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Die USA: Rückzug und Neuorientierung | bpb.de

Informationen zur politischen Bildung Nr. 353/2022

Die USA: Rückzug und Neuorientierung

Stephan Bierling

/ 11 Minuten zu lesen

Nach den konfrontativen vier Jahren unter US-Präsident Donald Trump setzt sein Nachfolger Joe Biden wieder auf die Kooperation mit den großen Demokratien der Welt, wie hier beim G-7-Gipfel im oberbayerischen Elmau am 28. Juni 2022. (© picture-alliance/dpa, Michael Kappeler)

Die Anschläge von al-Qaida-Terroristen auf das World Trade Center in New York und das Verteidigungsministerium in Washington, D.C., am 11. September 2001 mit fast 3000 Opfern änderten das Sicherheitsgefühl und die Sicherheitspolitik der USA fundamental. Präsident George W. Bush (2001–2009) beendete die Phase der relativen außenpolitischen Zurückhaltung und führte sein Land auf die Weltbühne zurück. Beim Sturz der islamistischen Taliban-Regierung, die al-Qaida in Afghanistan Unterschlupf und Trainingscamps geboten hatte, standen internationale Gemeinschaft und US-Öffentlichkeit geschlossen hinter Bush. Als er im Zuge des "Krieges gegen den Terror" jedoch 2003 im Irak intervenierte, zerfiel diese Unterstützung. Viele Staaten, darunter Deutschland, Frankreich und Russland, betrachteten das Vorgehen der USA als Verstoß gegen internationale Normen. Auch innenpolitisch war der Irakkrieg umstritten. Je länger er dauerte und je höher die Zahl der Opfer stieg, desto schärfer wurde die Kritik an der Militäraktion.

Die enormen Kosten des Krieges ließen den Konsens für eine in­terventionistische Außenpolitik erodieren, der sich durch die Terrorattacken von 9/11 herausgebildet hatte. Zugleich platzte in den USA 2008 eine Immobilienblase, was das Land in die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren stürzte. Arbeitslosenquote und Haushaltsdefizit schossen 2010 auf zehn Prozent. Ende 2013 war die Zustimmung der Bevölkerung zu einer globalen Führungsrolle der USA so niedrig wie nie zuvor seit Umfragebeginn 1964. 52 Prozent meinten, das Land solle sich um sich selbst kümmern und andere Staaten allein zurechtkommen lassen; 2002 waren nur 30 Prozent dieser Auffassung gewesen.

Außenpolitische Zurückhaltung

Bushs Nachfolger Barack Obama (2009–2017) trug dem Kräfteverschleiß durch die Kriege in Irak und Afghanistan sowie durch die Finanz- und Wirtschaftskrise Rechnung, indem er die internationalen Einsätze reduzierte. Zwar war er nie Pazifist, doch stand er Militärinterventionen skeptisch gegenüber, vor allem wenn sie sich nicht gegen direkte Gefahren für die Sicherheit der USA richteten. Der Präsident zog deshalb 2011 alle Soldaten aus dem Irak ab, nachdem sich die Lage dort beruhigt hatte. In Afghanistan, wo sich die Taliban neu formierten und die Truppen von Regierung und NATO mit Anschlägen überzogen, verdreifachte Obama die Zahl der Streitkräfte hingegen auf 130 000, um das Land zu stabilisieren. Auch nach dem Ende des Kampfeinsatzes 2014 blieben bis zu 10 800 Soldaten dort stationiert. Sie sollten die afghanische Armee ausbilden und Anti-Terrormaßnahmen durchführen.

Neue militärische Verwicklungen wollte Obama vermeiden. Er setzte auf eine diplomatische Lösung des Nuklearkonflikts mit dem Iran, die er 2015 erreichte. Im 2011 ausgebrochenen libyschen Bürgerkrieg unterstützte der Präsident Frankreich und Großbritannien dabei, die Aufständischen mit Luftangriffen auf die Truppen von Muammar al-Gaddafi zu schützen; doch die Stationierung von Friedenstruppen nach dem Sturz des Diktators kam für ihn nicht in Betracht. Beim Überfall Russlands auf die Ukraine 2014 überließ Obama es Bundeskanzlerin Angela Merkel, sich um einen Waffenstillstand zu bemühen. Und er begrüßte es, dass Frankreich in Mali und in der Zentralafrikanischen Republik die Führung beim Kampf gegen islamistische Rebellen übernahm.

In den Bürgerkrieg in Syrien griffen die USA zunächst nicht militärisch ein. Selbst als dessen Diktator Baschar al-Assad im Sommer 2013 Chemiewaffen gegen die Opposition einsetzte, hielt sich Obama zurück, obwohl er dies zu Beginn des Konflikts als "rote Linie" bezeichnet hatte. Erst als die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) 2014 große Teile Syriens und des Iraks eroberte, wurden die USA aktiv. Sie begannen, die verbündeten kurdischen und irakischen Truppen mit Waffen, Spezialkräften und Luftschlägen gegen den IS zu unterstützen. Ende 2017 war die Terrororganisation im Irak, Anfang 2019 in Syrien besiegt.

Mit der Reduzierung der Rolle in der Welt, die der Präsident den USA verordnete, fand er sich im Einklang mit der Bevölkerung. Bis zu einem gewissen Maß war sie ohne Alternative, nach der imperialen Überdehnung beim Anti-Terror-Krieg und angesichts der eigenen sozialpolitischen Probleme benötigte das Land eine Phase der Neuordnung seiner Prioritäten. Der Rückzug barg jedoch auch Gefahren – für die USA und die Welt.

Denn viele Bündnispartner verloren das Vertrauen, dass die US-Regierung ihnen im Ernstfall zu Hilfe eilen und ihre Beistandspflichten einhalten würde. Außerdem ermunterte der Rückzug globale und regionale Rivalen, in das hinterlassene Machtvakuum vorzustoßen. Dass Obama Ankündigungen oft keine Taten folgen ließ, den Bruch internationaler Abkommen nicht bestrafte – wie im Fall des syrischen Giftgaseinsatzes oder der russischen Invasion in der Ukraine – und im Arabischen Frühling alte Verbündete wie Ägyptens Staatschef Hosni Mubarak nicht unterstützte, verstärkte Sorgen über die Handlungsbereitschaft der USA. Im Mittleren Osten, etwa in Israel, Saudi-Arabien und den Golfemiraten, glaubte man immer weniger daran, dass Washington den Iran notfalls mit Gewalt am Bau von Nuklearwaffen hindern würde. Und in Japan, Australien, den Philippinen oder Indonesien wuchsen die Zweifel an der Entschlossenheit der USA, Pekings Expansion im Südchinesischen Meer entgegenzutreten.

America First

War während des Kalten Krieges das Versprechen einer starken Außenpolitik ein Plus für jeden Präsidentschaftskandidaten gewesen, so gewann danach stets der Bewerber, der einen Rückzug aus globalen Verpflichtungen versprach. Donald Trump (2017–2021) führte die bei vielen Wählerinnen und Wählern verbreitete Frustration über die Rolle der USA in der Welt in eine neue Dimension. Mit dem Rückenwind von Interventionsfiaskos, den Folgen der globalen Finanzkrise und IS-Terror belebte er unter dem Slogan America First drei alte außenpolitische Ideen neu: den Isolationismus, den Nationalismus und den Unilateralismus.

Trumps Weltbild kannte keine internationalen Abhängigkeiten, multilateralen Kooperationen und gewachsenen Alli­anzen, sondern allein den Glauben an die eigene Macht. Außenpolitik verstand der US-Präsident rein geschäftsmäßig als Abwicklung von punktuellen, in erster Linie wirtschaftlichen Transaktionen, wobei Verlässlichkeit, Transparenz und Vertrauen keine Rolle spielten. Deshalb konnten Partner rasch gewechselt werden, Freunde sich schnell in Gegner verwandeln – und umgekehrt. Trump bewunderte autoritäre Führer, weil sie ohne innenpolitische Rücksichtnahme Deals aushandeln können. Fast manisch verfolgte er das Ziel, die Außenpolitik Obamas, die er als Symbol US-amerikanischer Schwäche sah, auszuradieren. Wie bei allem in seinem Leben ging es ihm letztlich jedoch primär um Selbstglorifizierung. Wenn es eine Trump-Doktrin gab, so bestand sie darin, ihn als starken Führer erscheinen zu lassen. Dieses Muster zeigte sich in seinen wichtigsten Initiativen.

Die zentrale Herausforderung für die USA ist der Aufstieg Chinas. Nachdem sich Peking lange Zeit außenpolitisch zurückgehalten hatte, folgte nach der globalen Finanzkrise 2008/09 und insbesondere nach dem Amtsantritt Xi Jinpings 2012 eine Kehrtwende. Die Führung der Kommunistischen Partei, die eine maßgebliche Rolle bei der Bewältigung der Krise gespielt hatte, fühlte sich nun stark genug, ihre Diktatur im Innern wieder mit allen Mitteln durchzusetzen und im Äußeren aggressiv aufzutreten. Trump erkannte dies klarer als seine Vorgänger und erhob China zum Hauptgegner der USA. Anstatt jedoch Bündnisse zu schmieden und Peking auf allen Feldern entgegenzutreten, setzte er auf einen Alleingang und fokussierte sich auf die Handelsbilanz. Der Erfolg blieb aus: Am Ende seiner Amtszeit war China in einer stärkeren Position, auch weil es das von Trump geschaffene Führungsvakuum bei Freihandel und Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie sowie im Mittleren Osten und in Europa geschickt füllte. Dasselbe galt für den zweiten großen Rivalen, Russland. Der Präsident schwächte die USA auch gegenüber Moskau: durch sein unkritisches Verhalten gegenüber Wladimir Putin, sein Herunterspielen von russischen Cyberattacken und Desinformationskampagnen, sein Unterminieren der Sicherheit der Ukraine, am meisten aber durch die Sabotage von NATO und EU sowie die Handelskonflikte mit Verbündeten. Hätte sich der Kongress nicht immer wieder quergelegt, wäre der Schaden noch größer gewesen.

In Westasien scheiterte Trumps Politik ebenfalls. In Syrien und Afghanistan sowie gegenüber dem Iran, der Türkei und den Kurden beschädigte sein Zickzackkurs den Einfluss Washingtons. Die Aufkündigung von Obamas Atomabkommen und die Politik des "maximalen Drucks" ließen Teheran nicht wie von Trump versprochen einlenken. Stattdessen reicherte das Land Uran über die vereinbarten Grenzen hinaus an und baute seine Stellung in der Region aus. Saudi-Arabien unterstützte Präsident Trump selbst nach der brutalen Ermordung des Regimekritikers Jamal Khashoggi, weil er den wichtigsten Käufer US-amerikanischer Waffen nicht brüskieren wollte. Allerdings reagierte er nicht, als der Iran eine US-Drohne abschoss und von ihm kontrollierte Milizen saudische Ölanlagen angriffen.

Im syrischen Bürgerkrieg ließ Trump Stellungen Assads bombardieren, als dieser zum wiederholten Mal Giftgas einsetzte. Er besaß jedoch keine Strategie für ein Ende des Krieges. Mit Hilfe Russlands und des Irans gewann Assad die Hoheit über den Großteil des Landes zurück. Mit dem überhasteten Abzug amerikanischer Verbände aus Nordsyrien lieferte der Prä­sident die verbündeten Kurden türkischer Aggression aus und beschädigte den Ruf der USA als verlässlicher Partner weiter. In Afghanistan erhöhte er zunächst die Zahl der Truppen auf 14 000 Soldaten und verstärkte die Drohnenangriffe auf die Islamisten. Im Wahlkampfjahr 2020 schloss er indes ein Abkommen mit den Taliban, das die schwache Regierung in Kabul für einen schnellen Abzug in Stich ließ.

Einen Erfolg Trumps stellte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen vier arabischen Staaten (Bahrain, Vereinigte Arabische Emirate, Sudan, Marokko) und Israel dar. Doch der Preis dafür war hoch: Das Kernproblem des Nahostkonflikts, das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser, blieb ausgeklammert. Durch die bedingungslose Unterstützung der israelischen Regierung und die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem sabotierte Trump die international vereinbarte Zwei-Staaten-Lösung und gab Washingtons beanspruchte Rolle als ehrlicher Makler auf. Damit rückte ein umfassender Frieden in der Region in noch weitere Ferne.

Anhängerinnen und Anhänger des Präsidenten behaupten, im Gegensatz zu seinen Vorgängern seit Jimmy Carter (1977–1981) habe er keinen neuen Krieg begonnen. Richtig ist: Trump ließ syrische Stellungen, die Taliban, russische Söldner und den IS bombardieren. Er führte mehr Drohnenangriffe in Somalia und im Jemen durch als seine beiden Vorgänger zusammen und erhöhte sie in Afghanistan dramatisch. Dort verdreifachte sich die Zahl getöteter Zivilisten im Vergleich zu 2016. Prominentestes Opfer eines Drohneneinsatzes war Anfang 2020 der iranische General Quasem Suleimani, was die angespannte Lage am Persischen Golf verschärfte. Trump stellte sich zudem vorbehaltlos hinter Saudi-Arabiens Krieg im Jemen und lieferte dazu die Waffen. Durch martialische Rhetorik bei gleichzeitiger Unentschlossenheit manövrierte er sich in die schlechteste aller Positionen: Gegner fühlten sich provoziert, Partner verraten.

Nirgendwo wurde Trumps Hang zur Show sichtbarer als bei seinen drei Gipfeltreffen mit Kim Jong-Un. Unvorbereitet und ohne diplomatische Erfahrung ging der Präsident davon aus, dass er den nordkoreanischen Diktator, dem er wenige Monate zuvor noch "Feuer und Zorn" der USA angedroht hatte, durch Schmeicheleien und wirtschaftliche Anreize zur Aufgabe seiner Atomwaffen bewegen könnte. Doch Kim Jong-Un führte den selbsterklärten großen Dealmaker vor: Er bekam prestigeträchtige Treffen mit dem US-Präsidenten und trieb parallel seine Nuklearrüstung und Raketenentwicklung voran. Washington dagegen stand mit leeren Händen da.

Trumps schlimmster Fehler war die Abkehr von der liberalen internationalen Ordnung, die die USA nach 1941 geschaffen und die alle Präsidenten seither gepflegt hatten – auch, weil sie den USA selbst am meisten nützte. Ihren Kern bilden die multi- und bilateralen Bündnisverträge mit fast 70 Nationen. Trumps ganzes Unverständnis für strategische Zusammenhänge wurde vor allem dadurch offenbart, dass er nicht erkannte, welch politisches und militärisches Gewicht das Allianzsystem Washingtons gegenüber Rivalen wie China und Russland hatte.

Mit einem NATO-Austritt zu spielen, den Brexit zu unterstützen, die EU zum Feind zu erklären, die Beziehungen zu langjährigen Partnern in Ostasien und Europa wegen Handelsdisputen zu gefährden – das ließ die Rivalen des Westens triumphieren. Was Moskau und Peking mit ihrer Droh- und Erpressungspolitik nicht erreichten, nämlich die Bande zwischen den Demokratien zu schwächen, lieferte ihnen Trump frei Haus. Anstatt Gegnern konsequent entgegenzutreten, bestehende Allianzen zu stärken und neue zu begründen, kündigte er die Mitgliedschaft der USA im Pariser Klimaabkommen, in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie in diversen Rüstungskontrollverträgen auf, beschädigte alte Partnerschaften und trieb potenzielle Verbündete in die Arme von Widersachern.

Neue Mission: Einhegen Chinas und Unterstützung der Ukraine

US-Präsident Joe Biden (2021–) versprach einen Bruch mit der Außenpolitik seines Vorgängers. Amerika sei als Bündnispartner nach den vier wirren Trump-Jahren zurück, verkündete er bei jeder Gelegenheit. Biden betonte die Bedeutung internationaler Allianzen, insbesondere der NATO, führte die USA ins Klimaabkommen und in die WHO zurück und entschärfte Streitpunkte mit wichtigen Partnern wie Deutschland. Trump, aber auch Obama hatten Berlin wegen seiner niedrigen Verteidigungsausgaben, seiner enormen Handelsbilanzüberschüsse und seinem Festhalten am Nord-Stream-2-Projekt, einem Gasgeschäft mit Russland, scharf kritisiert. Biden hielt sich hingegen zurück in der Hoffnung, in Deutschland einen Partner für sein zentrales internationales Projekt zu finden: die Einhegung Chinas.

Diesem Ziel ordnete Biden in seinem ersten Amtsjahr alles andere unter. Er reduzierte das Engagement im Mittleren Osten weiter und versuchte, das Atomabkommen mit dem Iran zu erneuern. Ende August 2021 beendete die US-Regierung den fast 20-jährigen Militäreinsatz in Afghanistan. Der chaotische Abzug weckte jedoch Zweifel an Kompetenz und Zuverlässigkeit der Regierung. Zugleich begann Biden, alte Koalitionen gegen China wiederzubeleben und neue zu gründen: Er lud die Staats- und Regierungschefs Japans, Australiens und Indiens im September 2021 zum ersten Gipfel des Quadrilateralen Sicherheitsdialogs (Quad) ein, er initiierte im selben Monat das trilaterale Militärbündnis AUKUS (Australien, United Kingdom, United States), das sich gegen den wachsenden Einfluss Chinas in der Indopazifik-Region richtet, und er organisierte einen "Gipfel für Demokratie", zu dem 110 Länder, darunter einige mit demokratischen Defiziten, eingeladen waren und der sich von Diktaturen abgrenzen wollte.

Früher als andere Staats- und Regierungschefs erkannte Biden, dass Russland in der Ukraine einmarschieren würde. Geschickt versorgte er Verbündete und Öffentlichkeit mit US-Geheimdienstinformationen und untergrub damit die Desinformationskampagne des Kremls. Nach der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 schmiedete Biden eine breite westliche Koalition, die Kyiv mit Sanktionen gegen Moskau, finanziellen und humanitären Hilfen sowie Waffen unterstützt. Die USA liefen der Ukraine mit Abstand die meisten Rüstungsgüter für ihre Verteidigung und sichern damit ihr Überleben. Parallel signalisieren sie Russland, dass es kein direktes Eingreifen der NATO und damit keine militärische Eskalation geben würde. Ohne US-amerikanische Führung und Ressourcen wäre eine ge- und entschlossene Antwort des Westens unmöglich gewesen.

Fazit: die USA als unverzichtbare Nation

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bildet die massivste und akuteste Herausforderung für die liberale internationale Ordnung, die die USA und Europa nach 1945 aufgebaut haben. Ob Unverletzlichkeit von Grenzen, nationale Selbstbestimmung und friedliche Kooperation weiter zu den Prinzipien globaler Politik gehören, hängt entscheidend davon ab, ob die Aggression Moskaus zurückgeschlagen werden kann. Langfristig geht die größte Gefahr für diese westliche Ordnung indes von China aus, das ökonomisch und politisch viel mächtiger ist als Russland. Es will die liberale Ordnung nicht militärisch zerstören wie Moskau, sondern Schritt für Schritt durch ein ganz auf Peking zugeschnittenes System ersetzen.

Die USA werden künftig nicht mehr so selbstverständlich globale Führung übernehmen, wie das im Kalten Krieg und in den beiden Jahrzehnten danach der Fall war. Doch nur sie verfügen über die Macht, dem Zerfall der westlichen Ordnung wirkungsvoll entgegenzuwirken. Aber es gibt offene Fragen: Können die USA nach Trumps Angriff auf die Demokratie ihre Rolle als weltanschaulicher Vorreiter des Westens wiedererlangen und ist die Bevölkerung zu neuem internationalen Engagement bereit? Und gelingt es Washington, neben den asiatischen Partnern die EU und vor allem Deutschland für die Verteidigung dieser Ordnung zu gewinnen? Nur bei positiver Beantwortung beider Fragen können die USA ihre Rolle als "unverzichtbare Nation" (so die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright) in der Weltpolitik weiterhin spielen. Sollte Trump 2024 jedoch ein weiteres Mal zum Präsidenten der USA gewählt werden, würde dies das Land und die internationale Politik erneut durcheinanderwirbeln. Ein großer Leidtragender einer solchen Entwicklung wäre auch Europa, das sich nach wie vor ohne US-Militär nicht selbst verteidigen kann und ohne Führung aus Washington sicherheitspolitisch handlungsunfähig ist.

QuellentextDie USA zwischen Konkurrenz und Kooperation

Schon in seinem Vorwort zur neuen amerikanischen Stra­tegie zur nationalen Sicherheit (NSS), am 12. Oktober [2022] veröffentlicht, macht US-Präsident Joe Biden das Problem deutlich: "Wir befinden uns mitten in einem strategischen Wettbewerb, bei dem es darum geht, die Zukunft der internationalen Ordnung zu gestalten. Zugleich erfordern gemeinsame Herausforderungen, die die Menschen überall betreffen, zunehmende globale Kooperation."

Das Einerseits-andererseits durchzieht das gesamte Do­kument. Auf der einen Seite wollen und müssen die USA den wachsenden Machtansprüchen Chinas und Russlands entgegentreten. Auf der anderen Seite müssen sie mit diesen Konkurrenten, mit denen sie um die Vormacht kämpfen und die zugleich die liberale internationale Ordnung schwächen wollen, zusammenarbeiten.

Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan, der als der prä­gende Kopf hinter der Strategie gilt, hat dieses Dilemma bei seiner Vorstellung der NSS so dargestellt: "Wir sind in ein entscheidendes Jahrzehnt eingetreten mit Blick auf zwei grundlegende strategische Herausforderungen: Die erste ist der Wettbewerb zwischen den Großmächten, der darin besteht, die Zukunft der internationalen Ordnung zu gestal­ten, die zweite, mit transnationalen Herausforderungen wie Klimawandel, Ernährungssicherheit, Pandemien, Terrorismus, Energiewandel und Inflation umzugehen."

Beide Probleme sind gleichermaßen drängend, führen aber zu Strategien, die im Widerspruch zueinanderstehen: Chinas und Russlands Dringen auf regionale Hegemonie wie auch auf eine Änderung der globalen Regeln zwingt die USA dazu, auf Konfrontationskurs zu gehen. Der Klimawandel und andere globale Probleme hingegen müssten im Konsens und in der Kooperation der großen Mächte angegangen werden.

Doch die einfache Lösung, den geopolitischen Wettbewerb zu ignorieren, um sich auf globale Zusammenarbeit zu fokussieren, funktioniert nicht. […] Die größte Herausfor­derung der internationalen Ordnung kommt von "Mächten, die autoritäre Herrschaft mit einer revisionistischen Außenpolitik verbinden". China und Russland hätten, so die NSS, nach dem Kalten Krieg von der internationalen Ordnung profitiert – sie habe ihnen wirtschaftlichen Aufstieg und geopolitischen Einfluss ermöglicht. "Und doch kamen sie zu dem Schluss, dass der Erfolg einer freien und offenen, regelbasierten internationalen Ordnung eine Bedrohung für ihre Regime darstellte." Beide versuchten jetzt, "die in­ter­nationale Ordnung umzugestalten, um eine Welt zu schaf­­fen, die ihrer auf persönliche Herrschaft und Repression ausgerichteten Art von Autokratie förderlich ist".

Russland erscheint mit seiner "imperialistischen Außenpolitik" kurz- und mittelfristig als eine Herausforderung, der man mit "constrainment", einer aktualisierten Form von "containment", also Eindämmung, entgegentreten muss.

Der eigentliche Wettbewerber aber, der amerikanische Macht und zugleich die liberale internationale Ordnung existenziell bedroht, ist für die Biden-Regierung ganz klar China: "Peking hat die Ambition, eine vergrößerte Einflusssphäre im Indopazifik aufzubauen, und will die führende Weltmacht werden. Es benutzt seine technologischen Fähigkeiten und seinen wachsenden Einfluss in internationalen Organisationen, um günstigere Bedingungen für sein autoritäres Modell zu schaffen und um den Gebrauch und die Normen globaler Technologie so zu gestalten, dass sie seine Interessen und Werte begünstigen." Zugleich aber ist China auch "von zentraler Bedeutung für die globale Wirtschaft und hat einen bedeutenden Einfluss auf gemeinsame Herausforderungen, insbesondere Klimawandel und globale Gesundheit". Angesichts dessen kommt die NSS zu dem hoffnungsfrohen Schluss: "Es ist möglich für die USA und China, friedlich zu koexistieren und gemeinsam den Fortschritt der Menschheit voranzutreiben." Wie genau dies möglich sein soll, verrät die neue amerikanische Sicherheitsstrategie jedoch nicht. Den Grundwiderspruch zwischen "geopolitische Konkurrenten ausmanövrieren" und "gemeinsame Herausforderungen zusammen angehen" vermag sie nicht aufzulösen.

Was die NSS anbietet, um mit dem Dilemma umzugehen, ist ein "zweispuriger Ansatz": Auf der einen Seite "werden wir mit jedem Land, auch mit unseren geopolitischen Rivalen, kooperieren, wenn es bereit ist, konstruktiv mit uns bei diesen gemeinsamen Herausforderungen zusammenzuarbeiten". Auf der anderen Seite "werden wir unsere Kooperation mit Demokratien und gleichgesinnten Staaten vertiefen". Die Kooperation mit Demokratien und gleichgesinnten Staaten ist der leichte Teil. Die wachsende Aggressivität Russlands und Chinas treiben die traditionellen Alliierten und Partner der USA wieder sehr eng an Amerikas Seite. Dass aber Peking und Moskau sich auf Kooperation einlassen könnten, wird nur mit vagen Hoffnungen begründet. China habe, heißt es in der NSS, "gemeinsame Interessen mit anderen Ländern, darunter den USA, wegen einer Anzahl von wechselseitigen Abhängigkeiten bei Klima, Wirtschaft und öffentlicher Gesundheit". Und Russland habe "auch ein gewisses Interesse an der Kooperation mit Ländern, die seine Vision nicht teilen, insbesondere im globalen Süden". Infolgedessen haben die USA und ihre Alliierten und Partner "Gelegenheit, das externe Umfeld Chinas und Russlands zu gestalten in einer Weise, die ihr Verhalten beeinflusst, auch wenn wir gleichzeitig mit ihnen im Wettbewerb stehen".

Konkreter wird die neue amerikanische Sicherheitsstrategie nicht. Sie löst das Dilemma der Gleichzeitigkeit von Konfrontation und Kooperation nicht auf. Aber immerhin wird es klar benannt. […]

Die Biden-Regierung bringt jetzt beide Dimensionen zusammen. Sie erkennt die Realität des Wettbewerbs mit seinen macht- und systempolitischen Aspekten an. Zugleich aber sieht sie die Notwendigkeit, zu Wegen der Kooperation zu finden, trotz allen Spannungen und Konflikten. Dass sie die magische Formel, wie dieser Gegensatz zu überwinden wäre, nicht gefunden hat, ist zwar bedauerlich; dadurch widerspiegelt sie aber den Stand der Dinge wie auch den Stand der Debatte. Damit ist das zentrale strategische Dokument der Biden-Regierung zumindest ehrlich und legt den Finger in die Wunde.

Ulrich Speck, "Amerikas neue Sicherheitsstrategie laviert zwischen Konkurrenz und Kooperation", in: Neue Zürcher Zeitung vom 19. Oktober 2022

Stephan Bierling, Dr. phil., geb. 1962, Professor für Internationale Poli­tik mit Schwerpunkt transatlantische Beziehungen an der Universität Regensburg.