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“Protest gegen die Gesellschaft“ | Coronavirus | bpb.de

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“Protest gegen die Gesellschaft“

Nadine Frei

/ 12 Minuten zu lesen

Im Interview mit bpb.de analysiert die Soziologin und Protest-Forscherin Nadine Frei von der Universität Basel, wer gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen auf die Straße geht und welche Motive dahinterstehen.

Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung am 12.03.2022 in Crailsheim (Baden-Württemberg). (© picture alliance/dpa | Christoph Schmidt)

bpb.de: Derzeit gehen Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auf die Straße. Aus welchen Akteur:innen setzen sich die Teilnehmer:innen der Proteste zusammen?

Nadine Frei: Zu Beginn möchte ich betonen, dass es starke Unterschiede zwischen den Protesten, die wir aktuell in Ostdeutschland beobachten und jenen in Westdeutschland gibt. Die Ergebnisse unserer Forschung, die wir seit September 2020 durchführen, beziehen sich vor allem auf die Querdenken-Initiative in Westdeutschland. Wir haben verschiedene Methoden angewendet, um das neue Protestphänomen zu untersuchen und haben in demselben Jahr beispielsweise eine Telegram-Umfrage in einschlägigen Gruppen durchgeführt. Dabei wurde deutlich, dass ein Großteil der Studienteilnehmer:innen aus der Mittelschicht kommt. Das Durchschnittsalter beträgt 47 Jahre. 31 Prozent haben Abitur, 34 Prozent einen Studienabschluss. Bei der Bundestagswahl 2017 haben 18 Prozent Die Linke, 23 Prozent Bündnis 90/Die Grünen und 15 Prozent AfD gewählt. 27 Prozent der Befragten gab zum Zeitpunkt der Befragung an, bei der nächsten Wahl der AfD die Stimme zu geben. 61 Prozent würden bei der nächsten Wahl nicht-etablierte Kleinstparteien wählen. In Westdeutschland war die Bewegung kein genuin rechter Protest, aber seit Beginn nach rechts offen. Darin zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Ostdeutschland, wo der Anteil der AfD-Wähler:innen zum selben Zeitpunkt deutlich höher war als in Westdeutschland. Was für die westdeutschen Proteste charakteristisch ist, sind unter anderem die esoterisch-anthroposophischen Milieus. Diese sind in Ostdeutschland weniger relevant. Dort sind die Proteste seit Beginn stärker von der extremen Rechten geprägt, die Demonstrationen anmelden oder Menschen zu sogenannten Spaziergängen zusammenbringen.

Können Sie das verstärkt in Westdeutschland protestierende esoterische Milieu näher beschreiben?

In Westdeutschland ist der Protest gegen die Corona-Maßnahmen stärker von der Mittelschicht geprägt. Hier demonstriert nicht nur ein esoterisches Milieu, aber viele Personen haben eine hohe Affinität zum Verschwörungsdenken. Charakteristisch für diese Proteste ist ein "libertäres Freiheitsverständnis". Damit meinen wir, dass Werte wie Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Individualität in der Protestbewegung nahezu absolut gelten. Das ist für unterschiedliche Milieus relevant. Das kann eine Person aus dem esoterischen Bereich, es können aber auch Selbstständige sein. Trotz Heterogenität eint die Protestteilnehmer:innen dieses libertäre Freiheitsverständnis. Sie wollen sich von niemandem etwas sagen lassen und sind davon überzeugt, dass alle Personen sich selber vor dem Virus schützen sollen. Sie sind nicht bereit, andere zu schützen, indem sie zum Beispiel eine Maske tragen. Demgegenüber erinnern mich die Proteste in Ostdeutschland stärker an Pegida.

Inwiefern sehen Sie da eine Kontinuität?

Interner Link: Querdenken ist stärker ein Phänomen mit westdeutscher Prägung, aber mittlerweile ist es ja auch in Ostdeutschland stark zu beobachten. Ich habe dort den Eindruck, dass es eine gewisse personelle Überschneidung zwischen Pegida und den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen beziehungsweise den sogenannten Spaziergängen gibt. In Ostdeutschland gibt es grundsätzlich eine sehr hohe Impfquote, wenn man es mit anderen Bundesländern vergleicht. Aber die Corona-Impfquote in ostdeutschen Bundesländern ist nun viel niedriger als in anderen Bundesländern. Dort ist das Misstrauen gegen Regierungen weiterverbreitet, ebenso eine Entfremdung von der repräsentativen Demokratie. Das drückt sich über die Impfverweigerung und die Protestteilnahme aus.

Wie würden Sie die Motivlagen der Protestierenden bewerten? Sind es die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als solche, oder eine kritische, gar feindliche Haltung zum Staat?

Wenn wir tendenziell von einem Mittelschichtsprotest sprechen, ist zu beachten, dass es auch viele Neupolitisierte gibt. Viele haben vorher noch nie an einem Protest teilgenommen. Vor allem Personen der Mittel- und Oberklasse sind staatliche Interventionen in ihre Lebensführung gar nicht gewohnt. Da sieht man einen deutlichen Unterschied zur Arbeiter:innenklasse und zu Personen mit Migrationsgeschichte. Personen aus der Mittel- und Oberklasse erfahren den Staat eher als etwas Ermöglichendes, z.B. in Bezug auf Wirtschaftsfreiheit. Mit den Corona-Schutzmaßnahmen kam es aber zu einer staatlichen Intervention in die Autonomie aller. Der Protest ist der Ausdruck davon, dass man nicht bereit ist, die Einschränkung der eigenen Lebensführung hinzunehmen. Eigenverantwortung und Selbstbestimmung sind hier die zentralen Bezugspunkte. Die Selbstbestimmung kann dabei etwas Esoterisches haben: Die Vorstellung, selbst über meinen Körper zu entscheiden und die natürlichen Selbstheilungskräfte zu betonen, sind dann wichtiger als das Tragen einer Maske. Diese Vorstellung kann aber auch jemand aus einem unternehmerischen Umfeld teilen. So gibt es bei den Protesten einen sehr hohen Anteil an Selbständigen. Der Idealtypus möchte keinen Chef haben, hat eventuell ein eigenes Unternehmen aufgezogen und möchte selber über sich bestimmen. Es ist also nicht nur ein Protest gegen den Staat, sondern ein Protest gegen die Gesellschaft.

Inwiefern ist hierin der Wunsch nach einer grundsätzlich alternativen Gesellschaftsordnung zu erkennen?

Mit den staatlichen Maßnahmen gingen Vorgaben und Empfehlungen einher, aber der Staat appellierte auch ganz zentral an Eigenverantwortung und Solidarität. Die Verabsolutierung der Selbstbestimmung, wie wir sie bei den Protesten beobachten, hat durchaus etwas Gesellschaftsfeindliches. Sie richtet sich gegen eine moderne Gesellschaft, in der man auch anonyme Mitglieder und vulnerable Personen schützen muss. Viele sind nicht bereit, die Schutzmaßnahmen für anonyme Mitglieder dieser abstrakten Gesellschaft mitzutragen. Die Idee, dass man nur sich selber schützen müsse, hat so auch einen gewissen neoliberalen Charakter.

Also mangelt es bei den Teilnehmer:innen an einem Solidaritätsverständnis?

Viele Demonstrationsteilnehmer:innen würden das wahrscheinlich bestreiten, weil eigentlich alle die Gefährlichkeit des Virus relativieren. In unserer Forschung wurde deutlich, dass die meisten sagen, Corona sei nicht schlimmer als eine Grippe. Bei den Demonstrationen sind deutliche verschwörungstheoretische Ansätze vorhanden. Es hat uns überrascht, dass das Verschwörungsdenken, mal mehr mal weniger, aber in allen Interviews aufgetaucht ist, die wir geführt haben. Fast alle Befragten bestritten die Existenz einer Pandemie. Daraus ziehen sie den Schluss, jemand anders müsse dahinterstecken und Medien und Politik hätten gemeinsam etwas vor. Nur selten erläuterten die Teilnehmer:innen, was wirklich dahinterstecke. Darum ging es häufig nicht, sondern um das Wissen und das Selbstbild, zu den "Eingeweihten" zu gehören. Die Demonstrationsteilnehmer:innen haben sich oft als kritische Expert:innen inszeniert und behaupteten Statistiken gelesen, Wissenschaftler:innen außerhalb des sogenannten Mainstreams angehört zu haben und den vermeintlich ursprünglichen Quellen nachgegangen zu sein. So seien sie zu der Erkenntnis gelangt, da laufe etwas im Geheimen ab. Verbreitet war der Fehlschluss, dass die Impfungen viel schlimmer als das Virus seien. Das sind Merkmale einer Minimaldefinition von Verschwörungsdenken. Da entsteht so etwas wie eine Parallelrealität. Es ist recht schwer dagegen rational zu argumentieren, weil ihre eigenen Erkenntnisse und Recherchen sie dazu berechtigten, ihr Kritisch-Sein, ihre Expertise auszuleben und dafür auf die Straße zu gehen.

Wie erklären Sie den Anstieg der Attraktivität von Verschwörungstheorien während der Corona-Pandemie?

Es gibt unterschiedliche Zahlen dazu, ob das Verschwörungsdenken tatsächlich zugenommen hat oder nicht. Es gibt Studien, die das nahe legen. Das Verschwörungsdenken findet bei Krisen einen Nährboden. In der Psychologie spricht man davon, dass es hier um einen Umgang mit Ohnmacht geht und dass man über das Verschwörungsdenken versucht, die verloren gegangene Kontrolle wieder zu erlangen. Die Corona-Krise ist tatsächlich für uns alle eine sehr unbekannte Krise. Dass man eben nicht den normalen Gang gehen kann und nicht weiß, was passiert, ist genau das, was Krisen ausmacht. Der Staat hat zu Beginn der Pandemie gewisse Maßnahmen implementiert, von denen man noch nicht wusste, ob sie etwas nützen oder nicht. Dann wurden diese Maßnahmen teilweise revidiert, wie bei der Maskenpflicht. Zunächst hat die Regierung gesagt, Masken helfen nicht, kurze Zeit später führte sie eine Maskenpflicht ein. In jeder Gesellschaft gab es Trial-and-Error, weil eben noch viel zu wenig Wissen über das Virus vorhanden war. Über die Zeit wurde viel Wissen darüber generiert, und auch dieses wurde dann immer wieder angepasst. Gerade das, was so typisch für Krisen ist, dass Normalität und Gewohnheit ausgesetzt sind, wurde von den Protestteilnehmer:innen als Indiz dafür angesehen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugehen könne. Das Attraktive vom Verschwörungsdenken ist, dass es einfache Lösungen für komplexe Angelegenheiten präsentiert. Verschwörungstheorien reduzieren Komplexität, indem ein abstraktes Geschehen auf einzelne Personen zurückgeführt wird. Sie haben aber nicht nur eine komplexitätsreduzierende Komponente, sondern auch eine komplexitätsproduzierende Komponente. Im Verschwörungsdenken hängt alles mit allem zusammen. Die Personen, die diesem Denken anhängen, haben oft etwas Detektivisches. Das Gefühl, etwas entdeckt und ein höheres Wissen erlangt zu haben, zelebriert die Protestbewegung sehr stark.

Spielen antisemitische Einstellungen bei den Teilnehmer:innen eine Rolle?

Verschwörungsdenken mündet sehr häufig in (strukturellem) Interner Link: Antisemitismus. Das kann schnell gehen, wenn man davon ausgeht, dass es eine im Geheimen agierende Gruppe gibt, die das Geschehen lenkt und bösartige Absichten hat. Auch die Dualisierung zwischen Gut und Böse ist ein wichtiges Merkmal in Verschwörungstheorien. Was man bei den Corona-Protesten immer wieder findet, ist das Narrativ der vermeintlich bösartigen Pharmaunternehmen. Diese Kopplung an eine verkürzte und häufig auch personifizierte Kapitalismuskritik führt sehr schnell zu Antisemitismus. Das andere sind die Shoah-Vergleiche und Shoah-Relativierungen. Diese hängen häufig mit den Selbstinszenierungen der Protestteilnehmer:innen zusammen, die sich als die wahren Retter:innen von Freiheit und Demokratie sehen und dafür häufig sehr drastische Vergleiche zur Diktatur, Shoah oder Sklaverei ziehen, um die eigene Position zu legitimieren – da geht es dann in der Regel um eine Selbstüberhöhung. Offensichtlich tragen diese Shoah-Vergleiche antisemitische Züge. Ich glaube aber, dass das nicht allen bewusst ist. Viel zu beobachten waren aber auch Plakate, die George Soros oder Bill Gates als Strippenzieher darstellten. Die Ungeimpft-Sterne, die einige Teilnehmer:innen als Anlehnung an die Juden-Sterne trugen, tauchten schon in der Vergangenheit immer wieder auf. Diese eindeutigen Shoah-Relativierungen sind antisemitische Strategien der Interner Link: extremen Rechten, die durch die Corona-Proteste breitenwirksamer wurden.

Wie groß ist der Einfluss von Rechtsextremen auf die Proteste?

Seit Beginn der Proteste gab es mindestens eine Indifferenz gegenüber der extremen Rechten, was für diese ein enormer Erfolg ist. In Westdeutschland wurden die Demonstrationen oft von der Querdenken-Initiative angemeldet. Die extreme Rechte war dort nicht so dominant, auch wenn einige Interner Link: Reichsbürger:innen in den Querdenken-Initiativen vertreten waren. Aber es ist ja schon ein enormer Erfolg, dass sie da einfach mitlaufen konnten, ohne dass es Widerspruch gab. Bei jedem Protest, wo ich war, habe ich Personen der extremen Rechten ausgemacht. Zum Beispiel bei einem Protest Anfang November 2020 in Leipzig: Dort waren offen sichtbar hunderte Personen der extremen Rechten anwesend, die dann auch die Polizeikette durchbrochen haben. Dort gab es ein sehr enges Zusammenspiel mit den anderen Demonstrationsteilnehmer:innen, die das gewaltsame Durchbrechen der extremen Rechten gefeiert haben. Das gab es immer wieder, so auch bei den großen Demonstrationen am Alexanderplatz in Berlin. In Ostdeutschland ist es seit längerer Zeit so, dass die extreme Rechte die Demonstrationen anmeldet und anführt.

Wie kommt es dazu, dass Menschen bereit sind, Gewalt auszuüben und Politiker:innen einzuschüchtern und zu bedrohen?

Diese Proteste haben ein hohes immanentes Radikalisierungspotential. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle: Da wäre z.B. die Selbstinszenierung als heroische Widerstandskämpfer:innen und Retter:innen der Demokratie. Zu dieser gehören dann auch eine radikale Rhetorik und ein Vergemeinschaftungsprozess als vermeintlich Eingeweihte. Viele haben berichtet, dass sie persönliche Brüche erlebt haben und Freund:innen oder Familienangehörige nicht mehr mit ihnen reden wollten, weil sie die Gefährlichkeit des Virus bestreiten und an den Protesten teilnehmen. Sie berichten davon, dass sie in der Protestgemeinschaft neue Freund:innen gefunden haben.

Ein hohes Radikalisierungspotential birgt zudem das Zusammenspiel von Verschwörungsdenken und strukturellem Antisemitismus. Solche Leute fühlen sich wirklich dazu berechtigt, ihren Widerstand auf eine radikale Weise auf die Straße zu tragen. Deshalb sind viele Personen zum Beispiel bereit, an nicht genehmigten Demonstrationen teilzunehmen. Die Proteste selbst hatten teilweise eine hohe Affektivität, aber eben auch einen Festivalcharakter, wo die Leute getanzt haben. Immer wieder gab es diese hippieesken Happening-Momente. Aber die Friedensrhetorik wich schnell einer aggressiven Rhetorik. Die Hemmschwelle wurde nach unten gesetzt, so dass nicht nur Personen der extremen Rechten gegenüber der Polizei und Medienvertreter:innen gewalttätig wurden.

Bei Querdenken-Protesten sind auch linke Symboliken zu beobachten. Was hat es damit auf sich?

Mit Blick auf das Protestgeschehen in Westdeutschland: Es gibt viele Personen, die sich als links bezeichnet haben oder das teilweise auch immer noch tun. Viele haben die Grünen oder Linken gewählt, würden das jetzt aber nicht mehr tun. Viele kommen aus einem öko-liberalen Milieu. Bei unserer Umfrage hat sich gezeigt, dass die Studienteilnehmer:innen weder ausgesprochen fremden- noch islamfeindlich waren, auch nicht sozialchauvinistisch, sie aber gleichzeitig eine sehr hohe Affinität zu Verschwörungsdenken und Esoterik hatten. Viele, die aus dem esoterischen Öko-Milieu kommen, hatten durch die Corona-Proteste erstmals Berührungspunkte mit dem Verschwörungsdenken. Andere glauben schon seit Interner Link: 9/11 an Verschwörungstheorien. Das gab es schon mal bei den Montagsmahnwachen 2014, als Personen, die sich eher als links bezeichnet haben, keine Mühe mehr hatten, mit extrem Rechten dazustehen. Typisch für diese Proteste ist zudem, dass ein links/rechts Schema abgelehnt wird.

In den letzten Monaten wurde häufiger von einer möglichen Spaltung der Gesellschaft gesprochen. Wie würden Sie das einschätzen?

Ich finde den Begriff "Spaltung der Gesellschaft" sehr schwierig. Zum einen kommt dieses Narrativ aus der Corona-Protestbewegung selbst heraus. Die Teilnehmer:innen haben sehr früh gesagt, dass es eine Spaltung der Gesellschaft gibt, sie abgespalten, stigmatisiert, nicht gehört würden und ihre Demonstrations- und Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Man muss aufpassen, dass man dem nicht auf den Leim geht. Zum anderen ist soziologisch die Frage, was denn überhaupt mit einer Spaltung der Gesellschaft gemeint ist und was nicht gespaltene Gesellschaften sind. Was die Gesellschaft zusammenhält ist zwar eine Frage, die die Soziologie von Beginn an beschäftigt. Aber Spaltung impliziert für mich immer zwei Lager. Auf die Corona-Krise bezogen gibt es tatsächlich eine Spaltung, die ich sehr problematisch finde, und das ist die Zunahme der Interner Link: sozialen Ungleichheit. Im Zuge der Impfung von einer Spaltung zu sprechen, finde ich hingegen soziologisch schwierig. Moderne plurale Gesellschaften sind im Grunde immer konfliktträchtig. Hinter dem Wunsch einer Einheit steckt somit eigentlich eine reaktionäre Sehnsucht, die sich gegen die Moderne richtet.

Sehen Sie in der Protestwelle eine Gefahr für die Demokratie?

Ich halte das zugespitzte libertäre Freiheitsverständnis, wo man seine eigene Selbstbestimmung über die Anderer setzt, für problematisch. In einer Pandemie geht es nicht nur um den eigenen Schutz, sondern auch um den Vulnerabler. Aus soziologischer Perspektive beunruhigt zudem die zugenommene soziale Ungleichheit. Es ist klassenabhängig, wer einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt ist. Wenn wir aber tendenziell von einem Mittelschichtsprotest ausgehen, wird auffällig, dass Menschen, die zu Hause im Homeoffice arbeiten können, gegenüber jenen bevorzugt sind, die ihre Arbeit nicht zu Hause verrichten können.

Schwierig finde ich, dass die Demonstrationsteilnehmer:innen sich gegen Gegenkritik immunisieren. Wenn man sich nicht darüber einig ist, dass es ein gefährliches Virus ist, und das häufig so ausgedrückt wird, als hätte man nur eine andere Meinung, dann hat da eine Begriffsverschiebung von Tatsachen hin zur Meinung stattgefunden. Das ist sehr problematisch, denn es ist schwer dagegen rational zu argumentieren. Durch das Verschwörungsdenken und das eben beschriebene Radikalisierungspotential bewegen sich diese Personen in einer Art Parallelrealität, wo sie nur noch die sogenannten alternativen Medien konsumieren. Die Radikalisierung, die Gewalt und die Weigerung andere zu schützen, ist aus einer Gesellschaftsperspektive hoch problematisch. Das Demokratieverständnis der Teilnehmer:innen schien mir immer sehr auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit verkürzt zu sein. Demokratie bedeutet für mich auch den Schutz von Minderheiten.

Wie, glauben Sie, wird sich der baldige Wegfall der staatlichen Schutzmaßnahmen auf das Protestgeschehen auswirken?

Es ist schon mal passiert, dass die Proteste angesichts von Lockerungen abgeebbt sind. Genaue Prognosen sind natürlich schwierig, da die Pandemie noch nicht vorüber ist. Die meisten Maßnahmen werden wahrscheinlich aufgehoben, aber es ist nicht klar, was im Herbst passiert. Die Maskenpflicht wird nicht aufgehoben und die Maske ist ein wichtiges politisches Symbol in dieser Protestbewegung geworden. Auch die Folgen der Debatte um die allgemeine Impfpflicht lassen sich nicht absehen. Einige nehmen jetzt auch Bezug auf den Krieg in der Ukraine und unterstützen dabei Putins Vorgehen gegen "den Westen". Häufig bedienen sie sich dabei des "Great Reset-Narrativs" und werfen der medialen Berichterstattung Einseitigkeit und falsche Parteinahme vor. Allerdings kann ich mir auch vorstellen, dass bei dieser Thematik keine Einigkeit aufkommen wird.

Interview: Tobias Brück, Redaktion: Baran Korkmaz

Fussnoten

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Dr. Nadine Frei ist promovierte Soziologin und forscht an der Universität Basel zur politischen Soziologie der Corona-Proteste.