Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Migration und Gesundheit bleiben oft unbefriedigend, weil explizit formulierte Erklärungsmodelle fehlen
Erklärungsmodelle zu Migration und Gesundheit
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Auch in der Epidemiologie erwacht erst in den vergangenen Jahren das Interesse, Migrantinnen und Migranten in epidemiologische Studien einzubinden
Das Phänomen des "gesunden Migranten"
Viele Migrantinnen und Migranten sind gegenüber der Mehrheitsbevölkerung sozial und ökonomisch benachteiligt, daher müsste auch ihre Gesundheitssituation messbar schlechter sein. Aus der Sozialepidemiologie ist bekannt, dass ein niedriger sozioökonomischer Status das Risiko einer Erkrankung und vorzeitigen Todes erhöht. Erwachsene Migrantinnen und Migranten aus vielen Herkunftsländern, die in europäische Länder oder die USA migriert sind, weisen jedoch im Vergleich zur nicht migrierten Mehrheitsbevölkerung der Zielländer eine niedrige Mortalität auf. Ihre Sterblichkeit kann in manchen Altersgruppen bis zu 50 % niedriger liegen als in der Mehrheitsbevölkerung
Sterblichkeit von Migranten | |||||
Herkunft | Zielland | Datenquelle | Maß | Relatives Risiko Männer - Frauen | Referenz |
China | Kanada | Canadian Mortality Database | RR | 0,55 - 0,63 | Sheth et al. 1999 |
Mexico | USA | National Longitudinal Mortality Study | HR | 0,57 - 0,60 | Abraido-Lanza et al. 1999 |
Vietnam | England | National Health Service Register | SMR | 0,64 - 0,56 | Swerdlow 1991 |
Südeuropa* | Deutschland | Sozioökonomi- sches Panel | RR | 0,68 | Razum et al. 2006 |
Ehem. UDSSR** | Deutschland (Nordrhein-Westfalen) | Bevölkerungs- und Todesur- sachenstatistik | SMR | 0,89 - 0,81 | Ronellenfitsch et al. 2006 |
v.a. Latein- amerika, Asien | USA | Nationale Mortalitätsdaten | RR | 0,77 - 0,84 | Singh & Hiatt 2006 |
*"Gastarbeiter"-Anwerbeländer im Mittelmeerraum (Türkei, ehemaliges Jugoslawien, Italien, Spanien, Portugal) **Aussiedler/Spätaussiedler RR: Relatives Risiko; HR: Hazard Ration; SMR: Standardised Mortality Ration. Diese Maße geben an, wie viel Mal so hoch die Sterblichkeit der Migranten ist, relativ zur bevölkerung des Ziellandes. Beispiel: RR = 0,55: Männliche chinesische Zuwanderer in Kananda haben einen 0,55-mal so hohe Sterblichkeit wie kanadische Männer. Dies ist gleichbedeutend mit einer 45 % niedrigeren Sterblichkeit (berechnet als 100 - 0,55 * 100). | |||||
Quelle: Razum (2006) |
Dieser in vielen Datensätzen beobachtete Mortalitätsvorteil der Migranten wird in der Literatur als "Healthy migrant"-Effekt bezeichnet, frei übersetzt das "Phänomen des gesunden Migranten". Es ist unwahrscheinlich, dass es sich dabei lediglich um einen Auswahleffekt bei der Migration handelt: Zwar migrieren oft besonders gesunde Menschen, ihr gesundheitlicher Vorteil müsste sich aber relativ zur Herkunftsbevölkerung zeigen, nicht notwendigerweise relativ zur Bevölkerung des Ziellandes der Migration. Zudem zeigt sich der Vorteil meist noch Jahre nach der Migration, trotz der ungünstigen sozioökonomischen Bedingungen, unter denen Migranten oft leben. Angesichts der inversen Assoziation zwischen sozioökonomischem Status und Mortalität stellt der "Healthy migrant"-Effekt ein Paradox dar.
Verzerrungen
Artefakte oder Verzerrungen in den verfügbaren Daten werden immer wieder als Erklärungen für scheinbare Gesundheitsvorteile oder die niedrigere Sterblichkeit von Migranten angeführt.
Soziale Unterstützung
Eine verglichen mit der Mehrheitsbevölkerung bessere "soziale Unterstützung" innerhalb der Migrantenbevölkerung
Migration als gesundheitlicher Übergang
Zwischen den Bevölkerungen ärmerer und reicherer Länder treten Unterschiede in der lebensgeschichtlichen Exposition auf. Das bedeutet, dass Migranten anderen Faktoren ausgesetzt sind, die Einfluss auf die Gesundheit nehmen. Beispiele sind die weltweit bestehenden Unterschiede in den hygienischen Verhältnissen oder der Ernährung. Wer über nationale und dabei auch über ökonomische Grenzen hinweg migriert, dessen Risiko chronischer Erkrankungen unterscheidet sich allein deshalb von dem der nicht migrierten Bevölkerung im Zuwanderungsland. Daraus ergeben sich scheinbare Paradoxien hinsichtlich chronischer Erkrankungen bei Migranten.
Um sie aufzulösen, kann man Migration aus ärmeren in reichere Länder als einen gesundheitlichen Übergang interpretieren. Unter "gesundheitlichem Übergang" versteht man normalerweise den in einer Gesellschaft stattfindenden Übergang von einer hohen Sterblichkeit – vorwiegend an Infektionskrankheiten sowie Mütter- und Kindersterblichkeit – hin zu einer insgesamt niedrigen Sterblichkeit – vorwiegend an nicht übertragbaren, chronischen Erkrankungen
die therapeutische Komponente – bessere Vorbeuge- und Behandlungsmöglichkeiten, z. B. für Infektionskrankheiten
die Risikofaktorenkomponente – z. B. Erkrankungsschutz durch sauberes Trinkwasser, aber auch neue Risiken durch Rauchen, Ernährungsweise und Bewegungsmangel.
Der gesundheitliche Übergang hin zu chronischen Erkrankungen läuft weltweit ab, aber in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Viele der ärmeren Herkunftsländer von Migranten befinden sich in medizinischer Hinsicht noch in einem früheren Stadium, verglichen mit reichen Industrieländern wie Deutschland. Migrieren Menschen von dort nach hier, so ändern sich ihre Neuerkrankungs- und Sterberaten. Das geschieht je nach Art der Erkrankung unterschiedlich schnell
Die Sterblichkeit von Migranten an behandelbaren Infektionskrankheiten und durch mütterliche Todesfälle, die in vielen Herkunftsländern noch hoch ist, sinkt schnell in Richtung des Niveaus in der Bevölkerung des Zuwanderungslandes ab – entsprechend der "therapeutischen" Komponente des gesundheitlichen Übergangs.
Neuerkrankungen und Sterblichkeit der Migranten an ischämischer Herzerkrankung ("Herzinfarkt"), der häufigsten Todesursache in Deutschland, bleiben zunächst auf dem niedrigen Niveau z. B. eines südeuropäischen Herkunftslandes. Dies ist auf die meist lange Latenzzeit zwischen einem Anstieg der Risikofaktoren und dem Auftreten der Erkrankung zurückzuführen. Zuwanderer der ersten Generation können daher noch viele Jahre nach der Migration ein niedrigeres Herzinfarkt-Risiko und eine geringere Sterberate haben als die Bevölkerung des Zuwanderungslandes.
Mit zunehmender Aufenthaltsdauer – oder in den nachfolgenden Generationen, die im Zuwanderungsland aufwachsen – passen sich die Migranten an den "westlichen" Lebensstil an. Dadurch steigt ihr Risiko eines Herzinfarktes mit der Zeit an
Der Anstieg des Risikos neuer, lebensstilbedingter Erkrankungen kommt zu den bestehenden höheren Risiken von Migranten bezüglich anderer chronischer Erkrankungen hinzu. Beispiele sind Magenkrebs und Schlaganfall. Sie treten gehäuft bei Menschen auf, die ihre Kindheit in Armut und unter schlechten hygienischen Bedingungen verbracht haben
Migration und Lifecourse Epidemiology
Migranten bringen oft andere lebensgeschichtliche Expositionen mit, als sie die nicht migrierte Mehrheitsbevölkerung aufweist. So waren viele Migranten während der Kindheit im Herkunftsland anderen und unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt. Das kann zu unerwartet anderen Mustern des Auftretens chronischer Krankheiten führen. Für manche chronischen Erkrankungen wird das Risiko des Auftretens in späteren Lebensphasen – nach langer Latenzzeit – schon durch Expositionen in der frühen oder frühesten Kindheit determiniert. Daher ist eine Untersuchung des gesamten Lebenslaufes von Migranten erforderlich, um die Muster ihrer chronischen Erkrankungen und ihrer Mortalität verstehen zu können. Eine Momentaufnahme zu einem Zeitpunkt nach der Migration reicht hierzu nicht aus. Vielmehr ist eine Lifecourse epidemiology erforderlich, also eine Epidemiologie, die Expositionen während des gesamten Lebenslaufes einbezieht
In Studien zum Gesundheitszustand von Migranten – und damit auch bei der Entwicklung eines Erklärungsmodells – ist es schwierig, geeignete Vergleichsgruppen zu identifizieren. Die Unterschiede, beispielsweise in der Mortalität zwischen Migrantinnen und Migranten einerseits und der Mehrheitsbevölkerung andererseits, ergeben sich teilweise durch Faktoren aus der Lebensgeschichte im Herkunftsland. Wer aus einem südlichen Mittelmeer-Anrainerland nach Deutschland migriert, bringt zunächst die dortige, im Vergleich zur deutschen Bevölkerung viel niedrigere Herzinfarkt-Sterblichkeit mit. Er wird sie aufgrund der langen Latenzzeiten zwischen Risiko-Exposition und Erkrankung selbst bei sozioökonomischer Benachteiligung noch für viele Jahre beibehalten. Will man zwischen genetischer Prädisposition und Lebensstileinflüssen unterscheiden, so ist vor allem der Vergleich mit der Bevölkerung des Herkunftslandes aussagekräftig. Will man dagegen Aussagen über den Zugang zur Gesundheitsversorgung treffen, sind Vergleiche mit der Bevölkerung im Zielland der Migration sinnvoll.
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers
Prof. Dr. med. Oliver Razum leitet die AG 3 – Epidemiologie & International Public Health in der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld.
Jacob Spallek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld.