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Gründungsgeschichten | Doppelte Staatsgründung | bpb.de

Doppelte Staatsgründung Editorial Warum es zur doppelten Staatsgründung kam Blasse Erinnerung. Der Neubeginn nach 1945 im deutschen Gedächtnis Blick zurück nach vorn. Nationalsozialistische Vergangenheit und Neubeginn 1949 Von der Gründungsgeschichte bis zur Wiedervereinigung. Die deutsche Zweistaatlichkeit im Geschichtsschulbuch Parteigründungen in der SBZ und in den Westzonen Französische Blicke auf die doppelte deutsche Staatsgründung Gründungsgeschichten. Eine Ausstellungsbegehung

Gründungsgeschichten Eine Ausstellungsbegehung

Elke Kimmel

/ 16 Minuten zu lesen

Die Ausstellung „Gründungsgeschichten“ nimmt die Staatsgründungen als Ausgangspunkt für 75 Berichte aus dem Alltag des Jahres 1949. Diese werden mittels Bildmontagen aus historischen und aktuellen Fotos visualisiert und erlauben so eine Zeitreise in die Gründerjahre.

Eine Ausstellung zum 75. Jahrestag der Gründung von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik, wie sie die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) 2024 unter dem Titel „Gründungsgeschichten“ in mehreren deutschen Städten zeigen wird, gerät schnell in Gefahr, zu staatstragend zu geraten. Die Verlockung, die Nachkriegsgeschichte als Vorgeschichte des späteren Erfolgs – zumindest des westdeutschen Modells – zu erzählen, ist groß. Eine solche Ausstellung würde wohl vor allem die in der Öffentlichkeit und in den Medien bekannten und besonders wirkungsmächtigen Muster und Bilder bestätigen.

Auch aus anderen Gründen trägt diese Herangehensweise nicht. So würde die DDR als Staat, der 1990 aufgehört hat zu existieren, nur eine kontrastierende Nebenrolle spielen. Und nicht „nur“ die DDR bliebe bei dieser Erzählung schnell auf der Strecke. Betroffen wären – gerade bei der für Ausstellungen üblichen und notwendig verknappenden Erzählweise – auch die Geschichten von gescheiterten Ideen und Projekten, von Außenseitern und Ausgegrenzten, die nicht in dieser Erfolgsgeschichte aufgehen. In einer solchen Darstellung gäbe es wenig Platz für Ereignisse, die nicht in den Rahmen der demokratischen Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik passen oder die dem antifaschistischen Gründungsmythos der DDR widersprechen. Gerade diese Geschichten tragen aber viel zum Verständnis der Gründungssituation bei – und auch dazu, zu verstehen, wie Deutschland heute ist. Ausgespart bliebe zudem die Frage nach der Vorgeschichte von Problemlagen und Krisen, mit denen sich das heutige vereinte Deutschland auseinanderzusetzen hat.

Realität, gestern und heute

Mindestens ebenso wichtig scheint, dass eine solche verkürzte und harmonisierende Herangehensweise auch den Realitäten des Jahres 1949 kaum gerecht würde. Die widersprüchlichen Anforderungen, die die Bewältigung des Nachkriegsalltags an die Menschen stellte, werden aus heutiger Sicht schnell zum nebensächlichen Hindernis auf dem Weg in ein gleichsam schon in Sichtweite befindliches, einigermaßen abgesichertes Dasein. Ein Beispiel: KZ-Überlebende konnten bei Kriegsende nicht wissen, dass sie ab 1948 in die USA oder nach Israel auswandern durften. Ohne das Wissen über eine bevorstehende Ausreise mussten sie es ertragen, über Jahre in einem Barackenlager zu leben – umgeben von einer Bevölkerung, die in den Jahren zuvor ihre Vernichtung vielleicht nicht aktiv unterstützt, aber doch zumindest stillschweigend hingenommen hatte. Rückblickend verkürzen sich die Jahre zu schnell zu Augenblicken – in der Gegenwart der Nachkriegsjahre waren sie dies nicht.

Selbstverständlich helfen historische Quellen, solche Verkürzungen und Simplifizierungen zu vermeiden, insbesondere Fotos und Zeugnisse von Mitlebenden, private Tagebücher und Aufzeichnungen oder Zeitungsberichte. Dennoch bleibt die Herausforderung, dass sich diese Quellen gegen die Wirkungsmacht der verbreiteten Erzählung behaupten können müssen.

Für eine Ausstellung ist die Nutzung von historischen Fotos naheliegend. Im Rahmen der „Gründungsgeschichten“ kommen 75 historische Fotos von Orten und Ereignissen zum Einsatz, die der Fotograf und Grafiker Alexander Kupsch mit einem aktuellen Foto verwoben hat, das möglichst aus identischem Blickwinkel aufgenommen wurde. Diese Montagen visualisieren, für die Betrachterinnen und Betrachter unmittelbar nachvollziehbar, den Schritt aus dem Heute in die Zeit um 1949. Die Gründungsgeschichten werden so unmittelbar mit der Gegenwart in Beziehung gesetzt. So kollidiert ein im Sommer 2023 aufgenommener Radfahrer in der Rostocker Innenstadt beinahe mit den Teilnehmern der Ostzonenrundfahrt von 1949. Die Bildmontagen machen neugierig auf die Geschichten, für die sie stehen.

Die erzählten Geschichten zeugen in mehrfacher Hinsicht von der Multiperspektivität des Ausstellungsprojekts. Diese zeigt sich sowohl in der Auswahl der Themen – neben Politik und Justiz sind hier Sport und Freizeit, Kultur und Kunst, Wirtschaft, Versorgung und Wohnen zu nennen – als auch in der regionalen Streuung der ausgewählten Geschichten. Ohne hier einen genauen Proporz anzustreben, werden Ost-, West-, Nord- und Süddeutschland gleichermaßen berücksichtigt. Große und kleinere Städte tauchen ebenso als Schauplätze auf wie kleinere Orte und ländliche Gemeinden. Die thematische wie regionale Streuung verstärkt idealerweise den beabsichtigten niedrigschwelligen Zugang zum Ausstellungsthema. Zwar stammen die Gründungsgeschichten tatsächlich ganz überwiegend aus dem Jahr 1949, für die Auswahl war jedoch entscheidend, dass sie über das eigentliche Ereignis hinausweisen. In vielen Fällen gibt es je eine ost- und eine westdeutsche Geschichte zu einem ähnlichen Thema, dies ist jedoch nicht immer so. Die Gründungsgeschichten sind nicht hierarchisch gegliedert, es gibt keine zwingende Ausstellungserzählung. Lediglich die Eingangstafeln sind festgelegt: Sie beschreiben die Herangehensweise des Ausstellungsteams und den zeithistorischen Kontext der Gründungsgeschichten.

Deutlich werden soll insbesondere die Vielfalt der Lebensverhältnisse in der Nachkriegszeit. Im Zentrum stehen deshalb weniger die großen politischen Ereignisse als vielmehr der Alltag der Deutschen in den Besatzungszonen, aus denen zwei deutsche Staaten werden sollten. Dass die große Politik dennoch an verschiedenen Stellen diesen Alltag prägte und dessen Rahmenbedingungen schuf, versteht sich indes von selbst. Die Ausstellung aber unternimmt den Versuch, den Menschen und ihrer Lebenswelt in jener Zeit näher zu kommen, ihre Probleme und Prägungen besser zu verstehen.

Im Folgenden sollen einzelne Gründungsgeschichten illustrieren, welche inhaltlichen Schwerpunkte die Ausstellung setzt. Ich fasse hier verschiedene Geschichten zusammen, die in der Ausstellung schon deshalb verstreuter auftreten, weil diese nicht thematisch strukturiert ist, sondern topografisch. Die Ausstellung selbst wird durch Zusatzmaterialien ergänzt, die über QR-Codes auf den Ausstellungstafeln abrufbar sind. Zudem wird die bpb auf ihrer Website zehn ausgewählte Orte (aus den 75 in der Ausstellung gezeigten) als 360-Grad-Panoramen zugänglich machen. In diesen Panoramen sind Materialien wie historische Fotos, Dokumente, Audio- und Videodateien zur weiteren Vertiefung verlinkt.

Staatsgründungen

Nach langen Verhandlungen verabschiedet der aus Delegierten der westlichen Besatzungszonen bestehende Parlamentarische Rat in Bonn mit dem Grundgesetz im Mai 1949 eine Verfassung, die schon im Vorwort ihren provisorischen Charakter hervorhebt. Ebenso provisorisch soll Bonn Bundeshauptstadt sein. Wenige Tage später findet im sowjetischen Sektor von Berlin, im Admiralspalast an der Friedrichstraße, der Dritte „Volkskongress“ statt, mit dem die SED ihren gesamtdeutschen Anspruch bekräftigen will. Auf den Wahlzetteln für dieses Gremium steht: „Ich bin für die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag. Ich stimme darum für die nachstehende Kandidatenliste zum Dritten Deutschen Volkskongreß.“ Trotz des öffentlich ausgeübten Drucks stimmen viele Menschen in der SBZ bei dieser „Wahl“ mit „Nein“ – allzu deutlich scheint ihnen, dass es weder um Frieden noch um Freiheit geht, sondern darum, die Macht der Sozialistischen Einheitspartei zu festigen. Der Volkskongress betrachtet sich nichtsdestotrotz als legitime Vertretung und bestimmt die Mitglieder des Volksrats, der am 7. Oktober 1949 erstmals als Volkskammer tagen wird.

In Deutschland entstehen zwei Staaten mit unterschiedlichen Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystemen, die die Lebensbedingungen und den Alltag ihrer Bürgerinnen und Bürger für die kommenden Jahrzehnte maßgeblich prägen werden. Besonders massiv macht sich die Teilung Deutschlands im Alltag der Menschen bemerkbar, die unmittelbar an der Grenze zwischen den Staaten wohnen: in Berlin. Selbst wenn die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin noch weitgehend problemlos überschritten werden kann, gelten in der Stadt ab Juni 1948 zwei verschiedene Währungen. Gerade für Menschen, die im Ostteil arbeiten und im Westteil leben, bedeutet dies täglichen Aufwand. Andernorts, im Dorf Mödlareuth etwa, wird die Grenze noch spürbarer – das Dorf liegt teils in Thüringen, teils in Bayern. Schon im Juni 1950 kommt es hier bei der Flucht eines sächsischen Unternehmers zu einer wilden Verfolgungsjagd. Aber auch dort, wo Grenzen weit weg sind, nehmen die Unterschiede zwischen der DDR und der Bundesrepublik in den verschiedenen Lebensbereichen zu – gleichgültig, ob im Sport, in der Kultur, in der juristischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit oder beim Kauf von Lebensmitteln.

Umgang mit den Orten der Verbrechen

Sowohl in den westlichen als auch in der sowjetischen Besatzungszone befreiten die alliierten Truppen NS-Konzentrationslager (KZ) und sahen sich anschließend mit der Aufgabe konfrontiert, mit diesen baulichen Hinterlassenschaften des NS-Regimes umzugehen. Das Gelände des ehemaligen KZ Dachau nutzt die amerikanische Besatzungsmacht zunächst, um hier Angehörige der SS und andere hochrangige Nationalsozialisten zu internieren. Insgesamt werden hier 1672 Angeklagte vor Gericht gestellt und 426 von ihnen zum Tode verurteilt. Anschließend soll das Areal wieder in deutsche Verwaltung übergeben werden, der Bayerische Landtag erörtert eine geeignete Nachnutzung. Bereits am 16. Januar 1948 stellt der CSU-Abgeordnete Hans Hagn im Landtag einen Antrag „betreffend Freimachung von Lagern zur Benützung als Arbeitslager für asoziale Elemente“. Das ehemalige KZ Dachau könne man nutzen, um dort „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ zu „erziehen“. Die oppositionellen Sozialdemokraten unterstützen diesen Antrag. Letztlich scheitert die Umsetzung des Vorhabens daran, dass die frei gewordenen Baracken im ehemaligen KZ zur Unterbringung der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße benötigt werden. Die Lagerstruktur bleibt bis Ende der 1950er Jahre unangetastet, dann sollen sämtliche Baracken abgerissen werden, um der neuen Wohnsiedlung Dachau-Ost Platz zu machen. Nur Proteste aus dem Ausland verhindern, dass ein erster Gedenkort am ehemaligen Krematoriumsgebäude im Zuge der Planungen beseitigt wird.

Im Juli 1949 erlangt die Münchner Möhlstraße traurige Berühmtheit. Hier haben sich viele Displaced Persons (DP) angesiedelt – Menschen, die die Vernichtungslager der Nationalsozialisten häufig mit knapper Not überlebt haben und die nun auf eine Ausreisemöglichkeit nach Palästina oder in die USA warten. Von der Besatzungsmacht werden sie bevorzugt mit Wohnraum und Lebensmitteln versorgt. Gerade der Zugang zu begehrten und knappen Waren erregt den Neid der Nachbarn – zumal einige der in der Möhlstraße abgewickelten Geschäfte nicht legal sind. Geschäftsleute aus der Umgebung behaupten, ihre Existenz sei durch den Handel in der Straße gefährdet. Am 1. Juli 1949 umstellen etwa 500 Polizisten das Gebiet und führen eine Razzia durch. Dabei gehen sie rabiat gegen die DP vor – Betroffene und Beobachter fühlen sich an NS-Methoden erinnert. Es ist nicht das erste und auch nicht das einzige Mal, dass die deutsche Polizei gegenüber DP mit völlig überzogener Härte auftritt. Bereits im Frühjahr 1946 ist in Stuttgart im Kontext einer Razzia gegen Schwarzmarkthändler bei einer Schießerei ein KZ-Überlebender getötet worden. Eine Folge dieses ersten Übergriffs ist, dass es der deutschen Polizei bis 1949 grundsätzlich verboten ist, gegen DP vorzugehen.

Gemein ist diesen Vorfällen, dass die geschützten Wohnbereiche der DP als Ausgangspunkt von Kriminalität gesehen werden. Im Bayerischen Landtag fordert nicht nur der SPD-Abgeordnete Arno Behrisch eine „Bereinigung“ der Zustände in den DP-Siedlungen, weil unter ihnen die angrenzende Wohnbevölkerung zu leiden habe und sie dazu geeignet seien, dem Antisemitismus in der Bevölkerung Vorschub zu leisten.

Umgang mit NS-Konzentrationslagern in der SBZ

Die ehemaligen NS-Konzentrationslager Sachsenhausen (Oranienburg), Ravensbrück (bei Fürstenberg) und Buchenwald (bei Weimar) befinden sich auf dem Gebiet der SBZ. Die Lager und das Gedenken an deren Opfer haben hier einen anderen Stellenwert als in der späteren Bundesrepublik: Dem antifaschistischen Gründungsmythos zufolge ist es gerade der kommunistische Widerstand im Nationalsozialismus, der das Fundament für die DDR legte.

Zentral für das Gedenken wird der Ettersberg oberhalb des KZ Buchenwald, in dem im August 1944 der seit 1933 inhaftierte KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann umgebracht wurde. Außerdem haben sich hier 1945 die politischen Häftlinge zur Selbstbefreiung des Lagers organisiert. Einem würdigen Gedenken an diesem Ort steht in den Augen der Verantwortlichen der Anfang des 19. Jahrhunderts errichtete Bismarckturm auf dem Ettersberg entgegen: Er wird im Sommer 1949 gleichsam über Nacht beseitigt. Wenig später wird mit dem Bau der monumentalen Gedenkstätte begonnen.

Auch in Sachsenhausen entsteht bis Mitte der 1960er Jahre eine Mahn- und Gedenkstätte. Direkt nach 1945 wird ein Teil des Lagers zur Internierung politisch missliebiger Personen genutzt: Zehntausende NS-belastete Personen werden hier inhaftiert, aber auch Zwölfjährige, die man verdächtigt, als „Werwölfe“ aktiv zu sein. Hinzu kommen Tausende von Menschen, die aus anderen Gründen in Konflikt mit der Sowjetischen Militäradministration geraten sind. Viele dieser Menschen werden die Lagerhaft nicht überleben, denn in den Baracken herrscht qualvolle Enge, die Versorgung ist mangelhaft, die hygienischen Bedingungen ebenfalls.

Auch nach der Auflösung des Speziallagers Sachsenhausen 1949 werden längst nicht alle Inhaftierten freigelassen – viele Menschen werden von hier aus in Lager in der Sowjetunion verschleppt, weitere werden in den DDR-Strafvollzug übergeben.

Geschichte vor Gericht

1949 ist das Jahr, in dem der letzte große Nürnberger Prozess seinen Abschluss findet, der „Wilhelmstraßenprozess“. Zentral ist die Person des Hauptangeklagten Ernst von Weizsäcker, der bis 1943 Staatssekretär unter Außenminister Joachim von Ribbentrop war. Mit Weizsäcker stehen weitere Angehörige der Ministerialbürokratie vor Gericht, die qua Amt an den NS-Verbrechen beteiligt waren, aber auch hochrangige Nationalsozialisten. Schon bei Prozessbeginn erklären sich alle Angeklagten für „nicht schuldig“ oder behaupten gar: „Ich bin unschuldig.“ Das Gericht kommt zu einem anderen Urteil. Im April 1949 werden Strafen von bis zu 25 Jahren verkündet; Ernst von Weizsäcker wird zu sieben Jahren Haft verurteilt. Gerade dieses Urteil stößt in der westdeutschen Öffentlichkeit auf Protest. Weizsäcker wird vor allem als Angehöriger des Widerstands gesehen, der lediglich im Amt geblieben sei, um „Schlimmeres“ zu verhindern. Die „Zeit“ erklärt, das Gericht habe gar nicht fair urteilen können: „Wer die Luft einer Diktatur nicht geatmet hat, wem das Klima des totalen Staates kein Begriff ist, der wird all dies schwer begreifen können.“

Kontrovers ist auch ein Verfahren, das vor dem Hamburger Landgericht verhandelt wird. Angeklagt ist der Spielfilmregisseur Veit Harlan, der im Auftrag des NS-Propagandaministeriums unter anderem den antisemitischen Film „Jud Süß“ gedreht hat. Harlan selbst bezeichnet sich wiederholt als Philosemiten und sieht sich zu Unrecht angeklagt. Er behauptet, Propagandaminister Joseph Goebbels habe ihn faktisch dazu gezwungen, den Film zu drehen. Als Zeugen geladene Regisseure widersprechen dieser Darstellung: Es habe durchaus die Möglichkeit gegeben, sich solchen Aufgaben zu entziehen. Dennoch endet der Prozess mit dem Freispruch Harlans, der daraufhin von begeisterten Anhängerinnen und Anhängern vor dem Gericht empfangen wird. Angeblich sei der Film, so hält es der Vorsitzende Richter fest, weniger antisemitisch als die Werbung für diesen im Vorfeld. Die Aussagen der Belastungszeugen werden als nicht stichhaltig abgetan.

Kultur im Kalten Krieg

Auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ gibt es den Wunsch, sich auf die durch den Nationalsozialismus unbeschädigten deutschen Kulturtraditionen zu beziehen. Dies wird besonders 1949 deutlich, anlässlich der Feierlichkeiten zu Johann Wolfgang von Goethes 200. Geburtstag. In Frankfurt am Main wie in Weimar bemühen sich die Verantwortlichen, den in Kalifornien lebenden Literaturnobelpreisträger Thomas Mann für einen Besuch zu gewinnen und locken mit hohen Auszeichnungen. Schwierig ist daran vor allem, dass beide Seiten nicht nur Interesse an einem Besuch des Emigranten haben, sondern dass ihnen zudem daran gelegen ist, dass die jeweils andere Seite eine Absage erhält. Thomas Mann lässt sich darauf nicht ein und entscheidet sich, zunächst in die Frankfurter Paulskirche zu gehen und anschließend nach Weimar weiterzureisen. Zudem hält er in beiden Städten dieselbe Laudatio. Vor allem in der Bundesrepublik wird er für seine uneindeutige Haltung scharf kritisiert – in der SBZ gibt es solche Kritik nicht. Beiden Seiten geht es nicht nur darum, wen Thomas Mann durch seinen Besuch auszeichnet – es geht vor allem darum, wem Goethe und die deutsche Klassik „gehören“.

Vergnügen und Freizeit

Es ist nicht der erste Rosenmontagszug nach 1939, aber es ist der erste offiziell genehmigte, der sich 1949 durch die Kölner Innenstadt bewegt. Köln als Karnevalshochburg steht hier beispielhaft für viele andere Orte in Deutschland, an denen erstmals wieder „richtig“ gefeiert wird. Unter dem Motto des Festzuges „Mer sinn widder do und dunn, wat mer künne“ wird etwa die Besatzung Deutschlands kritisiert – ohne indes die Gründe für diese zu nennen. Die gerade auch in Köln noch sichtbaren Trümmer werden bestenfalls mit „dem Krieg“ erklärt. So führt der Karnevalsprinz aus: „Angesichts der Wunden, die der schreckliche Krieg unserer geliebten Mutter Colonia zugefügt hat, haben wir ein Recht darauf, die Menschen für einige Tage ihre Sorgen vergessen zu machen und ihnen Freude und Frohsinn zu spenden.“ Kritik am „närrischen Treiben“ von deutscher Seite fehlt fast völlig, nur vereinzelt wird auf die immer noch verbreitet herrschende Not hingewiesen. Bemerkenswert scheint zudem, dass die Fastnachtsfeiern 1949 keineswegs eine westdeutsche Angelegenheit sind. Die ostdeutsche Wochenschau „Der Augenzeuge“ berichtet im Frühjahr 1949 umfassend von den ausgelassenen Festen in Potsdam und andernorts. Im Unterschied zu den „Bällen“ im Westen werden die Kostümfeste in der sowjetischen Besatzungszone von der Freien Deutschen Jugend (FDJ) organisiert. Die Kostümierungen aber sind fast identisch: Man „geht“ als „Indianer“ oder als „Türke“.

Sportgeschichten

Anfang September 1949 startet die Ostzonenrundfahrt am Brandenburger Tor. 60 Radrennfahrer durchqueren zunächst Berlin-Wedding, das zum französischen Sektor gehört. Von dort aus geht es bis nach Rostock, anschließend in mehreren Etappen über Thüringen zurück bis nach Berlin-Treptow. Der organisatorische Aufwand ist enorm, und das „Neue Deutschland“ ist stolz darauf, dass er ohne Weiteres bewältigt wurde. Bezeichnend sind die Preise, die der Sieger in der Gesamtwertung entgegennehmen kann: einen Maßanzug, eine Kiste Sekt, eine Ledertasche, einen Fotoapparat, eine Goethe-Ausgabe in drei Bänden, ein Radio, einen Trainingsanzug, ein Paar Rennschuhe und ein Trikot. Es gehört zum Selbstbild des DDR-Leistungssports dieser Jahre, dass den Gewinnern eher bescheidene Prämien winken. Der Sport soll seine Bedeutung daraus ziehen, dass er die Gesundheit der Werktätigen fördert und ihnen zusätzlich Freizeitvergnügen bietet. Das gilt besonders für die populären Sportarten Fußball und Boxen.

Parallel dazu werden neue Strukturen aufgebaut. An die Stelle der frei organisierten Vereine treten Betriebssportgemeinschaften (BSG), die von den volkseigenen Betrieben finanziert werden, die auch für die erforderliche Infrastruktur aufkommen und die Spieler gegebenenfalls freistellen. Ab Sommer 1949 wird jährlich um den Pokal des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB-Pokal) gespielt. Dennoch bleiben der Vergleich und der Wettkampf mit den Vereinen und Sportlern aus den Westzonen und der Bundesrepublik Ereignisse, denen besondere Bedeutung zukommt. Das wird etwa 1949 deutlich: Für den August haben der in der SBZ verantwortliche Deutsche Sportausschuss (DSA) und der bundesrepublikanische Deutsche Fußballbund (DFB) eine Begegnung zwischen dem westdeutschen Meister und dem Ostzonenmeister geplant. Im Juli 1949 hatte sich der VfR Mannheim als Überraschungssieger im Stuttgarter Neckarstadion vor 80.000 Zuschauerinnen und Zuschauern gegen Borussia Dortmund durchgesetzt. Sehr zum Ärger der ostdeutschen Seite wird die geplante Begegnung von westdeutscher Seite wegen terminlicher Probleme abgesagt. Weder Mannheim noch ersatzweise der Vizemeister Dortmund können zum angesetzten Termin nach Chemnitz anreisen. Eine grobe „Verletzung des sportlichen Anstands“ sei dies, schimpft die „BZ am Abend“. Ersatzweise findet in Halle (Saale) ein Spiel zwischen dem Gesamt-Berliner Meister BSV 92 aus Berlin-Wilmersdorf und der Zentralsportgemeinschaft Union Halle statt. Das Berliner Team setzt sich durch – erstaunlich ist aber vor allem, dass diese eigentlich bedeutungslose Ost-West-Begegnung in der ostdeutschen Presse mehr Aufmerksamkeit erhält als das erstmals ausgetragene Endspiel um den FDGB-Pokal.

75 Gründungsgeschichten – 75 deutsche Blickwinkel

Von den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR gibt es seit Langem verbreitete Bilder. Trümmerfrauen gehören ebenso dazu wie traumatisierte Kriegsheimkehrer, junge Frauen, die mit Besatzungssoldaten flirten, Kinder, die in Ruinen spielen und Bürokraten, die ihr Tun im „Dritten Reich“ verschweigen und ihren beruflichen Aufstieg fortsetzen. All diese Protagonistinnen und Protagonisten hat es zweifellos gegeben – und viele von ihnen finden sich auch in der Ausstellung der bpb wieder. Gezeigt werden soll aber auch, dass es darüber hinaus noch viele andere Geschichten gegeben hat – und dass diese Geschichten für die jetzige Gestalt Deutschlands vielleicht weniger wichtig, aber ganz sicher nicht unbedeutend waren. Die Ausstellung soll Lust darauf machen, sich intensiver mit diesen Gründungsgeschichten auseinanderzusetzen. Sie versteht sich insofern nicht als abgeschlossenes Projekt, als klar ist, dass es noch viele andere Geschichten gäbe, die man ebenfalls erzählen könnte – und die man auch erzählen sollte. Ab Mai 2024 haben Interessierte die Möglichkeit, sich zunächst in Berlin, Leipzig, Bonn und Görlitz selbst davon zu überzeugen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe etwa die Serie „Unsere wunderbaren Jahre“ (ARD 2020/2023), den Zweiteiler „Die Himmelsleiter – Sehnsucht nach morgen“ (ARD 2015) oder auch den Spielfilm „Das Wunder von Bern“ (D 2003). Vgl. auch Björn Bergold, Wie Stories zu History werden. Zur Authentizität von Zeitgeschichte im Spielfilm, Bielefeld 2019.

  2. Vgl. z.B. Hannah Arendt, Besuch in Deutschland, in: Zur Zeit. Politische Essays, hrsg. von Marie Luise Knott, Berlin (West) 1986, S. 43–70; Max Frisch, Tagebuch 1946–1949, Berlin (Ost) 1987.

  3. Abrufbar unter Externer Link: http://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/plakat-stimmzettel-mecklenburg-deutscher-volkskongress.

  4. Vgl. Protokoll der 45. Sitzung des Bayerischen Landtags, 16. Januar 1948, S. 587ff. Online verfügbar unter Externer Link: http://www.bayern.landtag.de/webangebot3/views/protokolle/protokollsuche.xhtml.

  5. Auch die Gewerkschaften protestieren nicht etwa gegen den Vorschlag – im Gegenteil: Bei einer gut besuchten Gewerkschaftskundgebung in München steht auf vielen Schildern „Nur wer arbeitet, soll auch essen“; vgl. Benjamin Bauer, Arbeitszwang gegen „Asoziale“? Kontinuitäten des KZ Dachau in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Externer Link: http://www.idz-jena.de/wsddet/wsd7-15. Displaced Persons wurden zudem häufig als „Gruppen von Ausländern“ oder „arbeitsscheue Elemente“ bezeichnet; vgl. Juliane Wetzel, „Mir szeinen doh“. München und Umgebung als Zuflucht von Überlebenden des Holocaust 1945–1948, in: Martin Broszat et al. (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. 327–364, hier S. 355.

  6. Vgl. Lilly Maier, Der Schwarzmarkt in der Möhlstraße und die Münchner Polizei. Eine Untersuchung im Spiegel der Akten der Polizeidirektion München, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1/2018, S. 35–51.

  7. Vgl. Bayerischer Landtag (Anm. 4). Zur Wahrnehmung von DP in der nichtjüdischen Bevölkerung vgl. auch Thorsten Eitz/Georg Stötzel, Wörterbuch der „Vergangenheitsbewältigung“. Die NS-Sprache im öffentlichen Sprachgebrauch, Bd. 2, Hildesheim u.a. 2009, S. 94–107.

  8. Vgl. Herfried Münkler, Antifaschismus und antifaschistischer Widerstand als politischer Gründungsmythos der DDR, in: APuZ 45/1998, S. 16–29.

  9. Vgl. Ulrich Peters, Wer die Hoffnung verliert, hat alles verloren. Kommunistischer Widerstand in Buchenwald, Köln 2003.

  10. Vgl. Peter Reif-Spirek/Bodo Ritscher (Hrsg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Berlin 1999; Julia Landau/Enrico Heitzer (Hrsg.), Zwischen Entnazifizierung und Besatzungspolitik. Die sowjetischen Speziallager 1945–1950 im Kontext, Göttingen 2021.

  11. Vgl. Anke Geier, Vom Speziallager in den Knast. SMT-Verurteilte aus Sachsenhausen in der Strafvollzugsanstalt Untermaßfeld, in: Gerbergasse 18 1/2020, S. 13–18.

  12. Vgl. die Filmaufnahmen zum Prozessbeginn am 20. Dezember 1947, online zugänglich unter Externer Link: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn1002438.

  13. Vgl. Markus Urban, Kollektivschuld durch die Hintertür? Die Wahrnehmung der NMT in der westlichen Öffentlichkeit, 1946–1951, in: Kim C. Priemel/Alexa Stiller (Hrsg.), NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013, S. 684–718.

  14. Um die weiße Weste. Vor dem Urteil im Weizsäcker-Prozeß, in: Die Zeit, 6.1.1949.

  15. Vgl. Frank Liebert, Vom Karrierestreben zum „Nötigungsnotstand“. „Jud Süß“, Veit Harlan und die deutsche Nachkriegsgesellschaft (1945–1950), in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2005, S. 111–146.

  16. Vgl. Leserbriefe in der Rubrik „Das freie Wort“, in: Badische Neueste Nachrichten, 24.5.1949, S. 2; KP-Propaganda um Thomas Mann, in: Badische Neueste Nachrichten, 28.7.1949, S. 1. Vgl. auch Frisch (Anm. 2), S. 356.

  17. So etwa in der sozialdemokratischen Zeitung „Das Volk“, 24.2.1949: „Man sollte einmal darüber nachdenken“.

  18. Inhaltsangabe unter Externer Link: http://www.defa-stiftung.de/filme/filme-suchen/der-augenzeuge-194910.

  19. Vgl. Die letzte Etappe in der Sportschule Grünau, in: Berliner Zeitung, 20.9.1949, S. 4.

  20. Vgl. Der Weg der Wismut-Elf bis zum Fußballendspiel 1953, in: Neues Deutschland, 1.7.1953, S. 6.

  21. Kampf der Meister in Halle, in: BZ am Abend, 31.8.1949, S. 4.

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ist promovierte Historikerin, Autorin und Kuratorin. Zusammen mit dem Grafiker und Fotografen Alexander Kupsch und Anja Linnekugel (bpb) hat sie die Ausstellung "Gründungsgeschichten" entwickelt und wissenschaftlich begleitet.