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Politik mit Geschichte – Geschichtspolitik?

Peter Steinbach

/ 11 Minuten zu lesen

Die mitunter heftigen Auseinandersetzungen um Denkmäler, Museen und Gedenktage zeigen: Deutungen der Vergangenheit sind immer auch ein Politikum. Geschichtspolitik lässt sich nicht abschaffen. Aber sie lässt sich durchdringen und durchschauen.

Wendepunkt in der kollektiven Erinnerung: Am 40. Jahrestag des 8. Mai bezeichnet Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Ansprache im Bundestag 1985 den Tag als "Tag der Befreiung". (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Geschichte ist vor allem in einer pluralistischen Gesellschaft umstritten und wird nicht selten zum Politikum. Das zeigte sich in Deutschland vor allem seit Mitte der achtziger Jahre. Bis dahin waren Gedenktage häufig unspektakulär und wenig kontrovers verlaufen. Erstmals schien Ende der sechziger Jahre mit dem 50. Jahrestag der deutschen Novemberrevolution ein politisches Datum bewusst gefeiert zu werden.

Das spiegelte im Jahr der Gründung der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brand und Walter Scheel einen politischen Wandel, der dann zwei Jahre später mit dem 100. Jahrestag der Reichsgründung noch einen besonderen geschichtspolitischen Akzent durch die Gründung der Erinnerungsstätte an die deutsche Freiheitsbewegung in Rastatt erhielt.

Seitdem aber diskutierten die Deutschen immer intensiver über die angemessene Form des Gedenkens: Angesichts des Kriegsendes 1975 und vor allem dann 1985, im Jahr der berühmten Weizsäcker-Rede. Inzwischen war die Auseinandersetzung um die Geschichte zu einem Politikum geworden, bei dem es äußerlich um die Reflexion von Grundlagen des Geschichtsverständnisses und Geschichtsbildes, theoretisch um Fragen politischer Identität, im Kern aber um den Kampf ging, der einer Klärung von Begriffen und damit auch von Deutungsinhalten und Vorstellungen von der Vergangenheit in der Gegenwart vorausging.

Geschichtspolitik zielte also nicht nur auf das Bild von der Vergangenheit, sondern es ging um die Macht über Köpfe, ging um die Beeinflussung von Zukunft. Aber die Politik mit Geschichte war auch mehr als ein Streit um Begriffe, die für historisch legitimierte politische, gegenwärtige Bewertungen standen. In den achtziger Jahren war Deutschland noch geteilt, und neben den aktuellen Kontroversen, die vor allem in der Bonner Bundesrepublik nur die westdeutsche Gesellschaft mit den immer wieder aufbrechenden Debatten etwa über das Jahr 1968 und dessen Folgen aufbrachen, schienen in wesentlichen Fragen, die die Zeit zwischen Kaiserreich und Kaltem Krieg betrafen, zwei deutsche Geschichtsbilder aufeinander zu prallen. Das zeigte sich vor allem in der Auseinandersetzung um Weizsäckers Rede zum 9. Mai 1945 – für die einen Ausdruck innerer Befreiung, für die anderen Beispiel einer integrativen Rede, die jedem – vom Ausgebombten über den Vertriebenen bis zum Kriegsgefangenen – lebensgeschichtliche Anknüpfungsmöglichkeiten bot. Im Zusammenhang mit dieser Debatte zeichneten sich erstmals Konturen einer heftigen Auseinandersetzung ab, die man wenig später "Historikerstreit" nannte. In dieser Kontroverse fiel dann erstmals ein neuer Begriff, der ein zukünftiges "Politikfeld" markieren sollte: "Geschichtspolitik".

Deutung der Geschichte

Gewiss gab es in der Nachkriegszeit immer Streit um die Deutung der Geschichte. In pluralistischen Gesellschaften spielt sich dieser Streit in den Medien ab, Betroffene können reagieren, kritisieren, alternative Deutungen entfalten und durchsetzen. Die Regierung fungiert im Westen als Akteur geschichtspolitischer Auseinandersetzungen. Sie kann Gedenkveranstaltungen prägen, Gedenkstätten einrichten, Museen ausstatten, durch Reden Akzente setzen. Ihre Interpretation der Vergangenheit können Regierungen aber in der Regel nicht ohne weiteres durchsetzen, denn bürgerschaftliches Engagement führt zu Initiativen, die Korrekturen der Deutungen bewirken und auf die Politiker nur reagieren können. Bürgerschaftliches Engagement zielt auf die Errichtung wichtiger Gedenkstätten, die angemessene Würdigung von Orten des Leidens und der Verfolgung, und immer wieder werden Gefängnisse, Konzentrationslager oder sogar brach liegende Gelände wie das Grundstück der ehemaligen Gestapo-Zentrale in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße vor dem Vergessen bewahrt.

Bürgerschaftliches Engagement ermöglicht so vielfach Erinnerung, wie Regierungsstellen zum Handeln veranlasst werden. So ist seit den achtziger Jahren das Jüdische Museum und das Denkmal für die ermordeten Juden Europas entstanden, so wurde die Initiative zur Errichtung der Topographie des Terrors zum Erfolg. Zugleich werden Versuche, Museen mit staatsoffizieller Unterstützung zu errichten, durch gesellschaftliche Initiativen verändert und verbessert, wie das "Haus der Geschichte" und auch das "Deutsche Historische Museum" zeigen. Nach 1989 erstreckt sich das Interesse auf ähnliche Einrichtungen, die der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte und der deutschen Teilung dienen. Immer kommt es zu Konflikten, aber unter dem Strich ist das Ergebnis derartiger Auseinandersetzungen ein gesellschaftlich akzeptierter politischer Kompromiss.

Erinnerungskontroversen

In diktatorischen Systemen schalten sich in der Regel die Herrscher persönlich in diesen Kampf ein und betreiben Geschichtspropaganda. Das macht die geschichtspolitischen Auseinandersetzungen im geteilten Deutschland so brisant. Seit den achtziger Jahren ging es deshalb nicht mehr nur um Deutungen der Vergangenheit, sondern um die Ausgestaltung von Institutionen wie Museen, Denkmäler, Gedenkstätten oder Gedenkfeiern. Begonnen hatte der Streit um historische Deutungen im Spannungsfeld der "politischen Generationen" bereits mit der Auseinandersetzung um die Schuld der Deutschen am Ersten Weltkrieg, der berühmten "Fischer Kontroverse" in den sechziger Jahren. Neue Aktenfunde machten in den fünfziger Jahren deutlich, dass das Kaiserreich keineswegs in den Weltkrieg "hineingeschlittert" war, sondern dass die deutsche Führung die kriegerische Auseinandersetzung 1914 gesucht hatte. Damit stellte sich das Kontinuitätsproblem: Lag der Keim für den nationalsozialistischen Griff nach der Weltherrschaft nicht in der Wilhelminischen Zeit?

Aber erst Mitte der Achtziger hatte sich die Auseinandersetzung auf einer anderen Ebene erneut und zunächst fast unbemerkt zugespitzt. Er schien zunächst vor allem die Gegensätze zwischen Achtundsechzigern und den Vorachtundsechzigern zu spiegeln. Der Streit wurde sehr schnell in den Zusammenhang der geschichtspolitischen Kontroversen gerückt, die mit dem Regierungsantritt von Helmut Kohl begonnen hatten. Dabei ging es nicht allein um die Deutung der Zeitgeschichte: im Zentrum stand das Verhältnis der Deutschen zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen als ein planvoll verwirklichter und bewusst intendierter Akt.

Wohl immer versuchen politische Führungsgruppen, Identitäten durch eine sinnhafte Deutung der Vergangenheit zu schaffen. Und immer werden dann Historiker zu Mitspielern der Politik. 1988 klang diese Auseinandersetzung in einigen Buchveröffentlichungen von Historikern an, die in der Kontroverse um den Ort von Auschwitz in der deutschen Geschichte die folgerichtige Fortsetzung grundsätzlicher Auseinandersetzungen um die Erforschung und Deutung deutscher Geschichte auch in politischer Absicht sahen. Rasch bemächtigen sich Außenstehende aus politischen Gründen dieses Streits: Die Deutung der Geschichte steht unter dem Einfluss verschiedener Interessen. Auseinandersetzungen der Historiker fordern die Öffentlichkeit heraus. Deshalb knüpfte die geschichtspolitische Kontroverse an den bereits erwähnten ersten Streit deutscher Historiker, die Fischer-Kontroverse über die deutsche Kriegsschuld 1914, an. Es ging aber nicht allein um die Frage nach der deutschen "Kriegsschuld" im Ersten Weltkrieg, sondern um die bewertende Verortung des "Dritten Reiches". Wie tief, so fragte man, reichen dessen Wurzeln - wie viel vom Wurzelwerk des deutschen Obrigkeitsstaates beeinflusste die deutsche Demokratie nach dem Ende des NS-Staates? Auf dem Höhepunkt der so genannten Fischer-Kontroverse hat einmal ein unaufgeregter und klug distanzierter Beobachter der Wochenzeitung "Die Zeit" formuliert, der Streit zwischen den Geschichtswissenschaftlern sei stets eine wesentliche Voraussetzung für den Erkenntnisfortschritt innerhalb des Faches gewesen. Es war die Hoffnung, dass auch der Historikerstreit diese Wirkung entfalten könnte. Diese Hoffnung trog allerdings.

Dies gilt allerdings nur für die wissenschaftliche Kontroversen, hingegen weniger für geschichtspolitische Auswirkungen dieses "Historikerstreits", der 1986 scheinbar aus der Frage erwuchs, ob man die nationalsozialistische Diktatur mit anderen Diktaturen vergleichen könne, und eigentlich die Frage in den Mittelpunkt rückte, was letztlich und eigentlich für den Nationalsozialismus "ursächlich" sei. Die Antwort musste klar sein: Singulär für die deutsche Geschichte war der Völkermord an den europäischen Juden. Hier lag ein entscheidender Bezugspunkt für das deutsche Geschichtsbewusstsein. Niemand forderte, es solle "in Auschwitz aufgehen". Unstrittig war aber die Bedeutung dieses Tiefpunkts deutscher Vergangenheit für die Konditionierung einer historisch reflektierten politischen Nachkriegsethik. Vor allem dieser letzte Aspekt machte die Kontroverse zum Politikum. Bei dieser Auseinandersetzung ging es nämlich nicht mehr um die Absicherung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse auf der Grundlage neuer Quellen oder methodologischer Kritik, sondern es ging zu einem ganz wesentlichen Teil um die Akzentuierung des Stellenwerts zeithistorischer Argumente für die Politik. Es ging also um gedeutete Politik, nicht um die Rekonstruktion einer Vergangenheit, die nicht vergehen kann – schlicht: weil sie war.

Aber um die Anerkennung und das Verständnis des nicht mehr Veränderlichen geht es der Geschichtspolitik. Dies berührte vor allem die Grenzfrage. Bis in die sechziger Jahre hinein verzeichneten deutsche Atlanten die deutschen Grenzen nach dem Stand des Jahres 1937 und wiesen darauf hin, dass die deutschen Ostgebiete nur unter "polnischer Verwaltung" stünden. Irgendwie schien das Kriegsende offen, solange nicht ein förmlicher Friedensvertrag geschlossen sei. Mit der Ostdenkschrift setzte die Evangelische Kirche zwar andere Akzente, aber dies führte ebenso zu geschichtspolitischen Kontroversen wie in den siebziger Jahren die Ostverträge. Auf der anderen Seite wurde die europäische Integration geschichtspolitisch abgesichert, blickte man weit in die Geschichte zurück, um europäische Gemeinsamkeit zu betonen. Geschichte wurde nicht selten konstruiert, um sie gegenwärtigen Interessen einzupassen. Gerade das führte wieder zu politischen Kontroversen, vor allem dann, wenn es um die Erklärung des Scheitern von Demokratien ging.

Geschichtspolitische Strategen wussten: Geschichte ist immer im Kopf. Sie wollen die Filter historischer Wahrnehmung beeinflussen, denn nur dann lässt sich das Eindringen von Geschichtsbildern in die Köpfe der Menschen prägen. Geschichtspolitische Neuakzentuierungen sind deshalb nicht nur Ergebnis von Veränderungen semantischer Bedeutungen, des Kampfes um Begriffe. Sie spiegeln politische Interessen, die mit Hilfe geschichtspolitischer Beeinflussungen und Deutungen durchgesetzt werden sollen. Auch dies zeigte sich deutlich im Historikerstreit. Begriffe wie "Relativierung" oder "Revision" bedeuten wissenschaftlich etwas anderes als im allgemeinen Sprachgebrauch - deshalb sind diese Begriffe nicht nur geeignet, wissenschaftliche Präzisierungen zu erleichtern, sondern auch Missverständnisse zu produzieren. Vielleicht ist die Unschärfe des Begrifflichen sogar beabsichtigt. Denn wenn ein Historiker, der vergleichende Forschungen betreibt, den Begriff der "Relativierung" verwendet, dann deutet er auf diese Weise an, dass er ein Ereignis in eine vergleichende Beziehung zu anderen rückt; wenn jemand im alltäglichen Sprachgebrauch diesen Begriff verwendet, dann bedeutet dies, dass etwas in seiner wahren Bedeutung geschmälert werden solle.

Sprache und Geschichte

Aus dem Spannungsverhältnis von Sprachebenen im Alltag und in der Wissenschaft resultiert der Streit um geschichtspolitisch aufgeladene Begriffe. Semantische Verschiebungen wissenschaftlicher Begriffe in der Alltagssprache lassen sich niemals ganz vermeiden - allerdings hat man gerade deshalb als Wissenschaftler und Pädagoge zu bedenken, wie ein wissenschaftlicher Begriff im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet wird und auch: missverstehen lässt. Die wissenschaftliche Zeitgeschichte wendet sich mit ihren Arbeitsergebnissen an die Öffentlichkeit. Sie zielt auf die Prägung des öffentlichen Bewusstseins und des politischen Selbstverständnisses.

Besonders deutlich wurde dies in den geschichtspolitischen Kontroversen, die die deutsche Öffentlichkeit nach dem Fall der Mauer beschäftigten. Manche Auseinandersetzungen zielten auf grundsätzliche Probleme, etwa auf die Frage nach den Handlungs-Spielräumen des Individuums in der Diktatur, nach der Sensibilität des Westens gegenüber Menschenrechtsverletzungen, nach dem Umgang mit denjenigen, die den SED-Staat getragen oder bekämpft hatten. Es wurde aber wiederholt deutlich, dass geschichtspolitische Kontroversen auch Machtfragen beeinflussen wollen. Immer wieder wurden Politiker angegriffen, weil sie Fehleinschätzungen erlegen waren, wurde das Leben ganzer Bevölkerungsgruppen in Frage gestellt. Höhepunkt war ein Wahlkampf, in dem das Symbol der "roten Socken" benutzt wurde und der für Solidarisierungseffekte sorgte, die nicht selten Reaktionen hervorriefen, die die Fronten weiter verhärteten. Der Zugang zu den Unterlagen der Stasi war umstritten, die Rolle einzelner Politiker wie etwa des Fraktionsvorsitzenden Gysi wurde heftig debattiert, und immer wirkte sich dieser Streit auch auf die Deutung des Alltags aus.

Unbestritten ist, dass jeder historische Streit das Bild der Vergangenheit im Bewusstsein der Öffentlichkeit verändert hat. Geschichte ist nicht mehr allein die vergangene Wirklichkeit, auch nicht mehr die Überlieferung von der Vergangenheit im Kopf - deshalb wohl ist Geschichte zum Politikum geworden, um dessen Deutung man sich streitet, weil man Veränderungen im Bewusstsein der Zeitgenossen bewirken kann. Gedeutete Geschichte beeinflusst das Bild, das der einzelne von der Gegenwart hat, prägt seine Wertvorstellungen, sein Gesellschaftsverständnis, sogar seine Zukunftsvorstellung. Aus diesem Grund war es dem Außenstehenden so schwer, den Anlass geschichtspolitisch brisanter Kontroversen zu benennen, die Auswirkungen zu erkennen und vor allem auch anzugeben, welchen Ertrag der Streit um gedeutete Geschichte gebracht hätte. Deshalb haben wir geschichtspolitische Auseinandersetzungen nicht für historische Realitätsdeutung, sondern als inszenierten Konflikt zu begreifen. Wir haben etwa in der rückblickenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht auf demoskopisch manifeste Empfindungen zu schauen, um diese aus den damaligen Stimmungen zu erklären, sondern wir haben nach der Funktion einer forcierten Virulenz dieser Stimmungslagen zu fragen:

  1. Geht es um die Frage nach der Bedeutung der Vergangenheit für das politische Selbstverständnis der Deutschen?

  2. Steht die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Bolschewismus auf der einen, Nationalsozialismus auf der anderen Seite im Zentrum, oder geht es um Relativierung?

  3. Geht es um die Bedeutung der nationalsozialistischen Zeit für das politische Verhalten in der Gegenwart oder um eine sterile Proklamation unterstellter Bedeutung, die nicht selten ritualisiert wird und sich mit konkreten Alltagskonflikten kaum verbinden lässt?

Diese drei zentralen Fragen spiegeln den Kern einer möglichen Auseinandersetzung mit dem vielzitierten "Zivilisationsbruch" und sind gewiss wichtig. Eines darf allerdings nicht geschehen: dass bei der Beantwortung mit dem Blick auf Gegenwartsstimmungen aus dem Blick gerät, was nationalsozialistische Diktatur bedeutete:

  • Verfolgung der Andersdenkenden

  • Rassenantisemitismus

  • Entrechtung von Juden und Minderheiten

  • Entfesselung eines Rassen- und Weltanschauungskrieges

  • 55 Millionen Tote, darunter sechs Millionen Juden, mehr als drei Millionen russische Soldaten, weit über 20 Millionen Zivilisten

Das Ende des Krieges: es befreite die Menschen von einer schrecklichen Zukunft. Europa im 20. Jahrhundert blieb eine Geschichte der Diktaturen, der Menschenrechtsverletzungen, des politischen Wahnsinns, der verantwortungslosen Vorausverfügungen. Daran ändert auch das geschichtspolitische Erinnerungsgerede nichts, das die Auseinandersetzungen um die Geschichte nicht selten auf das Niveau von Talkshows hebt, die man einmal als "Geredezeig" bezeichnet hat. Geschichtspolitisches "Geredezeig" - und so könnte man Talkshow übersetzen - zielt gerade nicht auf Erkenntnis, sondern auf politische Bewegung durch Stimmungen und Stimmungsmache.

Die zentrale Frage selbstkritischen historisch-politischen Fragens richtet sich wohl immer auf das gleiche Problem. "Wie tief", so fragte man sich immer wieder in Deutschland, "wie tief reichen die Wurzeln der nationalsozialistischen Zeit?" Und zugleich stellte man sich der Frage: "Wie viel vom Wurzelwerk des deutschen Obrigkeitsstaates beeinflusst das Wachstum der deutschen Demokratie nach dem Ende des NS-Staates?" So betrachtet, bleibt der Streit von Historikern immer auch eine politische Kontroverse. Deshalb gehört die Auseinandersetzung mit dem Streit um Geschichte in den Politikunterricht, der Geschichtspolitik als ein neues Politikfeld begreift und analysieren will, weil er den aufklärerischen Anspruch historisch-politischer Bildung ernst nimmt. Deshalb müssen sich Pädagogen, Geschichtswissenschaftler und Publizisten stückweise als Akteure aus den aktuellen Geschichtsdebatten ausklinken – denn in der Analyse von Geschichtspolitik geht es nicht um politisch gefügige Deutung der Vergangenheit, sondern um praktizierte Aufklärung in der Kritik intendierter Geschichtsdeutungen.

Es geht nicht darum, Historiker, Geschichtslehrer und Publizisten in ihrer Funktion als Akteure einer öffentlichen Auseinandersetzung um die Vergangenheit durch Teilnahme an den tagespolitischen Debatten zu stärken, sondern eine Distanzierung von den Streitigkeiten zu erleichtern. In der Durchdringung von Interessen und Machtbestrebungen, die sich des historischen Arguments bedienen und Plausibilität zu suggerieren suchen, liegt ein Moment der Befreiung historisch-politischer Erkenntnis von den tagespolitischen Einflüssen – dies ist eine Voraussetzung der eigenständigen und eigengewichtigen Urteilsbildung. Geschichtspolitik lässt sich nicht abschaffen oder überwinden. Sie bestimmt die Deutung der Vergangenheit in der alltäglichen Politikdarstellung. Aber sie lässt sich durchdringen und auch durchschauen – und so in ihrer verführerischen Brisanz durch suggerierte Schlüssigkeit und politisch instrumentalisierbare Analogiebildung korrigieren. Das ist nicht wenig.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Peter Steinbach ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim und Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.