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Das Baltikum: Kleine Staaten im Rampenlicht euro|topics: Europa und der Krieg

Sandra Valtere Maris Hellrand Vytene Stasaityte

/ 6 Minuten zu lesen

Mit dem Beginn des Krieges haben sich die kleinen baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen mit als prominenteste Fürsprecher gegen Moskau und für Kyjiw profiliert. Für die russischsprachigen Minderheiten in Estland und Lettland bedeutet der Krieg ein Dilemma.

Die Flaggen der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. (© picture-alliance, Zoonar | GRAZVYDAS JANUSKA)

Die Sorge vor russischer Aggression ist in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen traditionell groß. 1940 wurden sie von der Roten Armee besetzt, 1944, nach Jahren deutscher Besatzung, in die UdSSR eingegliedert. 1990 wollten sich die baltischen Staaten wieder unabhängig machen. Die Sowjetunion unterdrückte die Proteste zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit brutal, musste im Zuge ihres Zusammenbruchs 1991 aber nachgeben. Nach der Krim-Annexion 2014 war die Sorge im Baltikum groß, dass Russland auch dort angreifen könnte, die verstärkte Stationierung von Nato-Truppen in den Folgejahren milderte diese Befürchtung jedoch.

Als Russland im Sommer 2021 begann, Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzuziehen, waren die baltischen Staaten die ersten, die einen Einmarsch für imminent hielten. Während man in anderen EU-Staaten im Januar 2022 diskutierte, ob Russland vielleicht nur blufft und es sinnvoll wäre, auf seine vorgebrachten Sicherheitsbedenken Externer Link: einzugehen, warnte der litauische Außenminister davor, sich auf Verhandlungen mit Putin einzulassen, weil ihm gegenüber nur eine harte Haltung Erfolg haben könnte.

Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wurde diese Position schließlich auch in der gesamten EU mehrheitsfähig, wie man in Estland mit Genugtuung wahrnahm. So erklärte der estnische Verteidigungsminister Kalle Laanet am 31. März im Interview mit Saarte Hääl: "Estland ist nicht einfach nur herumgelaufen, hat Angst geschürt oder war russophob. Es war in der Tat eine reale Bedrohung, die sich nun verwirklicht hat. Wir werden nicht nur angeschaut, sondern auch gefragt, wie wir uns verhalten könnten. Unsere Meinung wird angehört und berücksichtigt. Betrachtet man die Sicherheitspolitik in Europa und in der Welt, so ist Estland sicherlich eines der Musterländer."

Die litauische Schriftstellerin Kristina Sabaliauskaitė, Expertin für russische Geschichte und Kultur, schrieb am 22. März in einem Gastkommentar für die niederländische Zeitung De Volkskrant und das litauische Onlineportal Lrt: "Der Einmarsch Russlands in die Ukraine kam für Litauer und Polen nicht unerwartet. … Während ich diese Zeilen schreibe, werden Kinder ermordet; Schulen, Krankenhäuser, UNESCO-geschützte Kathedralen werden wahllos bombardiert. … Es werden Todesstrafe- und Deportations-Listen von Tausenden von Ukrainern erstellt - genau wie zu Zeiten Stalins und Hitlers. Wir in Litauen haben jedoch immer gewusst, dass Russland immer noch zu solchen Dingen fähig ist, denn wir haben 1991 die 'Light-Version' von all dem erlebt, als 'nur' 14 Menschen getötet und fast tausend verwundet wurden."

Und Eesti Päevaleht schrieb anlässlich des Nato-Gipfels in Madrid am 1. Juli 2022: "Grenzland Estland stand auf dem Nato-Gipfel zur Abwechslung einmal im Mittelpunkt des Interesses. … Die Bedrohung durch Russland wird ernst genommen, die Ostflanke der Nato wird gestärkt, die Geschehnisse in der Ukraine werden nicht vergessen, und die Türen des Bündnisses stehen weiterhin für neue Verbündete offen, insbesondere an den Ufern der Ostsee."

Die harte Haltung gegenüber Russland spiegelt sich auch in der Politik der drei Länder seit dem 24. Februar wider. So stoppten Estland, Lettland und Litauen unmittelbar nach dem russischen Angriff sämtliche Lieferungen von russischem Gas. Der südlichste der baltischen Staaten deckt seinen Bedarf über ein norwegisches LNG-Terminal-Schiff in Klaipeda. Estland bezieht seine Energie zu großen Teilen aus heimischem Ölschiefer, Lettland bekommt sein Gas vorübergehend aus Litauen und will mit Estland zusammen ein eigenes LNG-Terminal bauen. Alle drei Staaten wollen außerdem noch mehr in erneuerbare Energien investieren.

Externer Link: Litauen unterband zwischenzeitlich den kompletten Transitverkehr zwischen Russland und der Exklave Kaliningrad, gab seine Blockade auf Bitten Brüssels hin aber schließlich auf.

Was Visa für russische Staatsbürger anbelangt, sind Estland, Lettland und Litauen auf einer Linie und haben die Ausstellung von Touristenvisa bis auf weiteres ausgesetzt – obwohl sowohl in Estland als auch in Lettland nennenswerte russischsprachige Minderheiten mit Verbindungen ins Nachbarland leben: In Estland gehören 23,6 Prozent der knapp 1,33 Millionen Einwohner der russischsprachigen Minderheit an , in Lettland sind es um die 30 Prozent der rund 1,8 Millionen. Das Misstrauen der lettischen Mehrheitsbevölkerung gegenüber der Minderheit ist in politischen Fragen traditionell hoch. Es verstärkte sich mit dem Krieg gegen die Ukraine weiter. Eine Umfrage, die LSM.lv im Juni veröffentlichte , ergab, dass die Unterstützung für die Ukraine in der russischsprachigen Bevölkerung Lettlands kleiner als in der Gesamtbevölkerung ist. 40 Prozent der russischsprachigen Befragten verurteilten Putins Krieg, während es bei allen Befragten 73 Prozent waren. 12 Prozent der russischen Minderheit waren für den Krieg, allerdings waren es im März 2022 noch 21 Prozent gewesen.

Seit Jahren diskutierte Forderungen, den russischen Einfluss in Estland und Lettland weiter zurückzudrängen, wurden nach dem 24. Februar 2022 tatsächlich mehrheitsfähig. Lettland stellte die Ausstrahlung von allen in Russland registrierten Fernsehkanälen ein, in russischsprachigen Schulen muss ab 2025 auf Lettisch unterrichtet werden. Auch in Estland wurde der Übergang von Russisch zu Estnisch als Unterrichtssprache weiter vorangetrieben. Schriftsteller Olev Remsu verteidigt die Verdrängung des Russischen in Eesti Päevaleht am 21. August wie folgt: "In der UdSSR, in einem Land der Lügen und Illusionen, wurde die Kolonisierung als Völkerfreundschaft bezeichnet, und die Menschen, die sich nicht die Mühe machen konnten, in unserem Land ein paar Worte Estnisch zu lernen, betrachteten die Völkerfreundschaft als pures Gold, und das tun sie immer noch. Daher der automatische Glaube, dass das Beharren auf der Kenntnis der estnischen Sprache russophob ist, insbesondere wenn es Anstifter für eine solche Haltung gibt. Zum Glück gibt es unter unseren Russen noch genügend europäisch gesinnte Menschen, die das Recht der Esten auf einen eigenen Staat anerkennen und die die estnische Sprache erlernt haben, denen ich aufrichtig danke."

In Lettland müssen sämtliche Monumente der Sowjetmacht bis zum 15. November dieses Jahres aus dem öffentlichen Raum verschwinden, in Estland bis zum Ende dieses Jahres. Außerdem wurden einige Straßen umbenannt. Die lettische Tageszeitung Diena schreibt am 23. August: "Man bekommt den Eindruck, dass es einen Teil der russischsprachigen Gemeinschaft gibt, der diesen Zusammenhang nicht sieht oder nicht sehen will: dass die Verurteilung [der russischsprachigen Letten] eine Reaktion auf den von Russland begonnenen Krieg ist. Stattdessen neigt man noch mehr dazu, sich als Opfer darzustellen. … Hinzu kommt, dass sich in ganz banalen Alltagssituationen ein Hass auf das Lettische manifestiert, der im multikulturellen Riga selbst während der Konfrontation zwischen Volksfront und Interfront [Volksbewegungen der 1990er Jahre] nicht zu spüren war. Gut, dass ein solcher Eindruck nicht bei allen Russen entsteht, sondern nur bei einem kleinen Teil der russischsprachigen Gemeinschaft."

In Estland ergaben Umfragen , dass etwa 20 Prozent der russischstämmigen Menschen – unabhängig von der Staatsbürgerschaft – Putins Handeln unterstützen, während etwa 30 Prozent stark dagegen sind und der Rest neutral ist oder sich nicht äußern will. Die gegensätzlichen Meinungen laufen quer durch Familien und Parteien. Die stärkste pro-russische Kraft ist mittlerweile die rechtspopulistische Ekre geworden. Sie agitiert gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, lehnt Hilfe für die Ukraine ab und gibt der estnischen Regierung und der EU die Schuld für die hohen Energiepreise. Die Zentrumspartei, die bis jetzt die russisch-stämmigen Wähler am stärksten vertreten hat, ist zwiegespalten und hat stark an Zustimmung verloren – für die estnischen Wähler ist die Partei zu pro-russisch, für viele russische Wähler zu pro-Ukrainisch.

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ist euro|topics-Korrespondentin in Lettland. Sie hat deutsche Sprache und Literatur in Riga studiert. Sie war langjährige Mitarbeiterin des ZDF und arbeitete von 1991 bis 2013 als Auslandskorrespondentin in Lettland, Litauen und Estland.

ist euro|topics-Korrespondentin in Estland. Sie hat während ihres Studiums der Politik- und Kommunikationswissenschaft in München als Radiojournalistin bei Radio Free Europe gearbeitet. Später war sie als freie Journalistin in Korea, England und Singapur tätig. Für Europas Kulturhauptstadt Tallinn betreute sie im Jahr 2011 alle internationalen Medien. Heute arbeitet sie auch als Medienberaterin für Festivals und Konferenzen.

ist euro|topics-Korrespondentin in Litauen. Seit 2003 war sie bei verschiedenen Print- und Onlinemedien tätig. Aktuell arbeitet sie bei dem Portal der Wirtschaftszeitung Verslo žinios.