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Binnenmigration in China: Kann die städtische Integration gelingen? | China | bpb.de

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Binnenmigration in China: Kann die städtische Integration gelingen?

Bettina Gransow

/ 5 Minuten zu lesen

Der Umfang der Migration innerhalb Chinas ist größer als jener der weltweiten grenzüberschreitenden Migrationsbewegungen. Vor allem Großstädte ziehen Binnenmigranten an. Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen hat der Großteil von ihnen dort jedoch nicht.

Binnenmigrant:innen suchen auf einer Jobmesse in der Stadt Jinan in der ostchinesischen Provinz Shandong nach Arbeit. Wanderarbeitskräfte, die aus ländlichen Gegenden in Chinas große Städte kommen, leben und arbeiten dort oft unter prekären Bedingungen. (© picture-alliance/dpa, HPIC | Wang Feng)

Seit China Anfang der 1980er Jahre mit marktwirtschaftlichen Reformen begann, kam es zu der (bis heute) weltweit wohl umfangreichsten Interner Link: Binnenmigration. Ihren Kern bildet die Arbeitsmigration vom Land in die Städte. Gegenstand dieses Beitrags ist eine erste Einführung in Umfang, Muster und Hintergründe der Migration, die Besonderheiten des hukou-Systems und dessen Bedeutung für die Probleme und möglichen Lösungsansätze zur städtischen Integration einer seit 2010 erneut stark angestiegenen Binnenmigration.

Umfang und Muster der Binnenmigration: Präferenz der Migrant:innen für Megastädte

2020 wurden in der Interner Link: Volksrepublik China rund 376 Millionen Binnenmigrant:innen gezählt, das entsprach knapp 27 Prozent der mehr als 1,4 Milliarden Menschen umfassenden Bevölkerung des Landes. Damit hatte sich ihre Zahl gegenüber 2010 (rund 154 Millionen) mehr als verdoppelt. Kaum jemand hatte mit einem solch starken Zuwachs gerechnet. In der chinesischen Statistik werden Binnenmigranten als Personen definiert, die sich mehr als sechs Monate lang außerhalb des Ortes ihrer Haushaltsregistrierung (Meldeort) aufhalten und dabei eine Verwaltungsgrenze überschritten haben. Beliebteste Zielregionen der Binnenmigranten sind nach wie vor die östlichen Küstenprovinzen mit den Megastädten Peking, Shanghai, Guangzhou und Shenzhen. Allerdings steht die auf Ausgleich abzielende Migrations- und Urbanisierungspolitik der chinesischen Regierung im Gegensatz zu diesem Trend. Daher strebt sie eine strikte Begrenzung der Zuwanderung in die Megastädte und eine Lenkung der Migrationsbewegungen in die kleinen und mittleren Städte an.

Wichtige Beschäftigungsfelder der Arbeitsmigrant:innen sind das produzierende Gewerbe, das Baugewerbe sowie das Transport- und Gaststättengewerbe – und damit gerade diejenigen Wirtschaftsbereiche, die seit Anfang 2020 besonders stark von den Einschränkungen durch die Interner Link: Corona-Pandemie betroffen waren. Der schnell wachsende Anteil der digitalisierten Wirtschaft führt auch zu einer Veränderung in den Arbeitstätigkeiten der Migranten, z. B. durch die deutliche Zunahme von mit der Interner Link: Plattformökonomie verbundenen Liefertätigkeiten.

Hintergrund: Entwicklungs- und Einkommensgefälle

Ein regionales Entwicklungsgefälle von Ost nach West und ein Einkommensgefälle zwischen Stadt und Land – 2021 betrugen die städtischen Haushaltseinkommen das 2,5fache der ländlichen Einkommen – bilden den sozioökonomischen Hintergrund der Binnenmigration. Die Wurzeln einer auch administrativen Unterscheidung von Stadt und Land gehen zurück auf eine landesweite Bodenreform der Kommunistischen Partei Chinas vor und nach Interner Link: Gründung der Volksrepublik 1949. Ländliche Haushalte erhielten ein Stück Land, städtische Haushalte das Anrecht auf einen Arbeitsplatz, subventionierten Wohnraum, Zugang zu städtischen Bildungseinrichtungen, Kranken- und Altersversorgung. Mit der Einführung der Interner Link: Planwirtschaft (1953) wurde sehr schnell deutlich, dass eine solche Rundumversorgung der städtischen Bevölkerung – die zu dieser Zeit allerdings nicht mehr als 15 Prozent der gesamten Bevölkerung Chinas ausmachte – bei zunehmender Urbanisierung nicht mehr finanzierbar sein würde.

Das hukou-System: Hemmnis für die Integration in großen Städte

Formell entstand 1958 ein System der Haushaltsregistrierung (auch hukou-System genannt), das durch eine strikte Trennung von städtischen und ländlichen Haushalten charakterisiert war und u.a. der Begrenzung der Abwanderung vom Land dienen sollte. Nach Beginn der Reform-Ära der 1980er Jahre wurde es gelockert zugunsten des Arbeitskräfteflusses in Chinas exportorientierte Industrien, die Bauindustrie und die Dienstleistungssektoren. Allerdings blieben die ländlichen Migranten in den Städten von den oben genannten öffentlichen Dienstleistungen für die lokale städtische hukou-Bevölkerung ausgeschlossen. Dies hatte darüber hinaus zur Folge, dass nach 2007, als die neunjährige Schulpflicht auf dem Lande kostenlos wurde (aber nur am hukou-Heimatort wahrgenommen werden konnte), Kinder aus Migrantenfamilien nicht an den Arbeitsorten ihrer Eltern zur Schule gehen konnten.

Mit einem auf die Reform des hukou-Systems und die Integration der Migranten ausgerichteten Urbanisierungsplan (2014-2020) sollte die schrittweise Gleichstellung der Migranten mit der lokalen Stadtbevölkerung vorangetrieben werden. Hierzu sollte der Urbanisierungsgrad der "permanenten Bevölkerung" (d.h. die städtische hukou-Bevölkerung plus Migranten in der Stadt) bis 2020 auf etwa 60 Prozent gesteigert werden; zudem sollte der Urbanisierungsgrad der Bevölkerung mit einem städtischen hukou mit 100 Millionen zu integrierenden Migranten auf 45 Prozent angehoben werden (siehe Tabelle 1). Zwar konnten beide Ziele erfüllt werden, aber der unerwartet hohe und nicht einkalkulierte Anstieg der Binnenmigration führte dazu, dass sich die Kluft zwischen dem Umfang der Bevölkerung mit einem städtischen hukou und dem der permanenten Bevölkerung in den Städten nicht verringerte, sondern sogar vergrößerte.

Tabelle 1: Urbanisierungsgrad 2010 und 2020 (städtische hukou-Bevölkerung und permanente Bevölkerung)

JahrBevölkerung mit städtischem hukou Permanente städtische BevölkerungDifferenz
Mio.%Mio.%Mio.%
201043532,566549,723017,2
202064145,490263,926118,5

Quellen: Nie, Riming und Pan Zehan (2021): Zur neuen Lage der Migrantenbevölkerung im offiziellen Bericht des "7. Zensus" (14. Mai 2021) (chin.); Cheng, Mengyao und Duan Chengrong (2021): The Changing Trends of Internal Migration and Urbanization in China: New Evidence from the Seventh National Population Census. China Population and Development Studies 5, S. 288; Chan, Kam Wing (2021): Internal Migration in China: Integrating Migration with Urbanization Policies and Hukou Reform. Global Knowledge Partnership on Migration and Development (KNOMAD), Policy Note 16 (November); eigene Berechnungen.

Diese Differenz von 261 Millionen städtischen Einwohner:innen (2020) entspricht dem Umfang der migrantischen Bevölkerung, die vom Zugang zu städtischen sozialen Infrastrukturen mehr oder weniger ausgeschlossen ist. Hier ist langfristiger Handlungsbedarf gegeben, um die städtischen Planungen für soziale Infrastrukturen (wie Bildung, Gesundheit und bezahlbaren Wohnraum) nicht länger an Kennziffern festzumachen, die auf den Daten der Bevölkerung mit einem städtischen hukou beruhen, sondern an solchen, die dem Bedarf der tatsächlich vorhandenen dauerhaften Einwohnerschaft entsprechen. Allerdings befürchten die ohnehin stark verschuldeten Lokalregierungen, dies finanziell nicht schultern zu können.

Ausblick: Lösungsansätze städtischer Integration

Damit eine umfassende städtische Integration der Binnenmigrant:innen langfristig gelingen kann, müsste an drei "Baustellen" angesetzt werden:

  1. Es müssten alle Städte, einschließlich der Megastädte, für die Migrant:innen geöffnet werden: Gerade diese großen urbanen Agglomerationen können ein breites Spektrum an Arbeitsplätzen bereitstellen und die Transaktionskosten – also die Kosten für Arbeitnehmer und Arbeitgeber am Arbeitsmarkt – senken.

  2. Es müsste die neunjährige kostenlose Schulpflicht mobil in Anspruch genommen werden können: Dies würde der Zusammenführung von Migrantenfamilien ebenso dienen wie ihrer städtischen Integration.

  3. Es müsste durch eine Steuerreform eine lokale Steuerbasis geschaffen werden, die quasi mit der wachsenden Bevölkerung mitwächst: Hieraus könnten dann die anzubietenden öffentlichen Dienstleistungen finanziert werden.

Auf diese Weise könnten durch umfassende hukou-Reformen wesentliche Voraussetzungen geschaffen werden, um das Problem der städtischen Integration einer Vielzahl von Binnenmigranten lösen zu können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Beitrag ist um eine inklusive Sprache bemüht, ohne diese rein formal zu verwenden, sondern abgestimmt auf den Inhalt und geistig-ästhetischen Gesamteindruck des Beitrags.

  2. Zum Vergleich: UN-Angaben zufolge gab es 2020 weltweit 281 Millionen internationale Migrant:innen, also Menschen, die außerhalb ihres Herkunftslandes leben. Chinas Binnenmigration ist damit deutlich umfangreicher als internationale Migrationsbewegungen.

  3. National Bureau of Statistics of China (NBS) (2021): Main Data of the Seventh National Population Census. News Release.

  4. Zhang, Yumei et al. (2021): The Impacts of COVID-19 on Migrants, Remittances, and Poverty in China: A Microsimulation Analysis. China & World Economy 29 (6), S. 7.

  5. Externer Link: https://www.statista.com/statistics/259451/annual-per-capita-disposable-income-of-rural-and-urban-households-in-china/ (Zugriff: 01.09.2022).

  6. Chan, Kam Wing (2021): Internal Migration in China: Integrating Migration with Urbanization Policies and Hukou Reform. Global Knowledge Partnership on Migration and Development (KNOMAD), Policy Note 16 (November), S. 2.

  7. Ebd., S. 6-7.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Bettina Gransow für bpb.de

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lehrt als außerplanmäßige Professorin am Institut für Chinastudien der Freien Universität Berlin im Bereich Sinologie/Gesellschaft Chinas. Zu ihren gegenwärtigen Forschungsschwerpunkten zählen die soziale Produktion migrantischer Räume in chinesischen Megastädten, das Management sozialer Risiken chinesischer Infrastrukturprojekte innerhalb und außerhalb Chinas sowie die Wissensproduktion chinesischer Soziologie.