der „Operation Skorpion“ mehrere Mordanschläge -der dritte konnte unter Einsatz des IM „Alfons“ durch Vergiftung von Speisen mit Thallium, einem langsam wirkenden Gift, fast bis zum letalen Ende realisiert werden Nur ärztliche Kunst bewahrte das Opfer vor einem qualvollen Tod.

Die gewerbsmäßige Fluchthilfe bedarf, das wurde bereits angedeutet, einer kritisch differenzierenden Betrachtung. Nicht zu übersehen sind dabei Fluchthelferorganisationen, die jenseits von politischer Motivation nur aus finanziellem Kalkül tätig geworden sind -auch wenn sich ihr Handeln „objektiv“ gegen die politischen Interessen des Regimes gerichtet hat. Soweit dagegen Fluchthelfer als bewußte Gegner der Diktatur in der DDR aus der Überzeugung heraus gehandelt haben, Menschen im Staat der SED zu dem Recht zu verhelfen, über sich und die Gestaltung ihres Lebens selbst zu bestimmen, kann und muß „die organisierte Fluchthilfe als Form des Widerstands nach dem 13. August 1961 “ angesehen werden. Allein eine historische Aufarbeitung der Fluchthilfe in allen ihren Varianten, die an konkreten Biographien festzumachen ist, wird die Scheidelinie deutlich machen, jenseits derer Fluchthelfer, gewerbsmäßige zumal, den Widerständlern in der DDR nicht zuzurechnen sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin. hrsg. vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, Bonn-Berlin 1961, S. 15; vgl. dazu ferner Hartmut Wendt, Die deutsch-deutschen Wanderungen -Bilanz einer 40jährigen Geschichte von Flucht und Ausreise, in: Deutschland Archiv, 24 (1991) 4, S. 386 ff.

  2. Zu den folgenden Zahlen vgl. Bernd Eisenfeld, Flucht-bewegung, Stichwortartikel in: Rainer Eppelmann/Horst Möller/Günter Nooke/Dorothee Wilms (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats-und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Paderborn 1996, S. 200 ff.

  3. Walter Ulbricht, Grundfragen der ökonomischen und politischen Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik, zit. in: ders., Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, Band VI, (Ost-) Berlin 1961, S. 696 f.

  4. Vgl. GBl.der DDR, 1957, Teil I, S. 643.

  5. Vgl. ebd., S. 650.

  6. Falco Werkentin, Zur Dimension politischer Inhaftierungen in der DDR 1949-1989, in: Klaus-Dieter Müller/Annegret Stephan (Hrsg.), Die Vergangenheit läßt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen, Berlin 1998, S. 146.

  7. Vgl. Urteil des Obersten Gerichts vom 2. August 1961, Aktenzeichen: 1 Zst (I) 2/61, und Urteil des Obersten Gerichts vom 16. August 1961, Aktenzeichen: 1 Zst (I) 3/61.

  8. Urteil des Obersten Gerichts vom 4. Juli 1962, Aktenzeichen: 1 Zst (I) 2/62.

  9. Vgl. dazu Manfred Görlach, Eingemauert. Erinnerungen an Potsdam und Brandenburg 1961-1964, Erftstadt -Liblar 1991 (Privatdruck).

  10. Urteil des Obersten Gerichts vom 29. Dezember 1962, Aktenzeichen: 1 Zst (I) 4/62. Vgl. dazu Karl Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968. Bericht und Dokumentation, Köln 19902, S. 490 ff.

  11. Vgl. Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968, GBl.der DDR, 1968, Teil I, S. 1.

  12. Urteil des Bezirksgerichts Frankfurt/Oder vom 6. September 1976, Aktenzeichen: I A BS 27/76 -211 -50-76. Vgl. Matthias Bath, 1197 Tage als Fluchthelfer in DDR-Haft, Berlin 1987.

  13. Vgl. GBl.der DDR, 1977, Teil I, S. 100.

  14. Ebd., S. 11.

  15. Vgl. ebd„ S. 77.

  16. Protokoll der Kollegiumssitzung am 28. Januar 1958, BStU, Zentralarchiv SdM 1554, Bl. 1.

  17. Ebd., Bl. 14 f.

  18. Befehl Nr. 1/75 zur Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels, in: Hans-Hermann Lochen/Christian Meyer-Seitz (Hrsg.), Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern. Köln 1992, S. 173 ff.

  19. Näheres dazu bei M. Tantzscher (Anm. 11), S. 20 ff.

  20. Befehl Nr. 6/77 des Ministers für Staatssicherheit vom 18. März 1977 zur Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung feindlich-negativer Handlungen im Zusammenhang mit rechtswidrigen Versuchen von Bürgern der DDR, die Über-siedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie zur Unterbindung dieser rechtswidrigen Versuche, in: H. -H. Lochen/C. Meyer-Seitz (Anm. 20), S. 23; vgl. ferner die Dienstanweisung Nr. 2/83 zur Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie für die vorbeugende Verhinderung, Aufklärung und wirksame Bekämpfung damit im Zusammenhang stehender feindlich-negativer Handlungen vom 13. Oktober 1983, in: ebd., S. 89 ff.

  21. Manfred Hummitzsch/Heinz Fiedler/Rolf Fister/Manfred Gruska/Heinz Roth/Gerhard Teichmann/Peter Winkler/Lutz Beckert/Werner Paulsen, Organisierung der Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und der Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels, Diss. A/B der Juristischen Hochschule, Potsdam 1975, S. 168.

  22. Gerd Held/Steffen Geithner/Wolfgang Thieme/Lutz Reicherdt, Kampftraditionen und Erfahrungen des MfS aus der politisch-operativen Tätigkeit gegen den staatsfeindlichen Menschenhandel, andere Formen des organisierten Verlassens der DDR und Schlußfolgerungen für die aktuelle und perspektivische Arbeit, Diss. A der Juristischen Hochschule, Potsdam 1987.

  23. Zit. in: Daniela Beutler/Werner König, Geheime Lizenz zum Töten. Liquidierung von Feinden durch das Ministerium für Staatssicherheit, in: Lothar Mertens/Dieter Voigt, Opfer und Tater im SED-Staat, Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. 58, Berlin 1998, S. 85.

  24. BGH, Urteil vom 29. 9. 1977 -III ZR 164/75 -, zit. in: Recht in Ost und West, 22 (1978) 1, S. 34.

  25. Vgl. W. Kockrow (Anm. 12), S. 131.

  26. Vgl. Matthias Bath, Die Fluchthelfer Rainer Schubert und Hartmut Richter, in: Silke Klewin/Kirsten Wenzel, Wege nach Bautzen II. Biographische und autobiographische Porträts, Dresden 1998, S. 113 ff.

  27. Vgl. Urteil des Stadtgerichts von Groß-Berlin vom 26. Januar 1976, Aktenzeichen: 101 a BS 80. 75 /211-153-75. Zur Entführung vgl. auch Urteil der 22. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin vom 13. Mai 1993, Aktenzeichen: (502) 76/6 P Js 214/84 KLs (34/92).

  28. Vgl. Werner Filmer/Heribert Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, München 1991, S. 96.

  29. Vgl. Friedrich W. Schlomann, Die Maulwürfe. Noch sind sie unter uns, die Helfer der Stasi im Westen, München 1993, S. 55.

  30. Vgl. D. Beutler/W. König (Anm. 25), S. 84; ferner Wolfgang Welsch, Operation Skorpion (Expose).

  31. Karl Wilhelm Fricke, Dimensionen von Opposition und Widerstand in der DDR, in: Klaus-Dietmar Henke/Peter Steinbach/Johannes Tuchei (Hrsg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 9, Köln-Weimar-Wien 1999, S. 29.

Weitere Inhalte

Karl Wilhelm Fricke, Dr. phil. h. c., geh. 1929; Publizist in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984; Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung, Strukturen, Aktionsfelder, 3. Aufl., Köln 1989; Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968. Bericht und Dokumentation, 2. Aufl., Köln 1990; MfS intern. Macht, Strukturen, Auflösung der DDR-Staatssicherheit, Köln 1991; Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung, 4. Aufl., Berlin 1997; (zus. mit Roger Engelmann) „Konzentrierte Schläge“. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953-1956, Berlin 1998.