Unser Alltag in Deutschland wird von vielen Dingen erleichtert und auch verschönert, die an anderen Orten der Welt unter widrigen Umständen hergestellt werden. Ein T-Shirt kostet uns 5 Euro, im Internet auch schon mal nur 1,98 Euro. Die Baumwolle dafür wird mit Pestiziden angebaut, und für die Produktion bekommen die Näherinnen in Bangladesch nur zwei Euro Lohn pro Tag – und dafür müssen sie oft 14 Stunden arbeiten. Ein Handy, das nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken ist, besteht zu etwa 25 Prozent aus Metall. Das Lithium für den Akku kommt oft aus Chile und das Kupfer für die Leiterplatte ebenso aus Chile, aus der Demokratischen Republik Kongo oder aus China.
Ein anderes Beispiel: In einem kleinen Auto mit gut einer Tonne Gewicht sind etwa 600 Kilogramm Stahl und 90 Kilogramm Aluminium verbaut – bei beiden Produkten ist China weltweit der mit Anstand größte Produzent. Die Unternehmen kaufen die Rohstoffe am Weltmarkt ein und wollen natürlich einen möglichst „guten“, das heißt niedrigen Preis erzielen. Auch das hat Folgen auf die sozialen und ökologischen Verhältnisse.
Der materielle Wohlstand im globalen Norden, also in den frühindustrialisierten kapitalistischen Zentren, hat mit sich ständig verbessernden Technologien zu tun, mit effizienteren organisatorischen Abläufen und steigender Arbeitsproduktivität in der Wirtschaft. Die in vielen Branchen guten Löhne wurden in harten Auseinandersetzungen von den Beschäftigten und Gewerkschaften mit den Arbeitgebern erkämpft. Der materielle Wohlstand basiert zudem darauf, dass hierzulande viele Menschen schlechter bezahlt werden. Güter und Dienstleistungen können damit günstiger angeboten werden. Und es ermöglicht den Unternehmen höhere Gewinne, die Anteilseigner können ihr Vermögen extrem steigern. Die Produktion unseres Wohlstands, aber auch sein Genuss sind also höchst ungleich verteilt.
Doch der materielle Wohlstand hierzulande wird vor allem durch die Ausbeutung von Menschen und natürlichen Rohstoffen in anderen Weltregionen ermöglicht. Unsere Produktions- und Lebensweise kann daher als „imperial“ bezeichnet werden. Sie greift auf das Arbeitsvermögen von Menschen in anderen Regionen zurück, sie beutet die Natur aus und ruiniert zügig den Planeten.
Neo-koloniale Weltwirtschaft
Viele wissenschaftliche Beiträge sehen diese Zusammenhänge nicht und argumentieren einseitig: Der Wohlstand des globalen Nordens beruhe vor allem auf der hohen Arbeitsproduktivität und von Beschäftigten und ihren Gewerkschaften erkämpften Löhnen und Arbeitsbedingungen.
Doch damit werden zwei Sachverhalte übersehen. Die koloniale Weltordnung hat von Beginn an die Länder des globalen Südens, also die Peripherien des kapitalistischen Weltsystems, in den Status von Lieferanten von Rohstoffen, Agrarprodukten oder arbeitsintensiven Billigproduktionen gedrängt. Manche Länder sind extrem abhängig Export von einiger weniger Rohstoffe, wie beispielsweise Mali, Madagaskar oder Peru vom Metallexport. Dabei schwanken die Rohstoffpreise meist stark, was den Ländern die Planungssicherheit erschwert. Brechen an den internationalen Rohstoffbörsen die Preise ein, bedeutet das meist eine Wirtschaftskrise – die dann oft auf dem Rücken der Schwächeren ausgetragen wird, wenn etwa Regierungen die Sozialausgaben kürzen müssen.
Im Nord-Süd-Handel findet dabei ein systematischer ungleicher Tausch statt zwischen den höherwertigen Industrieprodukten und Dienstleistungen aus dem Banken- und Versicherungssektor einerseits und Bergbau, agrarischen oder technologisch einfach hergestellten Massengütern andererseits. Die Regierungen der kapitalistischen Zentren setzen viel daran, dass die wirtschaftspolitischen Regeln des Weltsystems in ihrem Sinne geformt und erhalten werden – etwa Freihandel in jenen Branchen, in denen sie besonders wettbewerbsfähig sind, oder das globale Finanz- und Währungssystem. Auch das globale Kreditsystem ist weiterhin darauf angelegt, dass viele Länder des globalen Südens bei Regierungen und Banken des globalen Nordens und China verschuldet sind, die ihnen dementsprechend wirtschaftspolitische Bedingungen diktieren können.
Aber auch im Bereich der industriellen Produktion profitiert der globale Norden vom globalen Süden. China war seit den 1990er Jahren die „Werkbank der Welt“, wo günstige Produkte für den Weltmarkt produziert werden – und nach Indien wurden viele Dienstleistungen ausgelagert, die von billigen Arbeitskräften erbracht werden. Die unglaubliche Dynamik in China verdeutlicht dabei, dass nicht „der“ globale Süden per se ausgebeutet wird, sondern auch dort Kapitalakkumulation und die Schaffung von materiellem Wohlstand für Hunderte Millionen von Menschen stattfindet. Das geschieht durch die starke Ausbeutung von Menschen und Natur in China selbst sowie durch imperiale Wirtschaftspolitiken in anderen Ländern und Kontinenten wie Afrika und Lateinamerika. Das allerdings ändert nichts daran, dass China und viele andere Länder des globalen Südens zentral für den materiellen Wohlstand im Norden sind.
Es ist daher für viele Menschen in den etablierten kapitalistischen Zentren eine höchst verstörende Tatsache, dass die politisch und wirtschaftlich Mächtigen in China seit einigen Jahren die Strategie verfolgen, China selbst zum High-Tech-Land zu machen und mit den USA und Europa zu konkurrieren. Dabei bleiben die wirtschaftlichen Verflechtungen eng und die Produktion in China zentral für den materiellen Wohlstand in Europa.
Zweitens wird auch der sogenannte ökologisch ungleiche Tausch in diesen Diskussionen übersehen. Der ist entscheidend, denn die Rohstoffe, Vorprodukte und Energie, die im Norden eine hohe Produktivität ermöglichen, stammen oft aus Ländern des globalen Südens. Technologischer Fortschritt und der zunehmende Ersatz menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen basieren ebenso auf der Ausbeutung von Menschen und den natürlichen Rohstoffen in anderen Weltregionen.
Daher ist die Position, der Wohlstand des Nordens basiere nicht auf der Ausbeutung des globalen Südens, unverständlich. Sie übersieht nicht nur die genannten Dimensionen globaler Ungleichheit und ökologischer Zerstörung. Sie gibt tendenziell den Menschen und Gesellschaften des globalen Südens die Schuld an den dortigen schlechteren Lebensbedingungen (oft als „Unterentwicklung“ bezeichnet). Die historisch gewachsenen Ausbeutungsverhältnisse werden damit negiert.
Gutes Leben für alle – in Nord und Süd
Auch ein letztes Argument der Befürworter*innen der bestehenden globalen Wirtschaftsverhältnisse ist problematisch. Dass nämlich die Näher*innen in Bangladesch oder die Autobauer in China zwar ausgebeutet und schlecht bezahlt werden, aber für lokale Verhältnisse relativ gut verdienen würden und zu bescheidenem Wohlstand kommen können. Dies sei nämlich der Nachfrage aus dem globalen Norden nach Kleidung und Autos geschuldet; ohne diese hätten die Menschen gar keinen Job. Doch, so das Gegenargument, was sind die oft unmenschlichen und von den Unternehmen vorgegebenen Bedingungen, unter denen Menschen arbeiten müssen? Warum werden sie daran gehindert, sich gewerkschaftlich zu organisieren, für ihre Rechte sowie bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu kämpfen, damit die Arbeitskraft billig und die Profite hoch bleiben?
Sicher, auch im globalen Süden sollen sich die Lebensbedingungen für die Mehrheiten verbessern, nicht nur für die Reichen. Doch dafür muss nicht bedingungslos für den Weltmarkt produziert und die Natur zerstört werden. Statt einer Automobilisierung der Welt könnten in den Ländern des globalen Südens sehr gute öffentliche Verkehrssysteme entstehen, statt industrieller und ökologisch meist desaströser Landwirtschaft zunächst der Anbau lokaler, saisonaler und ökologischer Lebensmittel.
Ein solcher Perspektivwechsel bedeutet mindestens: Wir im globalen Norden müssen einen ressourcenleichten Wohlstand schaffen, der viel weniger auf Rohstoffen, Vorprodukten und Waren für den Endverbrauch aus dem globalen Süden basiert. Und wir benötigen dringend eine Reform der Weltwirtschaftsordnung, also andere Regeln, die nicht zuvorderst die Interessen der profitorientierten Konzerne bedienen, sondern eigenständige und ökologisch nachhaltige Wirtschaftsweisen fördern.