Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Das Ende der 9/11-Ära | 9/11 | bpb.de

9/11 Editorial 9/11 Revisited. Überlegungen zu zeitgenössischen Deutungen des 11. September 2001 - Essay 9/11 und das Ende "des Westens" Normalisierung des Ausnahmezustands? Freiheit und Sicherheit in liberalen Demokratien nach 9/11 Islamistischer Terrorismus seit 9/11. Ausprägungen, Abwehr und Aussichten Das Ende der 9/11-Ära. Zur Zukunft der US-amerikanischen Außenpolitik Wie ewig ist der 12. September? 9/11 und die Beziehungen zwischen den USA und Iran Afghanistan 2001 bis 2021. Zur Entwicklung der Taleban und al-Qaeda seit 9/11

Das Ende der 9/11-Ära Zur Zukunft der US-amerikanischen Außenpolitik

Max Bergmann James Lamond

/ 20 Minuten zu lesen

In den zurückliegenden zehn Jahren ging die 9/11-Ära langsam zu Ende. Die Ereignisse des 11. September vor zwei Jahrzehnten überschatteten die USA und insbesondere die amerikanische Außenpolitik lange. Im politischen Bewusstsein und Diskurs ist der Terrorismus immer mehr in den Hintergrund getreten, doch die Ereignisse des vergangenen Jahres zogen einen klaren Schlussstrich unter diese Ära. Die Proteste nach dem Tod von George Floyd und die Bemühungen, den systemischen Rassismus zu bekämpfen, Covid-19 und die aus der Pandemie resultierende Wirtschaftskrise, die durch die Trump-Regierung verkörperte Krise der Demokratie, all das hat für die meisten Amerikaner:innen nun mehr Gewicht als die Furcht vor Terroranschlägen. Im Wahlkampf 2020 sind Schlagworte wie "Terrorismus", "al-Qaida" und "Islamischer Staat" (IS) kaum gefallen. Das steht in krassem Gegensatz zu allen vorherigen Präsidentschaftswahlen seit dem Jahr 2000. Die USA haben soeben eine Wahl erlebt, die man als Post-9/11-Wahl bezeichnen könnte. Mit ihr ist die 9/11-Ära zu Ende gegangen. Jetzt stellt sich die Frage: Was kommt als Nächstes?

Einen Zeitabschnitt als eine bestimmte "Ära" zu beschreiben, dient in der Geschichtswissenschaft als Werkzeug, um die Vergangenheit zu begreifen. Der Historiker Eric Hobsbawm prägte bekanntermaßen den Begriff des "langen 19. Jahrhunderts", das erst 1914 ein Ende fand, und des "kurzen 20. Jahrhunderts" – es endete bereits 1989. Eine solche Epocheneinteilung wird immer subjektiv und gewissermaßen ungenau sein. Die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts als 9/11-Ära zu bezeichnen, wird manchen als abwegig erscheinen. Schließlich gab es auch den Aufstieg Chinas, die technologische Revolution durch die explosionsartige Entwicklung von Internet und Mobilkommunikation, und eine bedeutende globale Finanzkrise. Viele der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen unserer Gegenwart – insbesondere der extreme Grabenkampf zwischen den beiden Parteien in Washington und die Dominanz neoliberaler ökonomischer Positionen – nahmen ihren Anfang schon lange vor dem 11. September 2001. Doch für die Vereinigten Staaten war 9/11 ein prägender Einschnitt. Es war ein klarer Dreh- und Angelpunkt, der die Zeit nach dem Kalten Krieg endgültig besiegelte, in der sich die USA als die alleinige, unangreifbare Supermacht der Welt gewähnt hatten. Zugleich markierte dieser Tag den Beginn einer neuen Periode, gekennzeichnet durch eine Politik von Angst und Konflikt.

Die USA sehen sich heute mit den Nachwirkungen der 9/11-Ära konfrontiert, da diese Ära letztlich eine Niederlage war. Amerika hat seine Kriege nicht gewonnen; das Land befindet sich auf dem Rückzug und ist nach wie vor im Begriff, sich aus diesen bewaffneten Konflikten zurückzuziehen. In Trumps Wahlkampfslogan kann man ein Eingeständnis dieser Niederlage erkennen. "Make America Great Again" impliziert, dass Amerika im Augenblick nicht "groß" oder "großartig" ist. In der Formulierung des deutschen Historikers Peter Bergmann besteht eine Niederlage aus "Geschichte, die schmerzt" und eine bleibende Narbe in der Psyche einer Nation hinterlässt.

Widersprüchlichkeiten der 9/11-Ära

Die durch den 11. September eingeläutete Ära war von Widersprüchen geprägt. Es kam zu einer enormen Ausweitung der Staatsmacht im Bereich Militär, Polizei und in Bezug auf seine nachrichtendienstlichen Möglichkeiten. Doch gleichzeitig brachte sie dem Staat eine ungeheure Schwächung ein. Die Handlungsfähigkeit der Regierung, Infrastruktur aufzubauen oder das Wohl der Bevölkerung zu fördern, wurde ausgehöhlt. Die Bush-Regierung verfolgte eine rechtsgerichtete Agenda und die damit verbundenen Steuersenkungen beschnitten die Handlungsmöglichkeiten des Staates, wie sich bei der katastrophalen Reaktion auf den Hurrikan "Katrina" zeigen sollte. Die amerikanische Bevölkerung stellte sich hinter die Truppen, doch das Land polarisierte sich immer mehr. Der "Kampf für die Freiheit" im Ausland befeuerte eine erstarkende autoritäre Gesinnung, die in der amerikanischen Rechten stets präsent war. Den Anfang machte die Bush-Regierung mit dem Einsatz von staatlicher Folter, unbefristeter Haft und Massenüberwachung; dass die Trump-Regierung das Justizministerium, die Geheimdienstgemeinschaft und das Ministerium für Innere Sicherheit als politische Hebel einsetzte, war schließlich der Gipfel.

Nach dem 11. September gerieten sämtliche außenpolitische Themen gegenüber der Terrorbekämpfung ins Hintertreffen. An dieser Frage wurde der Generationskampf dieser Zeit ausgetragen. Doch anders als bei früheren Kämpfen erging kein Aufruf an das amerikanische Volk als Ganzes, Opfer zu bringen. Der Zweite Weltkrieg bewirkte in den USA eine geschlossene landesweite Reaktion. Fabriken wurden umgenutzt, Kinder pflanzten Siegesgärten, und Lebensmittel, Produkte des täglichen Bedarfs und sonstige Güter wurden für alle Amerikaner:innen rationiert. Während des Kalten Krieges führten massive öffentliche Investitionen in Bildung, Infrastruktur, Wissenschaft und Technologie dazu, dass ein Mann auf dem Mond landete und das Internet erfunden wurde.

Der "Krieg gegen den Terror" erforderte im Gegensatz zum Kalten Krieg keine konzertierte nationale Anstrengung. Stattdessen wurden die Steuern gesenkt. Nach dem 11. September sagte man den Amerikaner:innen, sie sollten weiter munter einkaufen und die Wirtschaft am Laufen halten. Es gab keinen Appell an die amerikanische Bevölkerung, den Öl- und Gasverbrauch zu senken, um die Abhängigkeit des Landes von ausländischem Öl zu brechen, oder gar eine große grüne Initiative, um den Übergang zu saubereren Energiequellen zu forcieren. Stattdessen wurden die Amerikaner:innen regelrecht dazu aufgefordert, ihr Leben so weiter zu leben wie bisher. Die Öffentlichkeit wiegte sich in dem Glauben, die Regierung würde dank des massiv ausgebauten nationalen Sicherheitsapparates imstande sein, tatsächlich einen umfassenden Schutz zu gewährleisten.

Der Krieg gegen den Terror wurde in Washington durchaus als tragfähig empfunden. Die finanziellen Kosten waren zwar hoch, aber vertretbar. Und der Tribut an Menschenleben, katastrophalen Verletzungen und weniger offensichtlichen Schäden wie Hirntraumata und posttraumatischem Stress wurde nicht von der gesamten Bevölkerung getragen, wie im Vietnamkrieg aufgrund des allgemeinen Wehrdienstes, sondern nur von Amerikas rein freiwilliger Truppe, die nie dafür konzipiert war, jahrzehntelange Konflikte auszutragen. Als sich die Kriege hinzogen und die Zahl der Opfer zunahm, hielten die amerikanischen Politiker große Reden auf die Opfer, während den unterfinanzierten Veteranenkrankenhäusern die Mittel fehlten, um ihren Aufgaben nachzukommen.

Obwohl die Last der 9/11-Kriege von den US-Soldaten und ihren Familien allein geschultert wurde, zahlten doch alle Amerikaner:innen auf andere Art und Weise einen Preis. Sie opferten diverse bürgerliche Freiheiten und Grundrechte, sie hießen das Abhören ohne Gerichtsbeschluss gut und ließen in ihrem Namen schreckliche Foltermethoden wie das Waterboarding zu. Das Personal, das mit der Terrorabwehr betraut war, war über jeden Vorwurf erhaben.

Beim Ausbruch der Covid-19-Pandemie Anfang 2020 suchte man den amerikanischen Staat vergeblich. Nicht nur die Inkompetenz und Nachlässigkeit von Donald Trump waren daran schuld, sondern auch ein Jahrzehnt der Austerität sowie die vorausgegangenen jahrzehntelangen Anstrengungen der politischen Rechten, dem Staat die finanziellen Mittel zu streichen. Dadurch war die amerikanische Regierung außerstande, auf die Krise angemessen zu reagieren.

Die US-Gesundheitsbehörde, die gefeierten Centers for Disease Control, verpfuschte die erste Testreihe, die Arbeitsämter hatten Schwierigkeiten, Leistungen zu erbringen, und gleichzeitig wuchsen die Schlangen vor den food banks, die Lebensmittel ausgeben. Amerikas profitorientiertes Gesundheitssystem, in dem Gewinn und Kosteneffizienz an erster Stelle stehen, verfügte nicht über die ausreichenden Lagerbestände an entscheidenden Versorgungsgütern. Die Mitarbeiter:innen des Gesundheitswesens wurden mit behelfsmäßiger und selbstgemachter Schutzausrüstung ausgestattet, wobei man sich an die Bilder von amerikanischen Streitkräften in den ersten Jahren des Irak-Krieges erinnert fühlte, die notdürftige Metallplatten auf ihre ungepanzerten Geländewagen aufschraubten. Im ganzen Land sieht man jetzt Leerstand und "Zu vermieten"-Schilder entlang der Hauptstraßen. Und trotz alledem hat das Leben an der Wall Street nicht einen Schlag lang ausgesetzt. "Wir leben in einem gescheiterten Staat", schrieb der Journalist George Packer in "The Atlantic" – all das kann als Nachwirkung der 9/11-Ära gewertet werden.

Erneute Auseinandersetzung mit Rassismus

Die USA haben die enge nationale Fokussierung auf Terrorismus, welches das bestimmende politische Merkmal der 9/11-Ära gewesen ist, hinter sich gelassen. Diese Verschiebung ist vielleicht am deutlichsten an dem landesweiten Echo auf die Ermordung von George Floyd und an der aktuellen Wahrnehmung der Polizeiarbeit und der Ungerechtigkeit zwischen Bevölkerungsgruppen im Land festzumachen.

Vor dem 11. September waren Polizeiarbeit und ethnische Spannungen in den USA ein zentrales Thema auf nationaler Ebene. Das Ende des Kalten Krieges führte in Amerika zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit systemischem Rassismus. Die auf Video festgehaltene Gewalt gegen Rodney King durch Polizeibeamte in Los Angeles 1991 und der darauffolgende Freispruch für die beteiligten Beamten lösten in L.A. Unruhen aus. Der Erfolg von Musikern wie NWA und Ice-T, die Polizeigewalt auf eine neue Art und Weise und für ein neues Publikum thematisierten, rückte das Thema in die Aufmerksamkeit nicht nur der Politik, sondern auch der Popkultur. Der Wirbel um den Prozess gegen OJ Simpson brachte Fragen der Beziehungen zwischen Polizei und Minderheiten in den kulturellen Mainstream. Eine Reihe brutaler Schießereien, an denen Polizisten beteiligt waren, darunter der Tod von Amadou Diallo, auf den die Polizeibeamten 41 Mal geschossen hatten, als er beim Betreten seines eigenen Hauses nach seiner Brieftasche griff, zwangen die USA zu einer Hinterfragung der Machtfülle und Waffen, die der Polizei zur Verfügung standen.

Doch nach 9/11 verflüchtigte sich diese kritische Auseinandersetzung. Polizisten galten nun als "Ersthelfer", die sich mutig den Flammen gestellt hatten. Ähnlich wie die Angestellten des Gesundheitswesens heute wurden sie in den Himmel gelobt. Bei seinem Eröffnungswurf während der World Series, dem Baseball-Finale, trug George W. Bush eine NYPD-Windjacke. Die Band "The Strokes" strich einen Song über Diallo, der vor dem 11. September entstanden war, aus dem Album, das ihnen den Durchbruch verschafft hatte, weil er die Zeile enthielt "NYC cops, but they ain’t that smart". Bruce Springsteens Song "American Skin (41 Shots)", in dem es auch um die Erschießung von Diallo durch die Polizei geht, verschwand ebenfalls von der Bildfläche und tauchte erst 2014 wieder auf einem Studioalbum auf, als er nach dem Mord an Trayvon Martin neue Aktualität erlangte.

Für Jahre geriet der nationale Diskurs über polizeilichen Machtmissbrauch gegenüber der konsequenten Durchsetzung der Strafverfolgung in den Hintergrund. Es gab einen Krieg zu führen, und die Polizei stand in diesem "Krieg gegen den Terror" an vorderster Front. Man ging davon aus, dass sie auf jede Art von Gewalt vorbereitet sein musste, und entsprechend wurde sie ausgerüstet, als das Geld in Strömen floss und noch dazu eine Pipeline für ausrangierte militärische Ausrüstung aus den Kriegen eröffnet wurde. Die militärisch anmutende Ausrüstung, mit der die Polizeikräfte der USA ausgestattet sind, ist ein direktes Abfallprodukt der Kriege. Absurderweise ereignete sich diese Entwicklung überall – nicht nur an bei Anschlägen besonders gefährdeten Orten, sondern auch in Kleinstädten.

2020 kehrte die öffentliche Auseinandersetzung mit der Polizei zu ihrer Ausgangslage aus der Zeit vor dem 11. September zurück. Die Ermordung von George Floyd durch Polizisten führte zu den vielleicht größten anhaltenden Protesten in der amerikanischen Geschichte, und sie fanden landesweit breite Unterstützung. Die Polizeikräfte setzten schließlich ihre gesamte Militärausrüstung der 9/11-Ära ein – nicht, um einen Terroranschlag zu verhindern, sondern um friedliche amerikanische Demonstrant:innen niederzustrecken. Wie absurd das war, wurde von den Menschen durchaus registriert, und die Auseinandersetzung mit systemischem Rassismus und die Notwendigkeit von Polizeireformen sind inzwischen Mehrheitsmeinung und genießen breite öffentliche Unterstützung.

Ringen mit der Niederlage

Die 9/11-Ära wurde mit dem Bemühen zugebracht, in unzureichend definierten und nicht zu gewinnenden Kriegen den Sieg zu erringen. Es war eine Ära, in der sich die USA vor die Herausforderung gestellt sahen, sich mit einer Niederlage abzufinden. Während die Bush-Regierung an der Präsenz im Irak festhielt, räumte Obama die Fruchtlosigkeit dieses Unterfangens ein und zog die US-Streitkräfte ab. Er schickte jedoch Streitkräfte nach Afghanistan und legte einen erneuten Fokus auf die Terrorismusbekämpfung. Unter Obama eskalierten die Drohnenangriffe, Guantanamo Bay blieb bestehen, und der nationale Sicherheitsapparat nutzte neue Cyber-Überwachungsinstrumente bei den endlosen Bemühungen, den Terrorismus zu bekämpfen. Afghanistan blieb weiterhin eine schmerzhafte Angelegenheit.

Abgelenkt durch den Terrorismus und den Nahen Osten versäumte es die US-Außenpolitik unterdessen, auf andere wichtige Entwicklungen einzugehen, wie zum Beispiel die Erstarkung antidemokratischer Bewegungen in der ganzen Welt, diverse Migrationskrisen und Russlands Einsatz heimtückischer Waffen bei politischer Einflussnahme. Die Bemühungen der USA um Demokratieförderung im Ausland, die die US-Außenpolitik in den 1990er Jahren beseelte, wurden während der Bush-Regierung von Neokonservativen in Beschlag genommen und zunehmend mit Regimewechsel in Zusammenhang gebracht – eine Assoziation, die prodemokratische Bestrebungen bis heute belastet. Die progressive Außenpolitik konzentrierte sich weniger auf Werte als auf das sehr realpolitische Konzept der "Zurückhaltung" (restraint). Obamas Außenpolitik unterstrich ihren Pragmatismus und ihren Anspruch, "bloß keinen Mist zu bauen", wurde aber von der Linken nicht wegen ihrer Untätigkeit gegenüber den Machenschaften von Autokraten kritisiert, sondern wegen ihrer zu großen Verwicklung in diese Konflikte.

Die Tötung von Osama Bin Laden im Mai 2011 beseitigte den Gegner und ermöglichte es dem Land, den 11. September als Vergangenheit zu begreifen. Reformen und verschiedene Maßnahmen verringerten den Machtmissbrauch und verbesserten den Überblick. Mitte des Jahrzehnts war der Beginn einer Trendwende zu verzeichnen. Obamas Hinwendung nach Asien und die russische Invasion in die Ukraine waren ein Weckruf für die Außenpolitiker:innen in Washington zu einem "Großmachtwettbewerb", und sie schlugen ein neues Kapitel auf. Trotz des Aufkommens des IS, durch das die USA erneut unverhohlen in den Nahen Osten gezogen wurden, nahmen Obamas Bestrebungen, das Augenmerk von der Region abzuwenden, nach und nach Gestalt an.

Heute wird nur noch in wenigen Washingtoner Thinktank-Panels über Terrorismusbekämpfung diskutiert. Washington konzentriert sich nun auf Populismus, Technologie und den geopolitischen Wettbewerb mit China. Die Kriege sind natürlich nicht beendet – US-Streitkräfte sind nach wie vor in Afghanistan und im Nahen Osten im Einsatz. Zwar wurde im Frühjahr 2021 beschlossen, bis zum 11. September 2021 aus Afghanistan abzuziehen, aber die Bezeichnung dieser Kriege als forever wars spricht für sich. Beim außenpolitischen Establishment in Washington waren sie indes ohnehin weitgehend in Vergessenheit geraten. Während die außenpolitische Elite der 9/11-Ära jedoch einfach den Rücken kehrte und eine neues Kapitel aufschlug, tat sich der Rest der USA schwer mit dem, was als Nächstes kommen sollte.

Der Tribut der Kriege machte sich am deutlichsten in den kleinen und mittelgroßen Gemeinden der USA bemerkbar – nicht in den progressiven Großstädten, in denen sich auch der entschiedenste Widerstand geregt hatte. 2016 gehörten die Orte, die einst die stärksten Befürworter der Kriege gewesen waren, zu den stärksten Befürwortern von Trumps "America First". Trumps Forderungen, die Truppen abzuziehen und sich von der Welt abzuwenden, fanden hier großen Widerhall. Nach Trumps Sieg rückten diese Teile des Landes in den Mittelpunkt der intellektuellen Aufmerksamkeit. In zahlreichen Büchern und Thinktank-Gutachten wurde untersucht, welche Rolle systemische Themen wie Rassismus, Einwanderung, wirtschaftliche Stagnation, Globalisierung und die Opioidkrise für den Aufstieg von Trump und den Populismus spielten. Nur seltene Erwähnung fand in diesen Analysen jedoch, welche Sprengkraft das Gefühl einer Niederlage haben kann.

Zwei Country-Songs markieren Beginn und Ende der Ära. Toby Keiths "Courtesy of the Red, White, and Blue" von 2002 war ein volltönender patriotischer Ruf zu den Waffen, in dem die "Freiheitsstatue ihre Faust erhebt". Justin Moores "The Ones That Didn’t Make It Back Home" von 2019 beschreibt hingegen den Tod eines 22-Jährigen und die Trauer der gesamten Kleinstadt. Bilder vom Kampf "dort drüben", der geführt wird, damit wir hier die Freiheit genießen können, werden in Songs zwar immer noch aufgerufen, haben aber an Resonanz verloren. Die Frage "wozu das alles gut war" hängt in der Luft, wenn Moore klagt: "Jedenfalls hier bei uns haben sie eine Lücke hinterlassen." Die durch den 11. September ausgelösten Kriege gegen den Terror waren keine Kriege, die zum Sieg führten, sondern eher zu einer mühseligen Pattsituation. Die USA mögen vielleicht nicht verloren haben, aber gewonnen haben sie ganz sicher nicht. Es ist also kein Wunder, dass Trumps politische Anti-Haltung, seine Wut, seine Angriffe auf das Washingtoner Establishment und seine Rückzugsforderungen Beifall fanden.

In der Zwischenzeit erreichte der amerikanische progressive Millenial – der heute kulturell das Feld beherrscht – in einer Zeit das Erwachsenenalter, als die amerikanische Außenpolitik nicht mehr für die Befreiung Europas stand, sondern für Abu Ghraib und rechtswidrige Abschiebungen. Eine Generation, von mehreren Rezessionen gebeutelt, massiv verschuldet durch Studienkredite, in einer unsicheren Gig-Economy gefangen, von den teuren Immobilienmärkten ausgeschlossen, die nun erwartungsgemäß einen weit niedrigeren Lebensstandard als ihre Eltern haben wird, hält die USA nicht mehr für außergewöhnlich. Die USA werden von dieser jüngeren Generation oft als ein zugleich unfähiges und unmoralisches Land empfunden, dessen falsche Vorstellungen von Außergewöhnlichkeit es in die Irre führten. Für einige mag es daher besser erscheinen, auf "Zurückhaltung" zu drängen und sich zurückzuziehen, als im In- und Ausland weiteren Schaden anzurichten. Während der Vorwahlen der Demokratischen Partei herrschte im Wesentlichen Einigkeit darüber, dass die "ewigen Kriege" beendet werden müssten. Der Verteidigungshaushalt, der nach dem 11. September lange Zeit als unantastbar galt, wird nun für Kürzungen in Betracht gezogen. Das US-Militär kündigte kürzlich an, sich von der Aufstandsbekämpfung abzuwenden – das heißt von der Doktrin, die den Strategien des US-Militärs im Irak und in Afghanistan zugrunde lag. Das US-Militär hat weder Interesse noch die Absicht, diese Art von Kriegen erneut zu führen.

In der Vergangenheit haben Historiker:innen immer wieder auf die übergroßen Auswirkungen hingewiesen, die eine Niederlage auf die Kultur haben kann. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg verursachte eine reaktionäre Gegenreaktion, die in Verbindung mit der Wirtschaftskrise dem Faschismus zu seinem Aufstieg verhalf. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das anschließende wirtschaftliche Chaos der 1990er Jahre führten geradewegs zu Wladimir Putins autoritärer Oligarchie. Während eine militärische Niederlage zu einem Vertrauensverlust bezüglich Sinn und Zweck einer Nation beitragen kann, kann ein wirtschaftlicher Schock ein Gefühl der Verzweiflung und Wut über eine scheinbar dysfunktionale Gesellschaft hervorrufen. Militärische Niederlagen und Wirtschaftskrisen bilden in der Tat ein giftiges Gemisch.

Das ganze Jahr 2020 hindurch bestand die Befürchtung, dass die US-Wahl einen demokratischen Bruch darstellen könnte. Mit rechten paramilitärischen Gruppierungen, die auf einmal die Bühne betraten, einem Präsidenten, der sich gewillt zeigte, außerhalb aller Gesetzesgrenzen und Normen zu agieren, und Progressiven, die bereit waren, auf die Straße zu gehen, wuchs das Gefühl, dass sich das Land vielleicht auf eine Krise zubewegte, die das Ende der Demokratie bedeuten könnte. Doch obwohl die Wahl knapper ausfiel, als die Umfragen vermuten ließen, verlief die eigentliche Wahl reibungslos. Amerikas betagte demokratische Institutionen hielten dem absurden Betrugsgezeter von Trump stand. Amerika entschied sich ziemlich unmissverständlich für die sicheren und vertrauten Hände des ehemaligen Vizepräsidenten Joe Biden, der sich verpflichtete, die "Seele von Amerika" wieder in Ordnung zu bringen. Auch wenn der Sieg Bidens als Präsident wie eine Rückkehr zur Obama-Ära erscheinen mag, könnte die Situation heute im Vergleich zur damaligen nicht unterschiedlicher sein.

Was hält die neue Ära für die US-Außenpolitik bereit?

Was bedeutet dieses neue Kapitel der amerikanischen Geschichte nach den Wahlen von 2020 für die Rolle der USA in der Welt? Wir leben in einer Zeit der sich verändernden globalen Dynamik. Es ist fast schon zum Klischee geworden darauf hinzuweisen, dass die internationale Politik in eine erneute Phase des Großmachtwettbewerbs zwischen Demokratien, darunter die Vereinigten Staaten und Europa, und autoritären Staaten, allen voran China und Russland, eingetreten ist. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob sich die Vereinigten Staaten gegenüber China in einem "neuen Kalten Krieg" befänden. Obwohl die Einschätzung, dass wir uns in einem neuen Wettbewerb zwischen Großmächten befinden, durchaus berechtigt ist, ergeben sich zahlreiche Probleme, wenn man den Kalten Krieg als Referenz heraufbeschwört – nicht zuletzt deshalb, weil die eigentliche Idee der Eindämmungspolitik (containment), wie sie vom Diplomaten George Kennan in den späten 1940er Jahren ausgearbeitet wurde, von der Annahme ausging, dass die Sowjetunion in absehbarer Zeit von selbst zusammenbrechen würde. Über den Wettbewerb mit China macht man sich heute keine derartigen Illusionen. Das Ziel, wie es von Jake Sullivan (von Biden inzwischen zum Nationalen Sicherheitsberater ernannt) und Kurt Campbell (inzwischen Koordinator für den Indopazifik) umrissen wurde, sollte vielmehr "ein stabiler Zustand der Koexistenz mit offenen Augen sein, der auf Bedingungen beruht, die zugunsten der Interessen und Werte der USA ausfallen".

Und doch handelt es sich hier um einen Wettbewerb zwischen Großmächten im Atomzeitalter. Es ist unwahrscheinlich, dass es zu einem bewaffneten Konflikt kommt, weil sich beide Seiten der für alle Beteiligten verheerenden Folgen bewusst sind. Wir haben es deshalb mit einer Situation zu tun, in der die Großmächte mit den meisten, wenn nicht mit allen Mitteln der Staatskunst außer eben dem Krieg miteinander konkurrieren. Dieser Wettbewerb auf wirtschaftlicher, politischer und geheimdienstlicher Ebene hat zwar Ähnlichkeiten mit der Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion, doch die Strategien und Ziele sind gänzlich andere.

Die Fokussierung auf China wird die Aufmerksamkeit erneut auf eine nationale Erneuerung lenken. Die Reaktion auf den 11. September war von den innenpolitischen Verhältnissen weitgehend abgekoppelt und erforderte keine breitere landesweite Strategie. Doch der Wettbewerb mit einer alternativen Regierungsform und einer alternativen Gesellschaftsordnung könnte in den USA erneut das Bewusstsein einer gemeinsamen nationalen Zwecksetzung wecken.

Das Coronavirus hat jedoch auch die Schwächen des neoliberalen Wirtschaftssystems der USA aufgedeckt, zu denen das Versagen des Gesundheitssystems, der Mangel an sozialen Schutzmechanismen und die überfüllten beziehungsweise unterfinanzierten Schulen gehören. In einem bemerkenswerten Stimmungswechsel ist die Abneigung des Landes gegenüber staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft einem Bemühen beider Parteien gewichen, die Wirtschaft am Laufen zu halten. Die Krise hat die tiefgreifenden Ungleichheiten, die seit jeher das amerikanische Leben prägen, zutage gebracht und weiter verschärft, aber auch die Tür für einen völlig neuen Ansatz aufgestoßen. Sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik braucht es in dieser neuen Ära eine klarere Vorstellung davon, welche Prioritäten für die USA wirklich an erster Stelle stehen.

In gewisser Weise wird und kann die amerikanische Außenpolitik deshalb nicht mehr so stark auf den Nahen Osten ausgerichtet sein wie in den vergangenen 20 Jahren und schon gar nicht in demselben hohen Maß an militärischem Engagement. Tamara Wittes und Mara Karlin, zwei ehemalige US-Regierungsbeamte, die sich in ihrer Laufbahn dem Nahen Osten gewidmet haben, stellten kürzlich fest: "Obwohl der Nahe Osten für die Vereinigten Staaten immer noch wichtig ist, hat er deutlich an Bedeutung eingebüßt." Die neuen Entwicklungen im Nahen Osten werden sicherlich die Aufmerksamkeit hochrangiger außenpolitischer Kader auf sich ziehen, die ihre Karriere der Beschäftigung mit dieser Region verdanken. Doch der Bann, den der Nahe Osten über Washington lange ausübte, ist gebrochen. Der Umbruch ist vielleicht nicht so einschneidend wie das Ende des Kalten Krieges, als eine ganze Kleinstadt an Kreml-Beobachtern und Sowjetologen auf einen Schlag entlassen wurde. Aber er ist nicht zu leugnen.

Natürlich gibt es immer noch wichtige politische Ziele zu verfolgen, und der Nahe Osten findet immer wieder einen Weg, die Aufmerksamkeit Washingtons zu erregen. Die USA werden Nuklearverhandlungen mit Iran aufnehmen und möglicherweise eine spürbare Tauwetterstimmung zwischen Iran und seinen Gegnern im Nahen Osten anstreben. Darüber hinaus müssen die USA wohl auf absehbare Zeit weiterhin begrenzte militärische Operationen gegen den IS und ähnliche Gruppierungen in der Region ausführen. Auch das Engagement für die Sicherheit und den Schutz des Staates Israel wird in nächster Zeit nicht nachlassen. Doch klar ist, dass sich die USA nicht mehr so stark auf das eng gefasste Ziel der Terrorismusbekämpfung und der Sicherheit in der Region konzentrieren werden. Die USA werden sich wahrscheinlich nicht mehr so leicht in militärische Abenteuer verwickeln lassen. Dies wird vermutlich einige Frustration in Europa hervorrufen, insbesondere bei den energischen Franzosen, in deren vernünftiger Einschätzung die Lage in der Region, insbesondere in Syrien, in Libyen und im Libanon, als kritisch für die französische und europäische Sicherheit gewertet wird. Bleiben die USA aufgrund der anhaltenden amerikanischen Truppenpräsenz und der Bemühungen zur Bekämpfung des IS weiterhin in Syrien involviert, haben sie sich aus Libyen bislang weitgehend herausgehalten und werden es wahrscheinlich auch dabei belassen.

Während die Regierungen unter Obama und Bush gute Beziehungen zu den autokratischen Golfstaaten unterhielten und sie in der 9/11-Ära als unverzichtbare Partner wahrnahmen, werden die USA diese Staaten in Zukunft eher als problematische Handelspartner empfinden. Nach der brutalen Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi, dem Krieg im Jemen und den internen Menschenrechtsverletzungen wird Amerika etwas auf Distanz gehen. Da sich die USA auf einen großen Machtwettbewerb mit China vorbereiten, der weitgehend auf den konkurrierenden Prinzipien von Demokratie und Autoritarismus beruht, wird Washington immer weniger bereit sein, seine Werte gegenüber den undemokratischen Golfstaaten zu kompromittieren. Die Beziehungen werden wahrscheinlich herzlich und pragmatisch bleiben, aber der rote Teppich wird ihnen im Weißen Haus wohl nicht mehr ausgerollt. Die USA werden energischer auf innenpolitische Reformen drängen sowie auf einige Kursänderungen in der Außenpolitik der Golfstaaten, möglicherweise gegenüber Iran. Es gibt einfach kein Bedürfnis – weder moralisch noch strategisch –, die eigenen Werte gegen eine Zusammenarbeit einzutauschen, bei der nur begrenzte Sicherheitsinteressen bestehen.

Die von der Trump-Regierung ausgehandelten diplomatischen Abkommen zwischen Israel und Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit werden wahrscheinlich nicht zu einem neuen Durchbruch im Friedensprozess führen. Stattdessen werden die amerikanisch-israelischen Beziehungen heikel bleiben, auch nach dem Ausscheiden des bisherigen Premierministers Benjamin Netanjahu, der eine klare parteiliche Präferenz für die Republikaner hatte. Die deutlichen Spannungen mit dem Weißen Haus unter Obama könnten sich mit der Biden-Regierung und Naftali Bennett als Netanjahu-Nachfolger fortsetzen. Die Politik des Siedlungsausbaus und der Unwille der israelischen Regierung, sich auf einen Friedensschluss zuzubewegen, hat bei weiten Teilen der progressiven Basis für eine tiefe Skepsis gegenüber den amerikanisch-israelischen Beziehungen gesorgt.

All diese bewegenden Nahost-Themen hätten die gesamte 9/11-Ära mit ihrer Verengung auf Terrorismus ausfüllen können. Nun, in einer Ära von Großmachtkonkurrenz und Wiederaufbau des durch Pandemie und Wirtschaftskrise schwer angeschlagenen Landes, wirken sie wie lästige Ablenkung. Im Wahljahr 2020 standen die USA vor der Entscheidung, welchen Weg sie in dieser neuen Ära einschlagen wollen. Die Wähler:innen lehnten den von Trump skizzierten düsteren und polarisierenden Weg ab und wählten den hoffnungsvolleren, anständigen Weg von Biden. Sie machten die Wahl zu einer der wichtigsten der amerikanischen Geschichte. Sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik wird Amerika einen neuen Kurs einschlagen müssen, der dieser beginnenden Ära angemessen ist. Eine Rückkehr zum Zustand vor Trump ist nicht möglich, denn die Ära vor Trump ist vorbei. 2020 ist die 9/11-Ära offiziell zu Ende gegangen. Es gibt keinen Weg zurück.

Dieser Text erschien zuerst im Januar 2021 in der Reihe „Perspektiven“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Washington, D. C., und wurde für APuZ leicht überarbeitet und aktualisiert. Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Birthe Mühlhoff, Dinslaken.

ist Senior Fellow am Center for American Progress und auf europäische Sicherheit und amerikanisch-russische Beziehungen spezialisiert. Von 2011 bis 2017 war er in verschiedenen Positionen im US-Außenministerium tätig.

ist Fellow am Center for American Progress und befasst sich mit Fragen der amerikanisch-russischen Beziehungen und der europäischen Politik und Sicherheit.