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Russlands Invasion und Europas Verteidigung euro|topics: Europa und der Krieg

Annett Müller-Heinze Annette Birschel Clara Weber Claudia Knauer

/ 11 Minuten zu lesen

Bukarest, 27.01.2023: Der niederländische Außenminister der Niederlande Wopke Hoekstra trifft sich mit Rumäniens Präsident Klaus Johannis. Die Niederlande haben Soldaten in Rumänien stationiert, um die Ostflanke des NATO-Vertragsgebiets zu stärken. (© picture-alliance, ANP | Koen van Weel)

Seit dem 24. Februar 2022 hat sich die Verteidigungspolitik auf europäischer Ebene bereits spürbar verändert: Es gab umfangreiche gemeinsame militärische Übungen von Nato und den Joint Expeditionary Forces im Mai 2022, Waffenlieferungen (auch in Form von Ringtauschprogrammen) und schließlich die gemeinsame Leopard 2-Panzer-Initiative. Deutschland und die Niederlande haben die Zusammenlegung ihrer Truppen forciert. Aber auch auf nationaler Ebene hat sich in vielen Staaten Europas etwas getan.

Rumänien: Sicherheitsgarant USA

Rumänien sieht in Russland eine militärische Bedrohung, die durch die Annexion der Krim 2014 bereits deutlich näher rückte: Die Halbinsel liegt kaum 400 Kilometer von der rumänischen Hafenstadt Constanta entfernt. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, mit der Rumänien eine über 600 Kilometer lange Grenze teilt, hat die Lage noch einmal verschärft.

Als Antwort auf die russische Invasion entschied sich die Nato im März 2022, Soldaten und Militärgerät in Rumänien deutlich aufzustocken. Die rumänische Redaktion der Deutschen Welle bemerkt kurz zuvor zufriedenstellend: "Erst jetzt beginnt die Ostflanke des Bündnisses zu erstarken, denn nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 war die Nato mehr mit der Verteidigung des Ostseeraumes beschäftigt.".

Rumänischen Medienberichten zufolge sind derzeit rund 4.700 zusätzliche Nato-Soldaten im Land stationiert, die die gut 75.000 Mann der rumänischen Armee unterstützen sollen. Für die politische Führung in Bukarest bedeutet die Truppenverstärkung im Land keinen Kurswechsel, sondern die Bestätigung, nach 1989 in der Außen- und Sicherheitspolitik den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Nachdem Rumänien nicht zur ersten Runde der Nato-Osterweiterung gehörte, vereinbarte das Land 1997 zunächst eine strategische Partnerschaft mit den USA, im Jahr 2004 folgte schließlich der Nato-Betritt. Anfang März 2022 - wenige Tage nach Kriegsbeginn - erklärte der rumänische Präsident Klaus Iohannis in einer Rede an die Nation: "Die Zugehörigkeit zu den beiden Strukturen, der Nato und der EU, verstärkt durch sehr enge strategische Partnerschaft mit den USA, ist zweifellos unser größter Gewinn der vergangenen 30 Jahre.".

Die strategische Partnerschaft mit den USA gibt vielen Rumänen ein großes Sicherheitsgefühl. Die nationalliberale Vizepräsidentin des Senats, Alina-Stefania Gorghiu, stellte im Juli 2022 in einem Kommentar in der Tageszeitung Adevârul fest: "In diesem Moment, in dem die regionale Lage wegen der ungerechtfertigten Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine schwierig ist, profitiert Rumänien von den größten Sicherheitsgarantien seiner Geschichte. Es zeigt sich klar, dass die strategische Partnerschaft mit den USA die richtige Wahl war."

Und das eigene Militär?

Ein anderes Bild haben die Rumänen dagegen von den eigenen Verteidigungskräften. Einer Umfrage von INSCOP Research vom Herbst 2022 zufolge glaubt nicht einmal die Hälfte der Rumänen, dass ihre Armee fähig sei, das Land bei einem Angriff zu verteidigen, wenngleich Medienberichten zufolge die Ausgaben für die Streitkräfte 2016 bis 2020 bereits verdoppelt worden sind: Über fünf Milliarden Dollar investierte das rumänische Verteidigungsministerium in den Kauf von Flugabwehr-Raketensystemen, Kampfflugzeugen und Raketenwerfern. In diesem Jahr soll das Verteidigungsbudget des osteuropäischen Landes von 2 Prozent sogar auf 2,5 Prozent des BIP steigen. Der Blog Spotmedia hält die Investitionen für berechtigt: "Uns mögen die für die [Nato]-Mitgliedschaft vorgeschriebenen Verteidigungsausgaben in Höhe von 2 Prozent des BIP wie ein Luxus erscheinen. Brauchen wir Flugzeuge, wenn wir keine Krankenhäuser haben? Aber wenn die Waffen erst einmal die Grenze sichern, haben wir die Möglichkeit zu verstehen, wie gering der gezahlte Preis im Vergleich zum Nutzen ist."

Waffenlieferungen an Kyjiw unerwünscht

Was die militärische Unterstützung der Ukraine betrifft, zeigt sich die rumänische Führung sehr zurückhaltend und verschwiegen. Die Wochenzeitung Revista 22 hat für diese "Geheimniskrämerei" kein Verständnis und schreibt Ende November 2022: "Die Beteiligung Rumäniens an den Hilfsmaßnahmen für die Ukraine ist in Bukarest ein sehr schwieriges Thema, weil die Regierung alles geheim hält und ein langweiliges und lästiges Schweigen bewahrt." Schaut man jedoch auf Meinungsumfragen, wonach sich die deutliche Mehrheit der Rumänen (70 Prozent) gegen Waffenlieferungen in die Ukraine ausspricht, stecke hinter dem Schweigen der Regierung vielmehr politisches Kalkül, meint die rumänische Redaktion der Deutschen Welle im Januar 2023: "Die Verantwortlichen in Bukarest wissen, dass ein unverhohlener Diskurs über die militärische Unterstützung der Ukraine ihre Chancen bei den Wahlen 2024 schmälern würde. … Und anstatt, dass sie versuchen, ihre Entscheidungen mit eigenen Überzeugungen zu erklären, verstecken sie sie lieber."

Niederlande: Ein Paradigmenwechsel

Nach jahrzehntelangen Einsparungen bei der Verteidigung brachte der Krieg gegen die Ukraine die Wende: Die Niederlande haben 2022 den Verteidigungshaushalt um etwa 40 Prozent erhöht und investieren nun strukturell fünf Milliarden Euro mehr. Ab 2024 will das Land die Nato-Norm von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erfüllen.

"Es ist bemerkenswert, wie in den pazifistischen Niederlanden, wo Investitionen in die Armee lange als Geldverschwendung angesehen wurden, die jüngste Erhöhung der militärischen Haushalte ohne Missklang über die Bühne ging" , schreibt De Volkskrant-Kolumnist Bert Wagendorp am 3. Januar zu dem Paradigmenwechsel in der niederländischen Verteidigungspolitik. Wie groß der Umbruch ist, illustriert die Rekonstruktion früherer Sparmaßnahmen in der Tageszeitung NRC Handelsblad Ende 2022: "Der Kahlschlag erreichte zwischen 2010 und 2014 seinen Höhepunkt, als Premier Mark Rutte unserer Landesverteidigung höchst persönlich den Gnadenschlag gab."

Startpunkt 2014

Wie es zum Umdenken kam, analysiert das Den Haager Zentrum für Strategische Studien in einer Studie 2022: "Der Krieg machte für jeden deutlich, dass die Zeit vorbei ist, in der unsere Armeen sich vor allem auf friedensfördernde Einsätze weit entfernt von daheim richteten". Tim Sweijs, Sicherheitsexperte beim Den Haager Zentrum für Strategische Studien, weist aber auch darauf hin, dass "wenn wir entscheiden, dass wir international mitmachen, dann wollen wir als kleines Land auch eine ernst zu nehmende Rolle spielen." Eine gewisse Wende im nationalen Sicherheitsdenken habe schon 2014 eingesetzt, als der Abschuss von Passagierflug MH17 im Juli 2014 mit einer russischen Buk-Rakete über der Ostukraine den Niederlanden mit einem Schlag klarmachte, dass der Konflikt direkte Folgen auch für die eigene Sicherheit hat.

Es wird allerdings dauern, bis die Niederlande wieder über eine schlagkräftige Armee verfügen. Der Rückstand ist laut Experten sehr groß und es fehlen rund 9.000 Soldaten. NRC Handelsblad fürchtet daher, dass die Regierung zu sehr auf Waffentechnologie setzen könnte: "Die Angst vor niederländischen Toten auf dem Schlachtfeld ist verständlich, aber die Wiederherstellung der Nato-Kampfkraft muss gerade dazu führen, dass es keinen Krieg geben wird. Dabei müssen die Niederlande eine vollwertige Rolle spielen und sich nicht hinter Robotern verstecken."

Frankreich: Große Pläne auf tönernen Füßen?

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat in seiner Neujahrsansprache an das Militär am 20. Januar 2023 angekündigt, als Reaktion auf den Krieg gegen die Ukraine die Militärausgaben drastisch zu erhöhen. Ob Frankreich seinen Verteidigungssektor damit tatsächlich umstrukturieren kann, bewertet die Landespresse unterschiedlich.

Das nächste Gesetz für das französische Militärprogramm (frz.: Loi de programmation militaire, LPM) soll laut Macron von 2024 bis 2030 gelten und ein Budget von 413 Milliarden Euro beinhalten. Für den Zeitraum von 2019 bis 2025 waren insgesamt 295 Milliarden Euro vorgesehen. Macron will, dass Frankreich kriegstauglich wird, um den Bedürfnissen der französischen Streitkräfte und der Ukraine langfristig gerecht zu werden. Das Gesetz strebt eine verstärkte Produktion von Munition an, um auf Bedrohungen gegen Europa und seine Partner reagieren zu können. Zugleich soll mehr in Atomwaffen investiert werden.

Außerdem sollen die Kapazitäten der Luftverteidigung sowie die Investitionen in die Aufklärung und zur Bewältigung von Cyberattacken gesteigert werden. Macron benötigt jedoch noch die Unterstützung des Parlaments, wo das Gesetz im März vorgestellt werden soll. Frankreichs Presse debattiert rege über den Einfluss der neuen Investitionen. Nathalie Loiseau, Europaabgeordnete und Parteimitglied der Mitte-rechts-Partei Horizons, meint in Les Echos am 19. Januar, Frankreichs Regierung setze die Prioritäten absolut richtig: "Die kurz- und mittelfristigen Bedürfnisse unserer Streitkräfte, die Bedürfnisse unserer Partner - die sich in einem, für sie und für uns, überlebenswichtigen Kampf befinden - haben absolute Priorität. Ab sofort wird von der Rüstungsindustrie erwartet, dass sie ihre Versorgung sichert und die für eine schnellere Lieferung erforderlichen Vorräte anlegt."

Eine Frage der Kosten

Ouest-France stellt die Finanzierungsfrage und kommt zu dem Schluss: "Diese spektakuläre Erhöhung scheint gerechtfertigt in Anbetracht einer Diversifizierung der Risiken und Bedrohungen, die auf Frankreich und seinen Verbündeten lasten. … Wenn sie in der Größenordnung von 2 Prozent des BIP bleiben, werden diese Ausgaben weiterhin unseren Mitteln entsprechen."

Im Gegensatz dazu gibt sich der ehemalige Premier Bernard Cazeneuve (PS) in L‘Opinion am 25. Januar skeptisch: "Frankreichs Bemühungen im Bereich Forschung und Entwicklung sind angesichts der immer schneller voranschreitenden Innovationen unzureichend: [Frankreich investiert] 2,2 % des BIP, obwohl wir 3 % aufwenden sollten." Und auch L‘Humanité relativiert am 20. Januar die Kraft der Investitionen: "Der Präsident hält das Gesetz zwar für sehr ehrgeizig, doch die Inflation und die explodierenden Energiekosten könnten seinen Eifer dämpfen."

Ein echter Kurswechsel?

Nach Meinung von L’Opinion am 19. Januar bedeuten die neuen Investitionen noch keinen Kurswechsel für Frankreich, denn das Budget von diesem Jahr sei im Vergleich zu den letzten Jahren ebenfalls erheblich angestiegen, ohne mit tiefgreifenden Reformen einherzugehen: "Die Summen wurden im Wesentlichen den Armeen überlassen, um die 'Reparatur' der Schäden vorzunehmen, die durch mehrere Jahrzehnte der Verkleinerung des Militärs und der Umstrukturierungen entstanden waren. … Kein Vergleich mit den großen gaullistischen Reformen der 1960er Jahre oder jenen unter Chirac in den 1990er Jahren."

Dänemark: Verteidigungsvorbehalt abgeschafft

In Dänemark gibt es Ausnahmen vom Maastricht-Vertrag, sogenannte Vorbehalte - etwa bei den Themen EU-Staatsbürgerschaft, Euro, Verteidigungs- und Rechtszusammenarbeit. Am 1. Juni 2022 stimmt eine große Mehrheit in einem Referendum für die Abschaffung des Verteidigungsvorbehalts.

Ministerpräsidentin Mette Frederiksen (Sozialdemokraten) stellte dazu fest: "Wenn auf unserem Kontinent wieder Krieg ist, kann man nicht neutral sein. Heute Abend haben wir ein Signal an unsere Verbündeten gesendet, und damit auch ein klares Signal an Putin. ... Wir haben gezeigt, dass wir anderen enger zusammenrücken, wenn Putin in ein freies und unabhängiges Land einmarschiert." Poul Nyrup Rasmussen, ehemaliger Regierungschef, ergänzt: "Europa kann auf uns verzichten, aber wir können nicht auf Europa und unsere Beteiligung verzichten." Die Tageszeitung Jyllands-Posten kommentiert am 4. Juni: "Es war ein historisch großes Ja, das die Dänen gaben, als sie am Mittwoch für die Abschaffung des dänischen EU-Verteidigungsvorbehalts stimmten."

Nun wird die am 1. November 2022 neu gewählte Regierung aus Sozialdemokraten, Venstre und der bürgerlichen Abspaltung von Venstre, den Moderaten, den sogenannten Verteidigungsvergleich neu verhandeln. Solche Vergleiche sind in Dänemark üblich. Es sind Vereinbarungen in wichtigen Politikbereichen, die über alle Parteigrenzen hinweg zwar nicht juristisch, wohl aber politisch bindend sind. Der bisherige Verteidigungsvergleich läuft 2023 aus.

Mit der Abschaffung des Verteidigungsvorbehaltes hat Dänemark seiner unverändert klaren Westorientierung auch in Brüssel noch mehr Gewicht verliehen.

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Annett Müller-Heinze pendelt als freischaffende Journalistin zwischen Leipzig und Bukarest. Sie arbeitet u. a. für eurotopics.net, ein Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb.

ist Redakteurin bei euro|topics.

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