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In der Kampfzone Rassismus, Antisemitismus und das Ringen um Deutungshoheit

Meron Mendel

/ 12 Minuten zu lesen

Eigentlich sollte der Kampf gegen Antisemitismus mit jenem gegen Rassismus Hand in Hand gehen. Doch Opferkonkurrenzen, unterschiedliche Haltungen zum Nahostkonflikt und eine dominant gewordene Betroffenenperspektive erschweren eine Verständigung.

„Der Nahostkonflikt wird im Plenum gelöst.“ Unter diesem ironischen Titel habe ich im Frühling 2019 einen Diskussionsabend in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main organisiert. Zu meiner Überraschung wurde die kleine Veranstaltung zum Skandal. Die „Jerusalem Post“ warnte vor unserer vermeintlich antiisraelischen Pro-BDS-Veranstaltung, da zu den geladenen Podiumsgästen auch der Journalist Daniel Bax zählte, den der „Jerusalem Post“-Autor als „Israelhasser“ beschrieb und mit dem Rechtsextremisten Udo Voigt und „Irans Mullah-Regime“ verglich. Schnell schlossen sich weitere Organisationen der Kritik an, vom Verein „I Like Israel“ in Frankfurt bis zum Simon Wiesenthal Center in Los Angeles, das sogar noch eins draufsetzte: Es forderte die Bildungsstätte auf, den Namen Anne Frank aus ihrem Namen zu streichen. Schließlich erhielt ich eine E-Mail vom damaligen Bürgermeister der Stadt Frankfurt mit der eindringlichen Aufforderung, Daniel Bax auszuladen.

Opferkonkurrenz: Wo Solidarität an ihre Grenzen stößt

Man könnte sagen, dass diese Anekdote folgenlos blieb. Schließlich fand die Veranstaltung wie geplant statt – mit Daniel Bax und ohne Zwischenfälle. Allerdings wird hier ein Muster erkennbar, das sich in unterschiedlichen Ausprägungen im Kleinen wie im Großen immer häufiger wiederholt: Der Versuch, einer marginalisierten Gruppe gerecht zu werden, führt bei einer anderen marginalisierten Gruppe zu Verletzungen. Gerade Einrichtungen, die sich Toleranz und Vielfalt auf die Fahne schreiben und sich gleichermaßen gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzen, bringt das in ein kaum lösbares Dilemma. Solange die Gegner Rechtsextremisten sind, wie bei dem antisemitischen Anschlag in Halle 2019 oder beim rassistischen Anschlag in Hanau 2020, gelingt es den Betroffenen von Antisemitismus und Rassismus meist, sich miteinander zu solidarisieren. Was aber, wenn die Ansprüche marginalisierter Gruppen miteinander in Konkurrenz geraten? Wenn eine kurdische Vereinigung den Ausschluss von nationalistischen türkischen Verbänden aus einer Veranstaltung fordert? Oder wenn eine Moscheegemeinde fordert, dass die Gay-Pride-Parade ihre Route ändern soll, damit sie nicht an den Moscheebesuchenden vorbeiführt? Und wie können antiisraelische Äußerungen eines schwarzen Philosophen kritisiert werden, ohne rassistische Argumentationen zu reproduzieren? Es geht dabei um mehr als eine „Opferkonkurrenz“ zwischen marginalisierten Gruppen. Vielmehr zeigt sich hier ein gesamtgesellschaftlicher Rahmen, der fast schon notwendig von handfesten Konflikten geprägt ist: Wer bekommt die begrenzten Gelder und Stellen, um an den Universitäten zu Rassismus, Antisemitismus, Holocaust oder Kolonialismus zu forschen? An wen fließen Entschädigungszahlungen für begangenes Unrecht? Wie sollen die Gelder, die Bezirke oder Kommunen für die Vergabe von Denkmälern im öffentlichen Raum zur Verfügung haben, verteilt werden? Für welche diskriminierten Gruppen werden Beauftragte auf Bundes- oder Landesebene berufen, und welches Gewicht bekommen dann deren Äußerungen? Und gegen welche Phänomene gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit werden Programme in der Bildungsarbeit finanziert? Es sind diese Rahmenbedingungen, in denen sich (rassifizierte) Minderheiten bewegen müssen und in denen oft genug Konkurrenzverhältnisse entstehen.

Von der Mbembe-Debatte bis zum Documenta-Skandal

Ein besonders prominentes Beispiel für eine solche Opferkonkurrenz war die „Mbembe-Debatte“ 2020 um den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe, der als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale eingeladen war. Mbembe ist einer der internationalen Philosophie-Superstars, ausgezeichnet unter anderem mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2015, und so hatte man mit ihm als Eröffnungsredner einen Coup gelandet. Die Begeisterung wurde jedoch nicht von allen geteilt. So forderten etwa der FDP-Politiker Lorenz Deutsch und der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, mit Verweis auf als antisemitisch gelesene Passagen in Texten des Philosophen dessen Ausladung. Begründet wurde dies auch mit der einige Monate zuvor vom Bundestag verabschiedeten Resolution, die die BDS-Bewegung als antisemitisch verurteilt und ihr staatliche oder staatlich geförderte Räume vorenthalten soll. Die Debatte nahm ihren erhitzten Lauf: Die Verteidiger Mbembes und dieser selbst interpretierten das Geschehen als rassistische Kampagne gegen ihn, die Postcolonial Studies und alles Außereuropäische; seine Kritiker wiederum fürchteten eine Verharmlosung des Antisemitismus, unangemessene Kritik an oder Hetze gegen Israel und einen Angriff auf die etablierte Erinnerungskultur. Letztlich hielt Achille Mbembe keine Eröffnungsrede, obwohl er nicht ausgeladen worden war: Die Corona-Pandemie führte 2020 zur Absage der Ruhrtriennale.

Das hier erkennbare Muster ist das einer nicht unmittelbar plausiblen Konfrontation: Diejenigen, die wesentlich gegen Rassismus engagiert sind, stehen denjenigen gegenüber, die sich gegen Antisemitismus einsetzen. In dieser Gemengelage kann es dann beispielsweise dazu kommen, dass der Hinweis auf eine antisemitische Äußerung als rassistisch wahrgenommen wird. Oder es werden die in ihrer Breite heterogenen Postcolonial Studies pauschal als antisemitisch bezeichnet, womit sie aus dem legitimen Diskurs ausgeschlossen werden sollen.

Während in der Mbembe-Debatte die Verbindung zwischen der BDS-Bewegung und einem prominenten postkolonialen Vordenker im Mittelpunkt stand, wurde etwa zwei Jahre später bei der Kunstausstellung Documenta Fifteen in Kassel die Problematik auf einer viel breiteren Ebene sichtbar. Was zu einer Art Sommermärchen für Kunstbegeisterte werden sollte („Make Friends, Not Art“), geriet zu einem der größten öffentlichen Skandale in der Geschichte des deutschen Kulturbetriebs. Im Zentrum der Kritik stand die Entscheidung der Organisatoren, dem indonesischen Kollektiv Ruangrupa die künstlerische Leitung der Documenta anzuvertrauen. Unter anderem wurde einem Mitglied des Kollektivs vorgehalten, den antiisraelischen Brief „Letter Against Apartheid“ unterschrieben zu haben. Auch hier standen schnell den Antisemitismusvorwürfen (gegen das Kollektiv) die Rassismusvorwürfe (gegen die Kritikerinnen und Kritiker) gegenüber. Das eine Lager sah in den Antisemitismusvorwürfen Belege für einen strukturellen Rassismus in der deutschen Gesellschaft und in der Kritik an der Documenta den Versuch, hausgemachten Antisemitismus auf andere abzuwälzen – und zwar ausgerechnet auf Menschen aus dem sogenannten Globalen Süden, vor allem aus muslimischen Ländern. Die Schriftstellerin Eva Menasse etwa beklagte, dass man sich in Deutschland über antisemitische „Wandteppiche aus Indonesien“ aufrege, während gleichzeitig die Statistik belege, wie viele antisemitische Straftaten Neonazis verübten. Auch das Künstlerkollektiv Ruangrupa selbst sah sich als Opfer einer „rassistischen Verleumdungskampagne“. Vom anderen Lager wurden die umstrittenen Kunstwerke als Beweise dafür angeführt, dass im Globalen Süden Israelhass und Antisemitismus allgegenwärtig seien. In der „Süddeutschen Zeitung“ wurde über die „Fetischisierung“ des Globalen Südens geraunt. Die „FAZ“ warf der Documenta „Dekolonisierungskunst“ vor, sie arbeite „mit der Moral – und als Reich des Bösen hat sie Israel identifiziert“.

Während sich die einen als Wächter der Kunstfreiheit verstanden, vertraten die anderen die Auffassung, es gehe hier um die letzte Verteidigungslinie vor dem eliminatorischen Antisemitismus, der den gesamten Kulturbetrieb zu dominieren drohe. Wie der Journalist Richard C. Schneider schrieb: „Solche ‚Kunst‘ kann töten. Sie hat getötet.“ Über beide Positionen lässt sich trefflich streiten. Auffällig war, dass kaum jemand die Perspektive und die Sorge des jeweils anderen Lagers nachzuvollziehen versuchte.

Der Elefant im Raum

So unterschiedlich die Gründe für die Konkurrenzen im Einzelnen auch sind: Die Konflikte um Rassismuskritik auf der einen und Antisemitismuskritik auf der anderen Seite gehen fast immer auf Positionierungen zum Nahostkonflikt zurück. Ein Blick auf die zurückliegenden Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Antisemitismus(vorwürfen) und Rassismus(vorwürfen) zeigt, dass der Auslöser in nahezu allen Fällen die unterschiedliche Bewertung des Israel-Palästina-Konflikts war. Von der Mbembe-Debatte bis zur Documenta, von der Kritik an der Aufführung des Theaterstücks „Vögel“ im Frühjahr 2023 in München bis hin zu den Protesten gegen die Deutschlandtour des Pink Floyd-Mitbegründers Roger Waters im Sommer 2023 treffen zwei Narrative immer wieder aufeinander (in denen „Juden“ und „Israelis“ übrigens oft strategisch synonym verwendet werden): Während radikale Kritiker den Staat Israel als Vorposten des imperialistischen und kolonialistischen Westens im Nahen Osten bezeichnen, betonen die Verteidiger Israels seine Funktion als Zufluchtsort für alle Juden vor antisemitischer Verfolgung. Hier treffen zwei Minderheitsperspektiven aufeinander, die schwer miteinander zu vereinbaren scheinen. Häufig geht es um die gleichen Vorwürfe: So wird behauptet, dass es schwierig sei, über den Antisemitismus im Globalen Süden oder unter Muslimen zu sprechen, da diese selbst von Rassismus betroffen sind. In der Konsequenz findet eine Thematisierung der Spezifika des Antisemitismus in postkolonialen, muslimischen und/oder migrantischen Milieus in vielen „linken“ Diskurszusammenhängen gar nicht erst statt. Stattdessen wird auf die Gefahr der Vereinnahmung von rechter Seite verwiesen. Und tatsächlich wird von „rechts“ ja immer wieder behauptet, dass es im Land von Luther und Hitler vor allem einen „importierten Antisemitismus“ gäbe, gegen alle historische und empirische Evidenz. Im Gegenzug wird dann das Ausmaß des Antisemitismus im Globalen Süden oder unter Muslimen vielerorts mit der Floskel verschleiert, es handele sich dabei um ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Sowohl in der Mbembe- als auch in der Documenta-Debatte lagen dem Streit unterschiedliche Auffassungen dessen zugrunde, wo die Grenze zwischen legitimer Kritik an Israel und israelbezogenem Antisemitismus liegt. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Frage, ob die BDS-Kampagne als antisemitisch anzusehen ist oder nicht. Befördert wurde der Streit darüber nicht zuletzt durch die Wirkung, die von der BDS-Resolution des Deutschen Bundestags im Mai 2019 ausging. Damals stimmte eine Mehrheit dem fraktionsübergreifenden Antrag „BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ zu. Darin bekräftigt der Bundestag die entschlossene Ablehnung von Antisemitismus und begründet dies im Fall der BDS-Kampagne auch mit historischen Assoziationen, denn die „Aufrufe der Kampagne zum Boykott israelischer Künstlerinnen und Künstler sowie Aufkleber auf israelischen Handelsgütern, die vom Kauf abhalten sollen, erinnern (…) an die schrecklichste Phase der deutschen Geschichte. ‚Don’t Buy‘-Aufkleber der BDS-Bewegung auf israelischen Produkten wecken unweigerlich Assoziationen zu der NS-Parole ‚Kauft nicht bei Juden‘.“ In der Konsequenz forderte der Bundestag Gemeinden und andere öffentliche Körperschaften dazu auf, Projekte, die BDS unterstützen, nicht zu fördern. Allerdings handelt es sich bei der Resolution um kein Gesetz, sondern um eine Willensbekundung des Deutschen Bundestages (und zwar dem der 19. Wahlperiode). Rechtlich folgt aus dem Beschluss zunächst einmal nichts; seine Umsetzung wurde mehrfach durch Verwaltungsgerichte als nicht verbindlich erklärt. Obwohl der Beschluss also rechtlich nicht bindend ist, hat er gleichwohl in den vergangenen Jahren wesentlich der Lagerbildung und der Verschärfung der Debatte Vorschub geleistet.

Betroffenenperspektiven

Sowohl in der Mbembe- als auch in der Documenta-Debatte kämpften beide Lager für einen guten Zweck: die Bekämpfung von Antisemitismus beziehungsweise Rassismus. Trotzdem scheint die Kluft zwischen beiden Lagern nicht überbrückbar zu sein, was unter anderem damit zu tun hat, dass beide auf ähnliche Art und Weise agieren. Beiden Lagern geht es nicht um Verständigung, sondern darum, Deutungshoheit über den Diskurs zu gewinnen und ihre jeweiligen politischen Ziele zu erreichen, indem sie Vertreter der Gegenposition aus der Öffentlichkeit zu verbannen trachten. Beide Lager üben moralischen Druck auf die Politik und den Kulturbetrieb aus: Wer sich nicht vehement für BDS einsetzt, dem wird vorgeworfen, sich mit israelischen Menschenrechtsverletzungen gemein zu machen. Und wer sich nicht vehement gegen die BDS-Bewegung einsetzt, dem wird vorgehalten, mit Antisemiten zu paktieren. So bleibt in der öffentlichen Diskussion kaum Platz für Differenzierungen und individuelle Meinungen – oder auch nur der Raum, sich einer Positionierung (vorerst) zu enthalten. Wer sich zu Wort meldet, wird zur Solidarität mit der einen oder anderen Seite verpflichtet.

Die Heftigkeit der Debatte zwischen Menschen, die Antisemitismus bekämpfen wollen, und denen, die gegen Rassismus sind, fällt nicht zufällig in eine Zeit, in der die deutsche Gesellschaft wie selten zuvor mit der Gleichberechtigung und der Mitsprache von religiösen und rassifizierten Minderheiten ringt. Ob gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Homogenität oder durch Heterogenität gewährleistet wird, ist in seinen unterschiedlichen Facetten vermutlich noch nie so hitzig diskutiert worden wie heute. Denn obwohl Deutschland schon seit langem eine Migrationsgesellschaft ist, dauerte es bis Anfang des Jahrtausends, bis diese Realität auch wirklich politisch anerkannt wurde. Erst in den vergangenen Jahren, unter „postmigrantischen Bedingungen“ (Naika Foroutan), sind die gesellschaftlichen Verschiebungen für alle sichtbar geworden: Betroffene von Antisemitismus und Rassismus melden sich zunehmend zu Wort, fordern Sichtbarkeit und strukturelle Veränderungen ein und brechen selbstbewusst aus der ihnen zugeschriebenen Rolle im „Integrationstheater“ (Max Czollek) aus.

Für Juden gelten die Proteste gegen die Aufführung des Stücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder 1985 auf der Bühne der Frankfurter Kammerspiele als ein Schlüsselmoment. Mitglieder der jüdischen Gemeinde hatten die Bühne besetzt und verhinderten, was sie „subventionierten Antisemitismus“ nannten. Der Protest richtete sich gegen die Hauptfigur des Stückes, einen jüdischen Immobilienspekulanten, den Fassbinder mit plakativen antisemitischen Klischees als „reichen Juden“ ausgestattet hatte: skrupellos, hinterlistig, sexbesessen, machtgierig. Fassbinder reproduzierte in seinem Stück eines der wirkmächtigsten und langlebigsten Vorurteile gegen Juden. Auch Betroffene von Rassismus melden sich inzwischen deutlicher zu Wort als in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Nach den rechtsextremistischen Mordanschlägen in Mölln (1992) und Solingen (1993) fanden in ganz Deutschland Protestaktionen statt, in denen auch die Migranten-Communitys hör- und sichtbar wurden.

Vor allem aber in den vergangenen beiden Jahrzehnten ist vieles in Bewegung gekommen: Es geht um diskriminierungsfreie Sprache in Kinderbüchern, die richtige Bezeichnung von Minderheiten, um rassistische Polizeigewalt und fehlende Repräsentanz im Bundestag, den Medien und Unternehmensvorständen. Konzerne verpflichten sich zu Antirassismus-Seminaren, nach deutschen Kolonialherren benannte Straßen werden umbenannt, die Angehörigen der Opfer rassistischer und antisemitischer Morde klagen an, und Diversitäts- sowie Antisemitismusbeauftragte schießen scheinbar wie Pilze aus dem Boden. Die Errungenschaften der Kämpfe gegen Rassismus und Antisemitismus sind unübersehbar. Ein wichtiger Faktor sind dabei die sozialen Medien. Sie eröffnen jungen migrantischen und jüdischen Stimmen mehr Möglichkeiten, ihre Perspektiven und Forderungen zu kommunizieren. In Kampagnen wie #MeToo oder #SchauHin sowie während der Proteste rund um die Black-Lives-Matter-Bewegung im Frühjahr 2020 kamen sie zu Wort und haben ihre Diskriminierungserfahrungen sichtbar gemacht. Selbst der ursprünglich von Rechtsextremen initiierte Hashtag #JewishPrivilege wurde von Juden übernommen, um auf Antisemitismus aufmerksam zu machen. Doch so sehr die neuen Medien auch neue Möglichkeiten mit sich bringen, so sehr sind sie auch mit gefährlichen Dynamiken verbunden: mit Echokammern, Frontenbildung und schnellen Diffamierungen, die zur Selbstzerfleischung und Schwächung progressiver Gruppen führen, die in immer kleinere Mikromilieus zerfallen.

Dass marginalisierte Positionen sichtbarer werden, ist eine zweifellos positive Entwicklung. Gleichzeitig wird damit jedoch auch die Tendenz verstärkt, allein der subjektiven Perspektive die Deutungshoheit über gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen zuzusprechen und so die kritische Gesellschaftsanalyse zu vernachlässigen. Rassismus und Antisemitismus, die in vielen Institutionen – von der Schule über die Polizei bis hin zum Kulturbetrieb – existieren, müssen jedoch auch strukturell bekämpft werden. Selbstverständlich haben diejenigen, die Antisemitismus und Rassismus im Alltag erfahren, hier oft notgedrungen andere Einblicke, ein anders situiertes Wissen. Allzu oft wird jedoch aus der Anerkennung der Betroffenenperspektive der falsche Schluss gezogen, dass Betroffenen aufgrund ihrer Sprecherposition immer recht gegeben werden müsste. Wenn eine Situation alleine deshalb als rassistisch oder antisemitisch bewertet wird, weil sich die betroffene Person verletzt fühlt, ist das falsch. Hier wird die subjektive Wahrnehmung zum alleinigen und entscheidenden Maßstab erhoben. Zum Respekt des Zuhörens gehört jedoch auch, Betroffenen zuzugestehen, dass sie falsch liegen können. Denn damit wird verdeutlicht, dass es nicht die eine Betroffenenperspektive und -position gibt – wie sollte das auch möglich sein angesichts der weiten politischen Differenzen, die natürlich auch unter Juden oder People of Color bestehen? Wer unabhängig vom Gesagten die Position von Betroffenen als die einzig moralisch legitime darstellt, nimmt sie genauso wenig ernst wie jene, die ihnen gleich den Mund verbieten wollen.

Die Forderung nach einer stärkeren Beachtung der Betroffenenperspektive in der Beurteilung von Antisemitismus und Rassismus kann als Teil einer breiteren identitätspolitischen Entwicklung gesehen werden. Der Versuch, zu verstehen, wie Individuen und Gruppen benachteiligt oder unterdrückt werden, impliziert den Imperativ, den Betroffenen erst einmal zuzuhören. Aus diesem Imperativ, so der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, können aber auch Kämpfe über die Frage entstehen, „wer in der Opferhierarchie am höchsten“ steht. In der Folge treten „kränkungskompetitive Repräsentanten verschiedener Gruppen“ auf, die allein für sich beanspruchen, über die Ansprüche auf Schutz urteilen zu können. Auf ein ähnliches Problem weist der Historiker Andreas Rödder hin: Wenn Betroffene aus ihrer Erfahrung von Benachteiligung und Unterlegenheit das Recht ableiten, allein über das Sagbare zu bestimmen, wird „der Kläger zugleich zum Richter“. Aus Rödders Sicht darf die „intersubjektiv nachvollziehbare Begründungspflicht“ nicht durch „persönliches Empfinden“ ersetzt werden. Andere Kritiker argumentieren, dass, wenn Betroffene zur moralischen Instanz im Diskurs werden, die Gefahr bestehe, dass biologische, ethnische und soziologische Merkmale über die inhaltliche Position eines Menschen gestellt werden und die soziale Position mit der politischen Position mechanistisch verbunden wird.

Natürlich hat jede Person oder Gruppe das Recht, gegen alles zu protestieren, was sie als anstößig empfindet. Der Imperativ, den Betroffenen zuzuhören, avanciert jedoch in aktuellen Debatten allzu oft zum alleinigen Maßstab, um sich eine Meinung zu bilden und ein Urteil zu fällen. Dabei profitieren doch gerade Minderheiten von den Freiheiten, die unsere liberale Demokratie garantiert. Der Preis dafür ist, dass wir als Individuen oder in unserer Zugehörigkeit zu (marginalisierten) Gruppen auch mit Sprache und Kunst konfrontiert werden können, die wir möglicherweise als verletzend empfinden. Die Forderung, jeden Trigger, alles, was irritierend oder schmerzhaft sein könnte, möglichst aus der Kultur und der öffentlichen Kommunikation zu verbannen, kann vom liberalen Staat nicht erfüllt werden. Die Betonung der Differenzen, der Marginalisierung der eigenen Position und der Status als Opfer (oder dessen Anwälte) darf nicht in selbstgerechte Forderungen nach Zensur und Sanktionen münden. Die Skandale von der Mbembe-Debatte bis zur Documenta zeigen, dass diese Logik längst den deutschen Kunst- und Kulturbetrieb in Geiselhaft genommen hat.

Als auf der Documenta in Kassel antisemitische Motive im Werk „People’s Justice“ von Taring Padi zu sehen waren, wandte sich der Zentralrat der Juden an Kulturstaatsministerin Claudia Roth und bat sie, zu intervenieren; im Kulturausschuss des Bundestages forderte er, dass der Bund und das Land Hessen ein „Zugriffsrecht auf die handelnden Akteure“ der Documenta bekommen sollten. In diesem Punkt lag der Zentralrat falsch, denn das Recht auf Meinungsfreiheit schützt sogar antisemitische und rassistische Äußerungen. Und das Recht auf Kunstfreiheit schützt dementsprechend auch antisemitische und rassistische Kunstwerke – nicht vor öffentlicher Kritik, aber vor staatlichem Eingriff. „Das wirkt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wie ein Skandal, aber es ist der Skandal einer liberalen Ordnung, die nicht alles rechtlich sanktioniert, was sie politisch verurteilt“, so der Verfassungsrechtler Christoph Möllers. Er leitet daraus ab, dass der Staat den Kulturinstitutionen keine Inhalte vorschreiben darf. Staatliche Stellen „dürfen nicht entscheiden, welche Stücke gespielt, welche Schauspieler besetzt, welche Personen zu Vorträgen eingeladen oder wessen Kunstwerke ausgestellt werden“.

Wird Deutschland die Documenta verwinden?

In seinem Jahresausblick 2023 hat mir der „Spiegel“ die Frage gestellt: „Wird Deutschland die Documenta verwinden?“ Ich musste lange darüber nachdenken, was die Frage meint. Denn zu diesem Zeitpunkt waren die Kunstwerke in Kassel schon längst abgebaut, die Künstler aus Indonesien, Kuba, Marokko, von den Philippinen und aus Südafrika wieder abgereist. Doch gemeint war nicht die konkrete Ausstellung, sondern die mediale und gesellschaftliche Auseinandersetzung damit. Die Documenta ist zum Synonym für die Entgleisung der Debatte über Antisemitismus und Rassismus geworden, für das Unvermögen, darüber eine aufgeklärte Diskussion zu führen, für die Lagerbildung und für den Trend, sich in den eigenen Echokammern bequem einzurichten. Dabei geht es selten um die Interpretation und Beurteilung konkreter Fälle, sondern um pauschale Urteile, eindeutige Positionierungen und Machtdemonstrationen. Die Filterblasen bilden sich nicht nur in den sozialen Medien, sondern sie sind überall dort zu finden, wo sich Menschen in der eigenen Komfortzone verschanzen. Die Documenta „verwinden“ bedeutet erst einmal, kritisch auf diese Dynamik zu schauen und sich bereit zu erklären, nicht nur die eigenen Verletzungen zu beklagen, sondern andere Perspektiven zuzulassen. Ansonsten wird alles so bleiben, wie es ist. Weil es für alle so bequem ist.

ist Professor für transnationale Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank.
E-Mail Link: mmendel@bs-anne-frank.de