Flucht aus Syrien nach Jordanien
Bereits im März 2011 trafen in Interner Link: Jordanien die ersten Syrer ein, die vor Gewalt in ihrem Heimatland flohen. Rund 90 Prozent und damit der Großteil der syrischen Flüchtlinge, die aktuell in Jordanien leben, kamen innerhalb der ersten 18 Monate des Interner Link: Syrienkonflikts ins Land. Etwa zwei Jahre nach Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs begann die jordanische Regierung im Mai 2013 damit, strengere Regeln zur Kontrolle des Flüchtlingszuzugs einzuführen. Dies schloss auch ein Verbot der Zuwanderung palästinensischer Flüchtlinge, die zuvor in Syrien gelebt hatten, ein. Während Jordaniens Grenzen für syrische Flüchtlinge offiziell weiterhin geöffnet sind, bestehen in der Praxis hohe Hürden für die Einreise von Syrern, insbesondere dann, wenn sie nach einem Aufenthalt in Jordanien aus welchem Grund auch immer temporär nach Syrien zurückgekehrt sind. Bevor die Grenzkontrollen verschärft wurden, kehrten viele Syrer von Zeit zu Zeit nach Syrien zurück, etwa um dort ihren Besitz zu verkaufen oder günstigere medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen
Das Eingreifen Russlands in den syrischen Bürgerkrieg ab September 2015 führte zur Ausweitung der Kämpfe nahe der syrisch-jordanischen Grenze und damit erneut zu einem Anstieg der Zahl der Syrer, die in Jordanien Schutz suchen wollen. Wachsende Besorgnis über ein Übergreifen des Konflikts auf das Königreich Jordanien und die wirtschaftlichen und politischen Kosten der Aufnahme einer zunehmenden Zahl syrischer Flüchtlinge haben allerdings zu längeren Sicherheitsüberprüfungen durch das jordanische Militär geführt, bevor Flüchtlinge aus Syrien an Flüchtlingslager im Land weitergeleitet werden. Pro Tag werden daher nur einige Duzend Flüchtlinge ins Land gelassen. Medienberichte von Februar 2016 weisen darauf hin, dass bis zu 27.000 Syrer in inoffiziellen Lagern an der Grenze auf eine Einreiseerlaubnis warten
Im März waren rund 636.000 Syrer – 6,7 Prozent der Bevölkerung Jordaniens – als Flüchtlinge beim UNHCR registriert
Die Mehrzahl der Syrer, die in Jordanien Schutz gesucht haben, stammt aus Südsyrien, insbesondere aus dem Verwaltungsbezirk (Gouvernement) Deraa. Die meisten syrischen Flüchtlinge leben entweder in einem der Gouvernements im Norden Jordaniens oder in Amman, der Hauptstadt des Landes. Nach Angaben der UN leben nur rund 20 Prozent der syrischen Flüchtlinge in den fünf offiziellen Flüchtlingslagern. Die übrigen 80 Prozent haben sich in städtischen Gebieten – Dörfern, Städten und der Hauptstadt – niedergelassen. Das größte Flüchtlingscamp, Zaatari, beherbergt rund 80.000 Syrer. Wäre es eine Stadt, so wäre es die viertgrößte in Jordanien
Lebensbedingungen und Auswirkungen
Da Jordanien das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 (bekannt als Genfer Flüchtlingskonvention) nicht unterzeichnet hat, haben in Jordanien aufgenommene Syrer keinen formellen Flüchtlingsstatus. Eine Absichtserklärung von 1998 zwischen der jordanischen Regierung und dem UNHCR, die 2014 novelliert wurde, legt fest, dass syrische Asylsuchende solange im Land bleiben dürfen, bis ihr Status geklärt ist. Dies geschieht unter der Auflage, dass sie innerhalb von sechs Monaten ab Registrierung beim UNHCR entweder nach Syrien repatriiert oder in einen Drittstaat umgesiedelt werden (Interner Link: Resettlement). In der Praxis ist diese Sechsmonatsfrist nicht durchgesetzt worden und bis weit in das Jahr 2014 hinein hat Jordanien die Aufenthaltserlaubnisse und Ausweise von Syrern regelmäßig verlängert
Aufgrund ihres eingeschränkten Rechtsstatus haben Syrer große Schwierigkeiten, wenn sie umziehen, öffentliche Dienstleistungen oder humanitäre Unterstützung in Anspruch nehmen oder Geburten, Todesfälle und Eheschließungen registrieren lassen wollen. Die Beschränkung der Möglichkeit, Geburten eintragen zu lassen, führt dazu, dass viele syrische Kinder, die in Jordanien geboren werden, keinen Rechtsstatus haben und daher auch nicht die Ausweise erhalten, die notwendig sind, um staatliche Bildungseinrichtungen besuchen oder Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen zu können. Palästinensische Flüchtlinge aus Syrien haben überhaupt keinen legalen Status in Jordanien außerhalb des Schutzes, der ihnen vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (Interner Link: UNRWA) gewährt wird
Die Mehrzahl der in Jordanien lebenden Syrer ist arm und ihre Lebensbedingungen verschlechtern sich mit zunehmender Länge des Krieges in ihrem Herkunftsland. Rund 70 Prozent leben einem Bericht der Weltbank zufolge unterhalb der nationalen Armutsgrenze von 50 Jordanischen Dinar pro Kopf und Monat (rund 63 Euro). Im Laufe der Jahre haben viele Familien all ihre Ersparnisse aufgebraucht, ihre Wertgegenstände verkauft oder die Unterstützung durch im Ausland lebende Familienmitglieder erschöpft. Einige Flüchtlinge haben bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts die Erfahrung gemacht, von ihrem Wohnort vertrieben zu werden: Viele arme Landarbeiter aus dem Nordosten Syriens wurden von einer Dürre in den Jahren 2006 bis 2010 aus ihrem Heimatort vertrieben und hatten sich auf der Suche nach Arbeit gerade erst in Aleppo oder Damaskus niedergelassen, als der Krieg ausbrach
Viele Syrer sind auf die finanzielle Unterstützung und Nahrungsmittelgutscheine des UNHCR und des Welternährungsprogramms (WFP) angewiesen, um ihr tägliches Auskommen zu sichern. Von den Syrern, die arbeiten, sind 99 Prozent im informellen Sektor ohne Arbeitsgenehmigung beschäftigt. Die meisten von ihnen arbeiten im Baugewerbe. Viele dieser Arbeitskräfte sind Kinder und Jugendliche, die nicht so schnell ins Visier der jordanischen Behörden geraten, wenn sie arbeiten oder betteln. Abnehmende internationale Hilfe für syrische Flüchtlinge bedeutet häufig eine Zunahme der Kinderarbeit: Mitarbeiter des Welternährungsprogramms berichteten, dass die Zahl der Familien, die ihre Kinder zum Arbeiten schickten, um 24 Prozent anstieg, nachdem die finanziellen Mittel des WFP im September 2015 gekürzt worden waren. Der Zwang, arbeiten zu müssen, führt in Kombination mit Sicherheitsbedenken und den Kosten, die für Schulbesuch oder Transport anfallen, dazu, dass viele syrische Kinder nicht zur Schule gehen. Einem Bericht zufolge besuchen 40 Prozent der syrischen Kinder in Jordanien keine Schule
Es ist nicht leicht, ein einheitliches Bild der Auswirkungen der syrischen Flüchtlingskrise auf Jordanien zu erhalten. Einige Jordanier haben von der Krise profitiert, während sie für andere primär negative Auswirkungen hatte. Die Ausgaben der Regierung für die Zurverfügungstellung zusätzlicher öffentlicher Dienstleistungen, die wachsende Inanspruchnahme nationaler Infrastruktur und die Kosten für den Transport, die Sicherheitsüberprüfung und die Registrierung ankommender Syrer sind stark gestiegen. Sie hat jedoch auch beispiellos hohe Entwicklungshilfe erhalten, um diese Kosten zu decken. So stiegen beispielsweise die Wirtschaftshilfen der USA an Jordanien von unter 400 Millionen US-Dollar im Jahr 2011 bis 2014 auf jährlich 700 Millionen US-Dollar. 2015 wurde die wirtschaftliche und militärische Unterstützung noch einmal angehoben und die USA versprachen Jordanien bis einschließlich 2017 Hilfen im Umfang von jährlich eine Milliarde US-Dollar.
Im Allgemeinen zählten jordanische Staatsangehörige, die von der syrischen Flüchtlingskrise negativ betroffen sind, bereits vor der Krise zur ärmsten Bevölkerung des Landes. Die Gouvernements im Norden des Landes, die 350.000 syrische Flüchtlinge beherbergen, erhielten immer deutlich weniger Entwicklungshilfe und Investitionen als die Hauptstadt und touristische Gebiete anderswo im Land. Die Einwohner der nördlichen Gouvernements leiden daher nun am meisten unter der syrischen Flüchtlingskrise. Es gibt zwar noch keine eindeutigen Hinweise darauf, dass Syrer Jordaniern die Arbeitsplätze wegnehmen, der Eintritt so vieler zusätzlicher Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt hat aber im informellen Sektor zu sinkenden Löhnen geführt, was den hohen Anteil der Jordanier trifft, die in diesem Sektor arbeiten. Das Bevölkerungswachstum lässt die Mieten in städtischen Gebieten des Landes steigen. Darunter leiden ebenfalls arme Bevölkerungsteile am meisten. Schulen, die bereits vor der hohen Fluchtzuwanderung in einem schlechten Zustand waren und eine Ausbildung von geringer Qualität anboten, sind nun noch überfüllter und arbeiten an Schultagen in Doppelschicht, um Unterricht für jordanische und syrische Kinder anbieten zu können.