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Brexit und das Echo der Geschichte | Vereinigtes Königreich | bpb.de

Brexit und das Echo der Geschichte

Chris Billing

/ 13 Minuten zu lesen

Einwanderungsnarrative der Nachkriegszeit zeigen: Einwanderung ist im Vereinigten Königreich ein kontroverses Thema, das zum Ende der Freizügigkeitsregelungen beigetragen hat – heute und vor 40 Jahren.

Windrush-Denkmal in der Waterloo Station, einem großen Bahnhof in London (Aufnahmedatum: 23.06.2022). (© picture-alliance)

Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union – bezeichnet mit dem Kunstwort „Brexit“ – war ein äußerst komplizierter, aber interessanter Moment in der jüngeren politischen Geschichte Westeuropas. Im Vorfeld des Votums für den Austritt wurden viele Themen berührt, aber wohl keines war in den Debatten so zentral wie die Einwanderung und die „Kontrolle unserer Grenzen“. Wie die meisten Nationalstaaten hat auch das Vereinigte Königreich als ehemaliges Kolonialland eine langandauernde, vielschichtige und komplexe Migrationsgeschichte. Es hat eine relativ große Einwanderungsbevölkerung, aber auch viele Ausgewanderte: In den letzten zehn Jahren lebten etwa acht Prozent der in Großbritannien geborenen Menschen außerhalb des Landes. Der Beitrag befasst sich mit den Einwanderungsnarrativen, die in der Nachkriegszeit im Vereinigten Königreich verbreitet waren, und deren Widerhall in der Debatte über Migration im Vorfeld des Interner Link: Brexit-Referendums.

Die Windrush-Generation

Am 22. Juni 1948 erreichte die heute berühmte SS Empire Windrush den britischen Hafen Tilbury in der Nähe von London. Das Schiff, ursprünglich als Kriegsbeute von Deutschland beschlagnahmt, war an diesem Tag nur eines von vielen, das im Hafen anlegte – ein recht unscheinbares Ereignis, das nur dadurch in die Geschichte einging, da es sich bei den mit dem Schiff ankommenden Menschen um Schwarze Migrantinnen und Migranten handelte, die sich im „Mutterland“ ein neues Leben aufbauen wollten. Natürlich waren sie mitnichten die ersten nichteuropäischen Migrantinnen und Migranten, die an der britischen Küste ankamen. Das Besondere an jenem Tag im Juni war jedoch, dass die Migrantinnen und Migranten, die Großbritannien betraten, dies mit vollwertigen Inlandsausweisen taten, die sie aufgrund ihrer Geburt im britischen Weltreich erhalten hatten. Zudem waren sie die ersten von Tausenden, die heute als „Windrush-Generation“ bezeichnet werden: Migrantinnen und Migranten aus den britischen Kolonien und Interner Link: Commonwealth-Staaten, die zwischen 1948 und 1971 nach Großbritannien kamen.

Die Empire Windrush am Hafen in Southampton, Großbritannien (aufgenommen am 28.03.1954). (© picture-alliance)

Die 492 Migrantinnen und Migranten, die an jenem Junitag in Großbritannien ankamen, reisten in Erwartung eines neuen Gesetzes, das im Vereinigten Königreich verabschiedet wurde und die Rechte aller britischen Untertaninnen und Untertanen bekräftigte. Es schuf den neuen Rechtsbegriff „Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien“ (Citizens of the United Kingdom and Colonies, CUKC). Das Recht auf Einwanderung ins Vereinigte Königreich hatte zwar seit der Gründung des britischen Weltreichs bestanden und galt theoretisch auch für die Millionen von Menschen, über die das Empire herrschte. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Reisekosten jedoch gesunken, so dass auch weniger wohlhabende Menschen und damit auch Menschen aus den weniger wohlhabenden (und in diesem Zusammenhang wichtig: weniger weißen) Kolonien ihr Recht auf Einwanderung und Aufenthalt im Vereinigten Königreich wahrnehmen konnten. Es muss erwähnt werden, dass es sowohl vor als auch nach der Verabschiedung dieses neuen Gesetzes von 1948 keine britischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gab. Mit der königlichen Zustimmung zu diesem Gesetz war eine Person, unabhängig davon, ob sie in England, Jamaika oder anderswo im britischen Weltreich geboren worden war, fortan eine Bürgerin oder ein Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien – und hatte mit dem ihr ausgestellten Ausweis Anspruch auf dieselben Rechte und Garantien in Bezug auf Reisen und Aufenthalt.

Ein feindliches Umfeld

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden im Vereinigten Königreich Migrantinnen und Migranten dringend benötigt. Der Krieg hatte der Wirtschaft schwer zugesetzt, viele Männer und Zivilpersonen waren getötet worden und die Kriegsheimkehrer waren nicht bereit, in einfache Jobs zurückzukehren. Dies und die Tatsache, dass die Windrush-Migrant/-innen als Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien vollwertige Bürgerrechte besaßen, bedeutete jedoch nicht, dass ihr Leben im Vereinigten Königreich leicht war. Rassismus war weit verbreitet. Bei der Suche nach einer Unterkunft oder der Erledigung alltäglicher Aufgaben sahen sich Schwarze Personen Vorurteilen und Ressentiments ausgesetzt. Zum Beispiel erinnern sich Augenzeugen daran, in den 1950er und 1960er Jahren in ganz England Schilder mit der Aufschrift „No Blacks, No Dogs, No Irish“ (Keine Schwarzen, Keine Hunde, Keine Iren) gesehen zu haben. Tatsächlich erwog Premierminister Attlee 1948, den Passagieren der Empire Windrush die Einreise in das Vereinigte Königreich zu verweigern – rechtlich gesehen schwierig, da die ausgeschifften Personen allesamt über Inlandsausweise verfügten. Nach der Ankunft im Vereinigten Königreich soll ein Kabinettsmitglied den Premierminister beruhigt haben, indem er ihm prophezeite, dass „sie nicht einen Winter in England überstehen“ würden.

Damit ist der Ton des britischen Einwanderungsrechts für die folgenden 70 Jahre bestimmt: oszillierend zwischen der Identität eines (angeblich von der Windrush-Generation angestoßenen) offenen, multikulturellen ‚neuen Britanniens‘ und der antiquierten Hierarchie von Rasse und Kultur, die das britische Weltreich selbst enthusiastisch vertrat, um seine gewaltsame Unterwerfung der ‚Anderen‘ im Namen des angelsächsischen Fortschritts und der Moderne zu rechtfertigen. Dieses Hin-und-Hergerissen-Sein zwischen verschiedenen Identitäten und politischen Philosophien hat das Land geprägt. Und mit Blick auf die Debatten über (unkontrollierte) Einwanderung rund um den Brexit, dürften diese historischen Vorläufer eine gewichtige Rolle bei der Frage um ein ‚unabhängiges‘ Vereinigtes Königreich gespielt haben.

Zwanzig Jahre nach Einlaufen der Empire Windrush stand im Jahr 1968 ein nationalistischer Geist im Mittelpunkt einer Rede des Abgeordneten Enoch Powell, die wohl den Anfang vom Ende der relativ offenen Einwanderungspolitik der Nachkriegszeit markierte. Die als „Rivers of Blood“ bezeichnete Rede Powells gilt noch heute als ein markanter Moment in der britischen Einwanderungspolitik und der Auseinandersetzung mit race. Powell, der die Rede auf einem örtlichen Parteitag seiner Partei The Conservatives in Birmingham hielt, wies auf angebliche Spannungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen hin, sparte nicht mit rassistischen Verunglimpfungen, bezeichnete Schwarze als „beleidigend und lärmend“ und sagte ausdrücklich, dass die einheimische (d. h. die weiße) Bevölkerung ‚Fremde im eigenen Land‘ seien. Heute gilt Powells Rede als ‚Wendepunkt‘ in der britischen Politik; auch im Zuge des Brexits wurde sie immer wieder zitiert. Für Powell selbst allerdings führte sie dazu, dass er von seinem Ministerposten zurücktreten musste, bis er 1974 die Partei aus Protest gegen eine Annäherung an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) verließ. Zum Zeitpunkt dieser Rede war das Vereinigte Königreich im Begriff, sich an die neue Identität zu gewöhnen, die mit der Migration aus den Kolonien verbunden war – doch der Widerstand dagegen hielt an. Die Gleichstellung der Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien wurde 1962 mit dem Commonwealth Immigrants Act aufgehoben (und die damit verbundenen Rechte 1968 – nach Powells Rede – weiter eingeschränkt). Dieses Gesetz schuf zwei Gruppen von Staatsbürger/-innen: 1. diejenigen, die selbst im Vereinigten Königreich geboren wurden oder Verbindungen (d.h. Eltern, Großeltern) zum Vereinigten Königreich hatten und 2. diejenigen, auf die dies nicht zutraf. Alle Personen, die unter eine der beiden Staatsbürgerschaftskategorien fielen, waren zwar offiziell immer noch Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien. Allerdings wurde jenen, die unter die zweite Kategorie fielen, das Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich entzogen.

Einen Knoten lösen, einen anderen knüpfen

Die Einschränkung der Freizügigkeitsrechte der Länder des Commonwealth erfolgte im Kontext der Bemühungen des Vereinigten Königreichs, die Beziehungen zur Interner Link: Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu stärken. Das Vereinigte Königreich beantragte die Interner Link: Mitgliedschaft in der EWG erstmals 1961 und trat ihr schließlich 1973 bei. Die Abkommen mit den Commonwealth-Staaten und der EWG zusammengenommen bedeuteten letztlich, dass das Vereinigte Königreich bis zum Ende des Brexit-Übergangszeitraums Ende 2020 fast ununterbrochen Freizügigkeitsregelungen mit verschiedenen Interner Link: Staatenbünden unterhielt, seit Reisepässe und Visa zu Standardinstrumenten der Migrationskontrolle wurden.

Engere Beziehungen zu den europäischen Nachbarn und wachsende Befürchtungen einer „unkontrollierten“ Zuwanderung aus dem Commonwealth, den Kolonien und den ehemaligen Kolonien veranlassten die britische Regierung in den späten 1970er Jahren, ihren Platz innerhalb des schwindenden Weltreichs und mit Blick auf seine unmittelbaren Nachbarn zu überdenken. Dies gipfelte im British Nationality Act von 1981. Dieses Gesetz bedeutete eine grundlegende Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts. Es schaffte den Status Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien ab und ersetzte ihn durch drei verschiedene Kategorien der Staatsbürgerschaft: die Britische Staatsbürgerschaft (British Citizenship), die Britische Staatsbürgerschaft für Überseegebiete (British Overseas Citizenship) und die Britische Staatsbürgerschaft für von Großbritannien abhängige Gebiete (British Dependent Territories Citizenship). Personen, die unter die beiden letzteren Kategorien fielen, besaßen fortan nicht mehr automatisch das Recht, sich im Vereinigten Königreich aufzuhalten und niederzulassen. Eine weitere wichtige Änderung, die mit dem Gesetz einherging, war die Abschaffung des Interner Link: ius soli-Prinzips, d. h. des Rechts auf die britische Staatsbürgerschaft durch Geburt im Vereinigten Königreich.

Migration und Migrationspolitik am Vorabend des Brexit-Referendums

2015 erreichte die Migration nach Angaben des Migration Observatory, einer Beobachtungsstelle für Migration der Universität Oxford, mit einer Nettozuwanderung von 331.000 Personen einen Höchststand. Diese Zahl bildet allerdings nur die reguläre Migration ab und ist nur eine Schätzung, da Ausreisekontrollen 1994 abgeschafft und erst ab 2015 wieder eingeführt wurden. Dadurch lagen für diesen Zeitraum keine zuverlässigen Informationen zur Nettomigration vor, weil nicht mehr gezählt wurde, wie viele ausländische und britische Staatsangehörige das Land verließen. Das Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU im Jahr 2016 fiel zudem mit der sogenannten Flüchtlingskrise in Europa zusammen, was dazu beitrug, dass das Thema Einwanderung zu den Hauptanliegen von Wählerinnen und Wählern zählte, wie Umfragen am Vorabend des Referendums zeigten. Die "Vote Leave"-Kampagne der Brexit-Befürworter stellte die Einwanderung als außer Kontrolle geraten dar und machte die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs dafür verantwortlich.

Ähnlich wie zu der Zeit, als sich das Vereinigte Königreich voll und ganz am Commonwealth orientierte, die ‚öffentliche Meinung‘ sich aber zu wandeln begann und mehr und mehr Stimmen die Begrenzung der Zuwanderung aus dem Commonwealth befürworteten, kam der Brexit zu einem Zeitpunkt, als verstärkt über steigende Zuwanderungszahlen aus der EU berichtet wurde. Schlagzeilen und Artikel in der Boulevardpresse schürten in der Bevölkerung einwanderungsbezogene Ängste. Diese Schlagzeilen kamen nicht aus heiterem Himmel, denn negative Darstellungen von Migrant/-innen und Migration gab es schon seit Jahrzehnten – und Widerstand gegen Zuwanderung war in der britischen Gesellschaft und Politik weit verbreitet.

In den 20 Jahren vor dem Brexit-Referendum war das Vereinigte Königreich zunehmend sowohl auf qualifizierte als auch unqualifizierte Arbeitskräfte aus der EU und auf die Freizügigkeit angewiesen, insbesondere im Gesundheitssektor. Angesichts der sich wandelnden öffentlichen Meinung über die zunehmende Einwanderung begann die britische Regierung jedoch, das Einwanderungsrecht zu verschärfen. Dies betraf fast ausschließlich Personen, die Verbindungen zu Ländern außerhalb der EU hatten oder von dort stammten. Es gab zwar auch Fälle, in denen das Vereinigte Königreich versuchte, die Zuwanderung aus der EU zu beschränken. Allerdings wurden diese Vorstöße der britischen Regierung vom obersten Gerichtshof der EU, dem Interner Link: EuGH, wegen Verstoßes gegen die Freizügigkeitsbestimmungen der EU kassiert. Verschärfte Kontrollen waren nur für Migrant/-innen aus Nicht-EU-Staaten zulässig, einschließlich für Menschen aus den Ländern des Commonwealth. Im Jahr 2013 versuchte die damalige Innenministerin Theresa May auf einem anderen Wege, irreguläre Migration zu reduzieren. Sie schuf ein sogenanntes feindliches Umfeld (hostile environment; ein Begriff, den sie mittlerweile bereut) für Menschen, die sich ohne Genehmigung im Vereinigten Königreich aufhielten. Diese Politik beinhaltete, dass die Verantwortung für Ausweiskontrollen und den Nachweis des Einwanderungsstatus Unternehmen, Vermieter/-innen und dem nationalen Gesundheitsdienst auferlegt wurde. Unter Androhung rechtlicher Schritte gegen diese Einrichtungen mussten Einwohnerinnen und Einwohner des Vereinigten Königreichs nun im Alltag (regelmäßig) ihren legalen Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsstatus nachweisen. Zusammen mit dieser neuen Politik der britischen Regierung sollten auch die Vorschriften für Abschiebungen überarbeitet werden, wobei hier die Maxime lautete: „erst abschieben, dann Einspruch einlegen“ (deport first, appeal later). Diese Politik, die grundlegende Menschenrechte zu verletzen drohte, führte zu erheblichen Problemen für diejenigen, die als Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien ins Vereinigte Königreich eingereist waren oder als deren Nachkommen dort lebten.

Denn: Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs und der Kolonien durften lange ins Vereinigte Königreich einreisen, ohne Nachweise über ihr Recht auf Aufenthalt zu benötigen; nun wurden sie zu Tausenden beschuldigt, sich illegal im Land aufzuhalten, weil sie keine Dokumente besaßen, die das Gegenteil beweisen konnten. Tausende Menschen, die sich legal im Land aufhielten, gerieten in Bedrängnis, verloren u.a. ihren Arbeitsplatz oder ihre Wohnung, machten die Erfahrung, dass ihnen die medizinische Versorgung verweigert oder sie verhaftet wurden, weil sie nie ein formelles Einbürgerungsverfahren durchlaufen hatten – es war aufgrund ihres rechtlichen Status bei der Einreise in das Vereinigte Königreich schlicht nicht erforderlich gewesen. Dieser sogenannte Windrush-Skandal, der 2018 Externer Link: mitten im Brexit-Fiasko (nach dem Referendum, aber vor dem Exit) zum Vorschein kam, passte tragischerweise – wenn auch nur rein zufällig – in diese Zeit: Die britische Regierung war damit beschäftigt, die Scherben einer in der Vergangenheit aufgelösten Freizügigkeit und der daraus resultierenden menschenrechtlichen Schwierigkeiten für die Betroffenen aufzusammeln, während sie gleichzeitig eine andere Freizügigkeit beendete und infolgedessen über die Rechte von Millionen von im Vereinigten Königreich lebenden EU-Bürgerinnen und Bürgern und in der EU lebenden britischen Staatsangehörigen verhandelte.

Die Gegenwart als Echo der Vergangenheit?

Obwohl die britische Regierung durch den Brexit-Prozess politisch fast völlig gelähmt war, ratifizierte sie schließlich am 22. Januar 2020 das EU-Austrittsabkommen. Das Interner Link: Vereinigte Königreich verließ die EU formell am 31. Januar 2020 und trat in eine Übergangszeit ein, die bis zum 31. Dezember 2020 dauerte. Diese Übergangszeit war „business as usual“ und bedeutete praktisch, dass fast alles (einschließlich der Bürgerrechte) so weiterlief, als ob das Vereinigte Königreich noch Teil der EU wäre, auch wenn es kein offizielles Mitglied mehr war. Dadurch sollte Zeit geschaffen werden, neue Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und den EU-Institutionen auszuhandeln.

Am 31. Dezember 2020, der von den Befürworterinnen und Befürwortern des Austritts aus der EU als „Tag der Befreiung“ (liberation day) bezeichnet wurde, endete die Übergangszeit, und ein neues Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich trat in Kraft, das aber nur grob die Beziehungen zwischen beiden Seiten regelte. Dies hatte nicht nur Auswirkungen auf den Handel, sondern auch auf die grenzüberschreitende Migration zwischen dem Vereinigten Königreich und den EU-Mitgliedstaaten, da die Freizügigkeit ebenfalls am 31. Dezember 2020 endete. Seither müssen EU-Bürgerinnen und Bürger, die in das Vereinigte Königreich kommen, um dort zu leben und zu arbeiten, genauso wie Menschen aus Nicht-EU-Ländern ein Visum beantragen und unterliegen einem neu eingeführten punktebasierten Einwanderungssystem. Sie haben weniger Rechte als die EU-Migrantinnen und Migranten zuvor im Rahmen der Freizügigkeitsregelungen hatten. Für EU-Bürgerinnen und Bürger, die im Vereinigten Königreich studieren wollen, ist dies beispielsweise sehr viel teurer geworden, da sie nun internationale Studiengebühren, Visagebühren und einen Zuschlag für die Gesundheitsversorgung zahlen müssen, während für Studierende aus EU-Staaten zuvor die gleichen Regeln galten wie für britische Studierende. Aufgrund der Beschränkungen für die Einwanderung aus den EU-Mitgliedstaaten ist es nach Ansicht von Migrationsforschenden wahrscheinlich, dass das System nach dem Brexit „die Art der Migration verändern wird, einschließlich der Frage, wie viele Menschen migrieren und mit welchen Motiven und individuellen Merkmalen“. Allerdings hat die Corona-Pandemie die Datenerfassung beeinträchtigt, so dass es derzeit schwierig ist, die sich verändernde Dynamik der Migrationsbewegungen aus der EU in das Vereinigte Königreich seit Ende 2020 einzuschätzen. Dennoch zeigen die Statistiken des nationalen Statistikamts (Office for National Statistics, ONS), dass die Nettozuwanderung aus der EU nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016 bis 2018 zurückging. Nach einer kurzen Phase der Stabilisierung begann die Nettozuwanderung von EU-Bürgerinnen und Bürgern nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang 2020, wieder zu sinken, was zu einem negativen Wanderungssaldo führte: mehr EU-Bürgerinnen und Bürger verließen das Vereinigte Königreich als zuwanderten. Gleichzeitig ist die Nettozuwanderung aus Nicht-EU-Staaten gestiegen. Es bleibt abzuwarten, wie sich der Brexit langfristig auf die Einwanderung auswirken wird.

Das Ende der Freizügigkeit mit der EU betrifft auch bereits im Vereinigten Königreich lebende EU-Bürgerinnen und Bürger. Ein wesentlicher Unterschied zur Aufhebung der Freizügigkeitsregelungen mit Commonwealth-Staaten in den 1960er und 1970er Jahren ist jedoch, dass die britische Regierung diesmal nicht einseitig handeln konnte. In Artikel 13 Absatz 4 des Austrittsabkommen mit der EU heißt es eindeutig: „Der Aufnahmestaat darf (...) nur die in diesem Titel vorgesehenen Beschränkungen oder Bedingungen für die Erlangung, die Aufrechterhaltung oder den Verlust von Aufenthaltsrechten vorschreiben“. Jeder EU-Mitgliedstaat hat sein eigenes System zum Umgang mit dem Statuswechsel eingerichtet. Im Vereinigten Königreich mussten sich dort lebende EU-Bürgerinnen und Bürger (mit Ausnahme irischer Staatsangehöriger, deren Freizügigkeitsrechte durch ein einseitiges Personenfreizügigkeitsabkommen – “the Common Travel Area“ – geregelt sind) im sogenannten EU-Settlement Scheme registrieren, um ihre Aufenthaltsrechte zu sichern; sie hatten dazu bis zum 30. Juni 2021 Zeit. Bis zu diesem Stichtag wurden mehr als sechs Millionen Anträge gestellt. Darüber hinaus gingen zwischen dem 1. Juli 2021 und dem 30. September 2022 822.630 weitere Anträge (Spätanträge, Folgeanträge und nachziehende Familienangehörige) ein, so dass sich die Gesamtzahl der Anträge auf 6.686.530 beläuft. Das System war jedoch umstritten, und es gab Berichte über langfristig aufenthaltsberechtigte EU-Bürgerinnen und Bürger, denen ein sogenannter „Niederlassungsstatus“ (settled status) verweigert wurde und die stattdessen einen „Voransiedlungsstatus“ (pre-settled status) erhielten, der mit weniger Rechten ausgestattet ist und beinhaltet, dass nach fünf Jahren erneut einen Antrag auf einen Niederlassungsstatus gestellt werden muss. Bis Ende Juni 2023 wurde 3.586.620 Personen der Status „niedergelassen“ (settled status) und 2.768.840 Personen der Status „vorläufig niedergelassen“ (pre-settled status) zuerkannt. Ursprünglich hätten die 2,7 Millionen Menschen mit dem Voransiedlungsstatus (pre-settled status) ihren legalen Aufenthalt verloren, wenn sie nicht vor Ablauf ihres Status einen Antrag auf den dauerhaften Niederlassungsstatus (settled status) gestellt hätten. Im Dezember 2022 wurde dieser automatische Verlust der Rechte vom High Court of Justice als rechtswidrig eingestuft, nachdem die Independent Monitoring Authority for Citizens' Rights Agreements (IMA), die Aufsichtsbehörde, die zum Schutz der Rechte von EU- und EFTA-Bürger/-innen im Vereinigten Königreich eingerichtet wurde, in einem gerichtlichen Überprüfungsverfahren dagegen geklagt hatte. Ohne das Eingreifen einer dritten Partei hätten viele Betroffene das Recht auf Arbeit, Zugang zu Wohnraum und Bildung verloren, hätten keinen Anspruch auf Sozialleistungen gehabt und wären von Abschiebung bedroht gewesen.

Da es sich um einen rein digitalen Status handelt, können Millionen Menschen im Vereinigten Königreich ihre Rechte nur noch digital nachweisen. Dies kann für diejenigen, die über keine digitale Kompetenz verfügen oder sich in einer prekären Lebenssituation befinden, zu Schwierigkeiten führen. Das EU Settlement Scheme ist nur das erste Beispiel für die Digitalisierung des britischen Grenz- und Einwanderungssystems – und damit auch für die Digitalisierung der Überprüfung der Ausweisdokumente und Nachweise des Einwanderungsstatus im Rahmen des etablierten sogenannten feindlichen Umfelds (hostile environment). Da es sich jedoch um die erste Gruppe von Einwohnerinnen und Einwohnern im Vereinigten Königreich handelt, die keinen physischen Statusnachweis vorlegen können, besteht für EU-Bürgerinnen und Bürger ein größeres Risiko der Diskriminierung und der Verweigerung des Zugangs zu Dienstleistungen. Zwar sollten registrierte Personen nicht automatisch ihre Rechte verlieren, es besteht aber die Gefahr, dass einige ihren Rechtsstatus verlieren und in die eben beschriebene feindliche Umgebung fallen. Das erinnert an die Notlage derjenigen, die in den Windrush-Skandal verwickelt waren – darunter auch einige der bis heute im Vereinigten Königreich verbliebenen Menschen, die 1948 im Hafen von Tilbury von einem damals unbekannten Schiff an Land gingen.

Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel

Weitere Inhalte

studiert im European Master in Migration Studies (Externer Link: EuMIGS), einem Double Degree-Studienprogramm, an dem mehrere europäische Migrationsforschungsinstitute beteiligt sind.