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Wie ewig ist der 12. September? | 9/11 | bpb.de

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Wie ewig ist der 12. September? 9/11 und die Beziehungen zwischen den USA und Iran

Katajun Amirpur Ingrid Overbeck

/ 13 Minuten zu lesen

Der 11. September 2001 markiert einen Wendepunkt in den internationalen Beziehungen. Die Anschläge an diesem Tag, von der "New York Times" seinerzeit als "der schlimmste und kühnste terroristische Angriff in der amerikanischen Geschichte" bezeichnet, sabotierten die Vorstellung von der Quasi-Uneinnehmbarkeit Amerikas und verletzten die Ehre einer Nation, die von Freund und Feind wegen ihrer wirtschaftlichen Stärke, politischen Stabilität, militärischen Macht und technologischen Vorherrschaft beneidet wurde.

Noch heute hängt im Sitz des US-Auslandsgeheimdienstes, der Central Intelligence Agency (CIA), ein Schild, auf dem es heißt: "Every day is September 12th." Die Denkweise, die diesem Spruch zugrunde liegt, prägte die US-amerikanische Innen- und Außenpolitik für viele Jahre – im Verhältnis zu Iran sogar bis heute. Dabei hätte es direkt nach den Anschlägen sogar die Gelegenheit gegeben, die gegenseitigen Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen. Doch diese blieb ungenutzt – mit Folgen bis in die Gegenwart.

Von 9/11 zur "Achse des Bösen"

Die Reaktionen in Iran auf die Anschläge überraschten viele BeobachterInnen: In Teheran kam es zu spontanen Mahnwachen bei Kerzenschein, die Menschen trauerten um die Toten in den USA. Die Bürgermeister von Teheran und Isfahan schickten Kondolenzbotschaften an die BürgerInnen in New York City, vor einem Fußballspiel wurde eine Schweigeminute für die Opfer abgehalten. Die iranische Regierung gab eine Erklärung ab, in der sie die Terroranschläge scharf verurteilte, und Staatspräsident Mohammad Chātami sprach "der amerikanischen Nation" öffentlich sein "tiefstes Beileid" aus.

Bis zum 11. September hatten sich die Beziehungen zwischen den USA und Iran im Jahr 2001 hauptsächlich auf die "Sechs-plus-Zwei-Gespräche" über Afghanistan beschränkt. Die "Sechs-plus-Zwei-Gruppe" war ein informelles Forum, in dessen Rahmen sich die sechs an Afghanistan angrenzenden Nationen China, Iran, Pakistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan sowie die USA und Russland seit 1997 unter der Ägide der Vereinten Nationen um eine friedliche Lösung im Konflikt zwischen Taliban und Nordallianz bemühten. Das Gremium konzentrierte sich im Wesentlichen auf die Durchsetzung eines Waffenembargos gegen die Taliban, Initiativen zur Drogenbekämpfung und humanitäre Hilfsmaßnahmen.

Nach 9/11 erkannte US-Außenminister Colin Powell, der im Kabinett unter Präsident George W. Bush als gemäßigter Gegenspieler von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld galt, dass der Antiterrorkampf eine Gelegenheit bot, die internationale Zusammenarbeit gegen das islamistische Netzwerk al-Qaida zu nutzen, um Amerikas strategische Beziehungen zu den regionalen Mächten des Nahen Ostens zu stärken. Diese Dynamik, so die Hoffnung, würde auch helfen, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen. Powell beauftragte seine MitarbeiterInnen, eine umfassende diplomatische Strategie zur Unterstützung des "Kriegs gegen den Terrorismus" zu entwickeln. Als Antwort auf die anteilnehmenden Reaktionen Irans auf 9/11 sandte die US-Regierung über die diplomatische Vertretung der Schweiz in Teheran eine Botschaft, in der sie Iran für die Unterstützung dankte und um Informationen über Al-Qaida-Anführer Osama bin Laden und die Taliban bat.

Auch Präsident Chātami wollte die Gelegenheit nutzen, um der eigenen Außenpolitik gegenüber den USA und dem Westen eine versöhnlichere Orientierung zu geben. Teherans Positionen zu al-Qaida und den Taliban als ideologische Feinde boten einen Ansatz für gemeinsame Interessen mit Washington. Vor diesem Hintergrund begann eine Phase der amerikanisch-iranischen Zusammenarbeit, die ein bemerkenswertes Ausmaß annahm. So schlug Iran den USA, wenn auch indirekt, eine umfangreiche politische, nachrichtendienstliche und logistische Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus vor. Als im Oktober 2001 erstmals US-amerikanische und verbündete Spezialkräfte im Rahmen der Operation "Enduring Freedom" nach Afghanistan entsandt wurden, bot Iran an, amerikanischen Transportflugzeugen den Start von Flugplätzen in Ost-Iran zu ermöglichen. Zudem sollte ein amerikanischer Frachter humanitäre Hilfsgüter in einem iranischen Hafen entladen dürfen. Darüber hinaus half Iran den USA, das Taliban-Regime in Afghanistan zu stürzen, indem es ihren afghanischen paramilitärischen Partner, die gegen die Taliban kämpfende Nordallianz, unterstützte. Diese war vom ehemaligen afghanischen Verteidigungsminister Ahmad Schah Massoud gegründet worden und maßgeblich am Erfolg der US-geführten Intervention beteiligt.

Iran nahm auch an der von den USA initiierten Bonner Konferenz zu Afghanistan teil und unterstützte die Bildung einer neuen afghanischen Regierung, die im Dezember 2001 antrat. Zudem spielte Iran eine entscheidende Rolle bei der Wahl Hamid Karzais zum afghanischen Präsidenten, indem Teheran seinen Einfluss sowohl auf die Hazara-Bevölkerung als auch auf die Bevölkerung in den nördlichen und westlichen Teilen Afghanistans ausspielte. Die schiitischen Hazara Afghanistans haben tiefe soziokulturelle Bindungen zu Iran und viele von ihnen sahen bereits während des afghanischen Bürgerkriegs in Teheran ein Gegengewicht zu den sunnitischen Taliban. Iran hatte dies genutzt und zu den zentralen und westlichen Teilen Afghanistans, in denen die Hazara und die persisch sprechenden Tadschiken leben, enge wirtschaftliche und Handelsbeziehungen aufgebaut.

Für Iran war der Sturz der Taliban-Regierung in Afghanistan auch aus eigenem Interesse eine durchaus positive Entwicklung. Fast wäre es einige Jahre zuvor mit den Taliban zum Krieg gekommen, weil diese iranische Diplomaten entführt hatten. Aber ihr Sturz führte auch zu einem neuen Sicherheitsdilemma. In der iranischen Wahrnehmung gelten die USA seit der Iranischen Revolution 1979 traditionell als Bedrohung und Feind. Und nach 9/11 setzten die USA nicht nur den war on terror in Gang, sondern riefen schon bald das Department of Homeland Security ins Leben, das mit der Aufgabe betraut wurde, die Sicherheit der US-Grenzen und der Nation deutlich zu erhöhen. Eine Reihe von Antiterrorgesetzen und Exekutivverordnungen wurde erlassen, zudem stimmte der Kongress der Entsendung von Truppen in mindestens 18 Länder zu. Seitdem ist Iran von US-Streitkräften umgeben, die in seinen Nachbarländern stationiert sind.

Die leichte Verbesserung der Beziehungen zwischen den USA und Iran wurde letztlich vor allem durch eine Rede des US-Präsidenten Bush zur Lage der Nation am 29. Januar 2002 sabotiert, in der er Iran, den Irak und Nordkorea als "Achse des Bösen" und als größte Bedrohung des Weltfriedens bezeichnete. Die Rede war als Rechtfertigung für eine militärische Intervention der USA im Irak gedacht. Dass Iran mit den beiden anderen Ländern in einen Topf geworfen wurde, mutete jedoch willkürlich an. In Iran verstärkte die Brandmarkung als "Achse-des-Bösen-Land" die Überzeugung, dass durch den Dialog mit den USA nichts gewonnen werden kann und die praktizierte Annäherung an die USA nicht gewürdigt wird. Chātamis Reformbewegung war nun klar in der Defensive. Die Folge war eine stetige Verschlechterung der Beziehungen.

Drei Jahre nach den 9/11-Attentaten räumte Bush ein, dass die CIA keine Verbindungen zwischen Iran und den Anschlägen von 9/11 gefunden hatte. Bei den 9/11-Attentätern handelte es sich um 19 Al-Qaida-Mitglieder aus Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, dem Libanon und Ägypten. Aber als Vergeltung für die heimtückischen Anschläge wurde eine ganze Religion zum Ziel einer unerbittlichen Verleumdungskampagne; die "islamische Welt" wurde als Ganzes verunglimpft. Die Art und Weise, wie die US-Regierung rhetorisch und mit Taten auf die Anschläge vom 11. September 2001 reagierte und wie dieses tragische Ereignis medial reflektiert wurde, hat einen Schub antimuslimischer Vorurteile in Gang gesetzt. Die heutige Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft entlang religiöser und "rassischer" Gräben ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen.

Eskalationsspirale

Am 3. Januar 2020 wurde der iranische General Qasem Soleimani durch eine amerikanische Drohne auf irakischem Boden gezielt getötet. Diese Eskalation war Teil eines Zyklus, der begann, nachdem US-Präsident Donald Trump im Mai 2018 das 2015 geschlossene internationale Atomabkommen mit Iran – offiziell "Joint Comprehensive Plan of Action" (JCPoA) – einseitig aufgekündigt und umfassende Sanktionen gegen die Islamische Republik verhängt hatte. In dem entsprechenden "National Security Presidential Memorandum" hatte Trump unverzügliche Maßnahmen zur Wiederinkraftsetzung aller Iran-Sanktionen angeordnet, die im Rahmen des JCPoA ausgesetzt oder aufgehoben worden waren. Dies waren auch sogenannte Sekundärsanktionen, die sich gegen nicht-amerikanische Firmen mit Iran-Geschäft richten und die nach europäischer Rechtsauffassung unzulässig sind.

Soleimani war eine Legende in Iran; in Umfragen zählte er zu den mit Abstand beliebtesten Persönlichkeiten. In den Augen der IranerInnen hatte er das Land davor bewahrt, vom sogenannten Islamischen Staat (IS) überrannt zu werden. Die Terrormiliz IS, die sich zu einer radikalen Auslegung des sunnitischen Islam bekennt, hat sich auf die Fahnen geschrieben, Schiiten zu bekämpfen, die ihnen als Ungläubige gelten – mit dem langfristigen Ziel, die Islamische Republik Iran zu zerstören. Soleimani kämpfte im Irak gegen den IS – im Übrigen in einer Koalition mit US-Streitkräften. Sein Tod wurde sehr betrauert, Millionen Menschen gingen in Iran auf die Straßen, um gegen seine Tötung zu demonstrieren.

Trotz der Zusammenarbeit mit ihm behauptete US-Vizepräsident Mike Pence, der getötete Kommandeur der iranischen Quds-Truppe habe den 9/11-Terroristen als "Verschwörer" geholfen. In einer Reihe von Tweets nannte er Soleimani "einen bösen Mann, der für die Tötung Tausender Amerikaner verantwortlich war". Ohne Beweise zu nennen, beharrte er unter anderem darauf, dass der General "bei der heimlichen Reise von 10 der 12 Terroristen, die die Terroranschläge von 9/11 in den Vereinigten Staaten verübten, nach Afghanistan geholfen" habe, obwohl schon im offiziellen Bericht der 9/11-Kommission festgestellt worden war, dass es "keine Beweise dafür gibt, dass Iran oder die Hisbollah von der Planung für den späteren Anschlag 9/11 wussten". Soleimani kommt in dem fast 600-seitigen Bericht gar nicht vor.

Es war nicht das erste Mal, dass die Trump-Administration und ihre UnterstützerInnen eine Verbindung zwischen al-Qaida und Iran kolportierten. Das Beharren darauf könnte entscheidend sein, um einen Krieg gegen Iran zu rechtfertigen. Ein Antiterrorgesetz aus dem Jahr 2001 erlaubt es dem US-Präsidenten, "alle notwendige und angemessene Gewalt gegen jene Nationen, Organisationen oder Personen einzusetzen, die die Terroranschläge an 9/11 geplant, autorisiert, begangen oder unterstützt haben oder (…) solche Personen beherbergen". Hierbei muss er nicht auf die Zustimmung des Kongresses warten.

Die IranerInnen zahlen einen hohen Preis für die antimuslimische Wut nach den Anschlägen von 9/11. Statt den eigenen Verbündeten Saudi-Arabien anzuklagen, woher Bin Laden und die Mehrzahl der 9/11-Attentäter sowie ihre finanziellen Unterstützer stammten, lenkte die US-Regierung das Augenmerk auf Iran und erklärte das Land zum weltweit führenden staatlichen Sponsor des Terrors. Auch fast zwei Jahrzehnte nach den Anschlägen von New York und Washington bezeichnete Trump Iran als "terroristische Nation Nummer 1". Zudem verhängte Trump 2017 ein Einreiseverbot für Staatsangehörige verschiedener muslimischer Länder, was IranerInnen besonders traf, da viele von ihnen Verwandte in den USA haben.

In den Jahren seit den Anschlägen vom 11. September 2001 haben viele IranerInnen Fragen über ihr Ansehen und die globale Wahrnehmung ihres Landes in der Welt gestellt: Was wäre, wenn 15 der 19 Attentäter von 9/11 nicht aus Saudi-Arabien gekommen, sondern Iraner gewesen wären? Was wäre, wenn die zwei Attentäter des Boston-Marathons 2013 nicht tschetschenischer, sondern iranischer Herkunft gewesen wären?

Die zurückliegenden Jahre waren für Iran beziehungsweise für die iranische Regierung unter Präsident Hassan Rohani besonders schwierig. Wenige Tage nach der Ermordung Soleimanis kam es zu regierungskritischen Protesten und Unruhen in Teheran, weil die iranische Flugabwehr versehentlich eine ukrainische Verkehrsmaschine mit 176 Passagieren abgeschossen hatte. Zudem erreichte mit der Corona-Pandemie das 2020 weltweit dramatischste und einflussreichste "Ereignis" die Region, und Iran gehört zu den am stärksten betroffenen Ländern im Nahen Osten. Schließlich folgten in der zweiten Jahreshälfte 2020 die Normalisierungsabkommen Israels mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain – die dazu beitragen sollen, Iran zu isolieren – sowie im November die Ermordung des Leiters des iranischen Atomprogramms, Mohsen Fakhrizadeh. All dies geschah vor dem Hintergrund einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage und einer tiefen politischen Polarisierung im Land selbst.

Doch weder diese Reihe schwerwiegender Ereignisse noch die Politik des "maximalen Drucks" der USA haben Iran zu einer Änderung seiner Politik bewegt. Nachdem die USA aus dem Atomabkommen ausgestiegen sind, treibt Iran sein Atomprogramm weiter voran: Laut Internationaler Atomenergiebehörde (IAEA) besitzt Iran bereits 2,4 Kilogramm angereichertes Uran, das fast waffentauglich sei. Außerdem wurde eine neue Anreicherungsanlage tief unter der Erde gebaut, die die bei dem Sabotageangriff im Juli 2020 in Natans schwer beschädigten Zentrifugen ersetzen soll.

Neuanfang 2021?

Das Trauma der Amerikaner durch die Besetzung ihrer Botschaft 1979 in Teheran und dem aus dieser Aktion resultierenden Geiseldrama, das 444 Tage dauerte, belastet die iranisch-amerikanischen Beziehungen bis heute schwer. Nach wie vor schauen beide Seiten aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Ereignis – und bleiben in einem Teufelskreis aus gegenseitigen Verdächtigungen gefangen, der Annäherungen verhindert. 9/11 scheint das neue Trauma der USA zu sein.

Die umfassenden Sanktionen, die die USA nach ihrem Austritt aus dem Atomabkommen 2018 gegen die Islamische Republik verhängten, hatten eine schwere Rezession in Iran zur Folge und empfindliche Auswirkungen auf die Lebensqualität der IranerInnen. Die neue US-Regierung unter Joe Biden hat die Sanktionen in ihren ersten Wochen im Amt nicht gelockert und nicht einmal iranische Gelder freigegeben, die auf Auslandskonten liegen, was immerhin als Geste des guten Willens hätte interpretiert werden können. Iran braucht diese Gelder dringend, etwa, um Impfstoff zu kaufen. So hat es die US-Administration geschafft, antiamerikanische Ressentiments weiter zu schüren. Derweil ist unklar, ob und wann das Atomabkommen wiederbelebt werden kann. In Reaktion auf interne und externe Bedrohungsszenarien verschiebt sich die Macht in Iran immer weiter zu Gunsten ultrakonservativer Kräfte. Insbesondere die Revolutionsgarden sichern politisch und wirtschaftlich ihre Interessen und gewinnen an Schlagkraft.

Die Hauptbedeutung der Wahl von Joe Biden zum neuen US-Präsidenten liegt in den Augen des iranischen Regimes in der Tatsache, dass Teheran sich nicht mehr mit Donald Trump auseinandersetzen muss, der neben den strengen Sanktionen, die er gegen den Iran verhängte, in seinen militärischen Reaktionen unberechenbar zu sein schien. In den Neuverhandlungen zum Atomabkommen wird sich zeigen, ob es inhaltlich Unterschiede zwischen den Zielen der Administrationen von Trump und Biden gibt: Beide wollen Iran an der Entwicklung von Atomwaffen hindern, auch wenn ihre Mittel zu diesem Zweck unterschiedlich sein mögen. Wie Biden in seinen Erklärungen zur nationalen Sicherheit verdeutlicht hat, ist sein bevorzugter Weg die Diplomatie, wobei er bereit ist, zum JCPoA zurückzukehren, wenn Iran alle seine Verpflichtungen daraus erneuert. Diese Politik ruft in Israel und den Golfstaaten bereits Bedenken hervor. Iran geht seinerseits davon aus, dass die Biden-Administration tatsächlich Trumps Politik gegenüber Teheran umkehren und das JCPoA erneuern will.

Nachdem Hassan Rohani nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren konnte, wählte auch Iran am 18. Juni 2021 einen neuen Präsidenten. Das Regime, verkörpert durch den 12-köpfigen "Wächterrat" und das Staatsoberhaupt, den Revolutionsführer Ali Chamenei, gab sich bei dieser Wahl nicht einmal mehr den Anschein von Legitimität und wollte auf jeden Fall den von ihm favorisierten ultrakonservativen Kandidaten, Ebrahim Raisi, ins Amt heben. Reformer und moderate Konservative wie Ali Larijani oder der bisherige Vizepräsident Eshagh Jahangiri wurden bereits im Vorfeld von der Kandidatur ausgeschlossen.

Nach seiner Wahl ist es allerdings wahrscheinlich, dass Raisi versuchen wird, ein breiteres Segment der Gesellschaft anzusprechen als nur die Kerntruppe seiner bisherigen AnhängerInnen. Außerdem dürfte mit einem Radikalen an der Macht mehr möglich sein als mit einem Moderaten. Wenn dieser ein Einsehen in bestimmte reformatorische Notwendigkeiten hat, wird er sie durchsetzen können, weil niemand seine Entscheidungen und Maßnahmen torpediert – anders als es die Radikalen mit den Moderaten getan haben. Denn die Kandidaten aus den Reihen der Revolutionsgarden stehen dem JCPoA und den Konditionen für eine Rückkehr kritisch gegenüber, müsste Iran sich doch wieder an strikte Beschränkungen für sein Atomprogramm halten. Vor allem lehnen sie die von den Europäern und den USA angestrebten Verhandlungen über Irans Rolle in der Region und sein Programm zum Bau ballistischer Raketen ab. Die letztendliche Entscheidung über eine Rückkehr zum Abkommen wird indes vom Revolutionsführer gefällt, und dieser ist offenbar für eine solche Rückkehr. Doch werden die IranerInnen nicht zu Kreuze kriechen. Sie befinden sich in einer relativ starken Verhandlungsposition und fordern zum Beispiel, dass auch die Sanktionen gegen die Mitglieder der Revolutionsgarden aufgehoben werden.

"Jeder Tag ist der 12. September" – wie lange soll das noch gelten? Die Beziehungen zwischen Iran und den USA hatten am Ende der Trump-Administration einen Tiefpunkt erreicht. Iran sah sich konfrontiert mit harten Sanktionen, der Tötung des Quds-Kommandeurs Qasem Soleimani, milliardenschweren Waffenverkäufen an die Golfstaaten und Normalisierungsabkommen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain. Das Jahr 2021 aber begann mit einem Wechsel der Administration in den USA, im Juni folgte der Präsidentenwechsel in Iran. Die Möglichkeit einer Rückkehr zum Atomabkommen und einer Überwindung alter Trauma-Spiralen liegt auf dem Tisch. Die Frage ist, ob sie genutzt wird und es gelingen kann, den Teufelskreis vergangener Traumata und gegenseitigen Misstrauens zu durchbrechen.

ist Professorin für Islamwissenschaft am Orientalischen Seminar der Universität zu Köln. Zuletzt erschien von ihr "Khomeini. Der Revolutionär des Islam" (2021).
E-Mail Link: katajun.amirpur@uni-koeln.de

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Orientalischen Seminar der Universität zu Köln.
E-Mail Link: ingrid.overbeck@uni-koeln.de