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Kollektives Gedächtnis

Aleida Assmann

/ 6 Minuten zu lesen

Nationen haben kein Gedächtnis. Dennoch erinnern Namen von Metrostationen und öffentlichen Plätzen an Triumphe und Niederlagen vergangener Tage. Gibt es ein gemeinsames Erinnern? Was unterscheidet das individuelle vom kollektiven Gedächtnis? Aleida Assmann gewährt Einblicke in die Gedächtnisforschung.

Konstruktion eines nationalen Gedächtnisses? Die U-Bahn Station Tolbiac in Paris. Benannt nach der Schlacht bei Zülpich (röm. Tolbiacum). Im Jahr 496 besiegten an diesem Ort die Franken die Alemannen. (© AP)

Der Weg vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis ist nicht der eines einfachen Analogieschlusses. Institutionen und Körperschaften verfügen nicht über ein Gedächtnis nach Art des individuellen Gedächtnisses, denn es gibt dort nichts, was der biologischen Grundlage, der anthropologischen Disposition und den naturwüchsigen Mechanismen des Erinnerns entspricht. Deshalb wurden immer wieder Stimmen laut, die vor dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses als einer reinen Mystifikation warnten. Solche Skepsis sollte jedoch nicht dazu führen, den Begriff gänzlich fallen zu lassen. Denn er zielt auf Phänomene, die durchaus empirisch fassbar sind, und die sich deutlich von den Bedingungen des individuellen Erinnerns abheben.

Gedächtniskonstruktionen

Institutionen und Körperschaften wie Nationen, Staaten, die Kirche oder eine Firma 'haben' kein Gedächtnis, sie 'machen' sich eines und bedienen sich dafür memorialer Zeichen und Symbole, Texte, Bilder, Riten, Praktiken, Orte und Monumente. Mit diesem Gedächtnis 'machen' sich Institutionen und Körperschaften zugleich eine Identität. Dieses Gedächtnis hat keine unwillkürlichen Momente mehr, weil es intentional und symbolisch konstruiert ist. Es ist ein Gedächtnis des Willens und der kalkulierten Auswahl. In drei der genannten Merkmale unterscheidet sich die kulturelle Gedächtnis-Konstruktion signifikant vom individuellen Gedächtnis. Es ist nicht vernetzt und auf Anschlussfähigkeit angelegt, sondern tendiert im Gegenteil dazu, sich von anderen Gedächtniskonstruktionen abzuschließen.

Das Gedächtnis einer Nation nimmt keine Notiz davon, dass jenseits der Grenze andere historische Bezugspunkte gewählt und dieselben historischen Ereignisse in einem ganz anderen Licht erscheinen. Es ist auch nicht bruchstückhaft fragmentiert, sondern stützt sich auf Erzählungen, die wie Mythen und Legenden eine narrative Struktur und klare Aussage haben. Schließlich existiert es nicht als ein labiles und flüchtiges Gebilde, sondern beruht auf symbolischen Zeichen, die die einzelne Erinnerungen auswählen, fixieren, verallgemeinern und über die Grenzen der Generationen hinweg tradierbar machen. Auf die unterschiedlichen Formen der Speicherung, solche der Wiederholung und solche der materialen Dauer, werden wir noch im einzelnen zurückkommen.

Erinnern und Vergessen

Neben diesen deutlichen Unterschieden besteht aber auch eine Gemeinsamkeit. Für das individuelle wie das kollektive Gedächtnis gilt, dass sie perspektivisch organisiert sind. Beide sind nicht auf größtmögliche Vollständigkeit eingestellt, beruhen auf einer strikten Auswahl. Vergessen ist ein konstitutiver Teil des individuellen wie kollektiven Gedächtnisses. Nietzsche hat diesen grundsätzlich perspektivischen Charakter des Gedächtnisses mit einem Begriff aus der Optik beschrieben. Er sprach von 'Horizont' und meinte damit eine standpunktgebundene Eingrenzung des Sichtfeldes. Unter der 'plastischen Kraft' des Gedächtnisses verstand Nietzsche weiterhin die Fähigkeit, eine möglichst klare Grenze zwischen Erinnern und Vergessen aufzubauen, die das Wichtige vom Unwichtigen, oder, genauer: das Lebensdienliche vom nicht Lebensdienlichen scheidet. Ohne diese Filter, so meinte Nietzsche, könne es keine Identitätsbildung (er sprach von 'Charakter') und keine klare Handlungorientierung geben. Allzu vollgestopfte Wissensspeicher führten seiner Meinung nach zu einer Aufweichung des Gedächtnisses und damit zu einem Verlust an Identität.

Das nationale Gedächtnis

Es ist nicht schwer, die Selektionskriterien zu bestimmen, die in für die Anlage eines kollektiven Gedächtnisses bestimmend gewesen sind. Besonders charakteristisch sind in dieser Hinsicht die Konstruktionen eines nationalen Gedächtnisses. Hier geht es regelmäßig um solche Bezugspunkte in der Geschichte, die das positive Selbstbild stärken und im Einklang mit bestimmten Handlungszielen stehen. Was nicht in dieses heroische Bild passt, wird dem Vergessen anheimgegeben. Siege lassen sich leichter erinnern als Niederlagen. Die Metrostationen in Paris kommemorieren die Siege Napoleons, aber keine seiner Niederlagen. In London dagegen, im Lande Wellingtons, gibt es eine Metro-Station mit Namen Waterloo, was ein deutlicher Beleg für den perspektivischen Charakter des kollektiven Gedächtnisses ist. Aber nicht nur ruhmreiche Siege, auch tragische Niederlagen werden im nationalen Gedächtnis kommemoriert, wo eine Nation ihre Identität auf ein Opfer-Bewusstsein gründet, das wachgehalten werden muss, um Widerstand zu legitimieren und heroische Gegenwehr zu mobilisieren.

Ein Beispiel dafür sind die Serben, die die Niederlage im Kosovo im Jahre 1389 in ihren nationalen Heiligenkalender eingeschrieben haben oder die Israelis, die die unter den Römern gefallene Festung Massada zu einem politischen Erinnerungsort gemacht haben. Dieser Erinnerung schwächt nicht, sondern stählt. Deshalb steht das kollektive nationale Gedächtnis unter emotionalem Druck und ist ebenso empfangsbereit für historische Momente der Erhöhung wie der Erniedrigung, vorausgesetzt, dass sie in der Semantik eines heroischen Geschichtsbildes verarbeitet werden können. Auch die Opferrolle ist erstrebenswert, weil sie vom Pathos unschuldigen Leidens verklärt ist. Was dagegen schwer Einlass ins nationale Gedächtnis findet, sind Momente der Schuld und Scham, weil diese nicht in ein positives kollektives Selbstbild integriert werden können. Bis vor kurzem waren traumatische Erfahrungen der Geschichte kaum ansprechbar, weil es dafür keine kulturellen Verarbeitungsmuster gab. Das gilt für die verfolgten und ausgerotteten Ureinwohner verschiedener Kontinente, die verschleppten afrikanischen Sklaven, die Opfer eines Genozids im Schatten des ersten und zweiten Weltkriegs wie die Armenier und die Juden.

Formen einer kollektiven Erinnerung

Erst allmählich bilden sich neue Formen einer kollektiven Erinnerung, die nicht mehr in die Muster einer nachträglichen Heroisierung und Sinnstiftung fallen, sondern auf universale Anerkennung von Leiden und therapeutische Überwindung lähmender Nachwirkungen angelegt sind. Damit verbunden kommt es auch zu einer neuen Bearbeitung der Schuld der Täter in der Erinnerung der Nachkommen, die die dunklen Kapitel ihrer Geschichte nicht mehr mit Vergessen übergehen können, sondern sie im kollektiven Gedächtnis stabilisieren und ins nationale Selbstbild integrieren.

Das bedeutet, dass sich in den letzten Jahrzehnten grundlegende Regeln in der Grammatik des kollektiven Gedächtnisses verändert haben. Das fundamentalste Gesetz des Gedächtnisses, das Prinzip der Auswahl und Horizontbildung, gilt weiterhin, doch ist die Scheidelinie, die das Lebensdienliche vom nicht Lebensdienlichen sonderte, als alleinig herrschendes Auswahlkriterium problematisch geworden. Ehre, triumphierende oder gekränkte, die über Jahrhunderte die Kodes des nationalen Gedächtnisses bestimmt hatte und ihm die Grundstruktur der Auswahl des Erinnerungswürdigen vorgegeben hatte, wird in Zukunft nicht mehr der alleinige Maßstab der Bewertung von Erinnerungen sein. Das hängt mit einem neuen Bewusstsein für die Langzeitfolgen traumatischer Geschichtserfahrungen zusammen, die für die Opfer wie die Täter neue Voraussetzungen für die Organisation des nationalen Gedächtnisses geschaffen haben.

Zu den wichtigsten Neuerungen gehört, dass nunmehr Vergeben und Vergessen ebenso entkoppelt sind wie Erinnern und Rächen. Vielmehr gilt, dass zwischen Tätern und Opfer heute gemeinsames Erinnern als eine wesentlich bessere Grundlage für eine friedliche und kommunikative Zukunft bildet als gemeinsames Vergessen. Die heilende Kraft des Vergessen - "perpetua oblivio et amnesia" lautete noch die Formel im Westfälischen Friedensvertrag - ist der ethischen Forderung der gemeinsamen Erinnerung gewichen.

Das 21. Jahrhundert - transnationale Epoche

Wir leben in einer Epoche, in der die Maßstäbe des Erinnerns und Vergessens einer grundsätzlichen Revision unterworfen werden. All dies wird durch den Umstand weiter gestützt, dass wir mit Übergang ins 21. Jahrhundert in eine transnationale Epoche eingetreten sind. Im Zeitalter der Nationen wurden in Europa die nationalen Gedächtnisse ohne Rücksicht auf die Nachbarstaaten konstruiert. Im einen Lande wurde gefeiert, was man im anderen zu vergessen suchte, im einen wurde gerühmt, was im anderen geschmäht wurde.

Die perspektivischen Konstruktionen des nationalen Gedächtnisses stießen hart aufeinander und bildeten einen problematischen Zündstoff, der nur durch gegenseitige Nichtbeachtung neutralisiert werden konnte. In der Weltgesellschaft sind die Nationen enger aufeinander gerückt, was auch Folgen hat für den Solipsismus ihrer Gedächtniskonstruktionen. Nicht nur sind die Nationen durch technologische Globalisierung enger vernetzt, sie sind auch enger miteinander verbunden durch eine an Größe und Bedeutung wachsende Gruppe nicht unmittelbar beteiligter Beobachter, die über die neuen Kommunikationskanäle universalistische Normen und interkulturelle Standards zu verbreiten suchen.

Diese neue transkulturelle Beobachterperspektive der nicht unmittelbar Beteiligten Dritten löst die spezifischen Horizonte kollektiver Gedächtnisse und kultureller Formationen keineswegs auf, sie hat sie nur im Auge und befragt sie kritisch auf die schädlichen Folgen für wechselseitige nationale und interkulturelle Beziehungen. Gegenwärtig entstehen zum Beispiel in Europa neue Frontlinien entlang solcher Nationen, die sich den Standards einer ethischen Globalisierung unterwerfen und solchen, die dieses nicht tun und auf dem alten Prinzip einer erinnerungspolitischen Selbstbestimmung beharren.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist seit 1993 Professorin für Anglistische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zu Ihrem Forschungsgebiet gehören u.a die Themen: Deutsche Erinnerungsgeschichte nach dem 2. Weltkrieg, kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung und Gedächtnistheorie.