Rufe nach mehr Wachstum sind heute ein fester Eckpfeiler in der politischen Diskussion. Jede kleinste Schwankung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nach unten wird mit fast religiöser Enttäuschung kommentiert. Die Dominanz des Wachstumsgebots ist kaum zu übersehen – es erscheint auf den Titelseiten der Zeitungen, spielt eine Schlüsselrolle in ökonomischen Analysen und durchzieht politische Debatten – über Ländergrenzen und über das politische Spektrum hinweg.
Besonders eindrücklich zeigt sich die Hegemonie des Wachstumsparadigmas in einer Rede der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2009, kurz nach dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise:
Mit diesen Glaubenssätzen ist Merkel nicht allein – sie finden sich in fast allen politischen Programmen.
Wachstum erscheint selbstverständlich. Es ist eines der mächtigsten politischen Schlagworte. Oft wird es in Metaphern verpackt, wie den „wachsenden Kuchen“ oder die „steigende Flut, die alle Boote hebt“. Doch ein genauerer Blick und eine wissenschaftlich basierte Analyse zeigen: Wachstum als Politikziel ist nicht natürlich oder selbstverständlich, sondern eine relativ neue Erfindung, die sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Und vor allem zeigen sie: Wachstum ist kein sinnvolles gesellschaftliches oder politisches Ziel, weil das Interner Link: Bruttoinlandsprodukt, an dem Wachstum festgemacht wird, ein ausgesprochen schlechter Maßstab für menschliches Wohlergehen ist. Während sich diese Erkenntnis in der Wissenschaft seit Jahrzehnten zunehmend etabliert, legt die neuere Forschung einen noch weitergehenden Schluss nahe: Wachstum ist auch ein schlechtes Mittel, um allgemein anerkannte gesellschaftliche Ziele wie das Gemeinwohl, Wohlergehen, Nachhaltigkeit und Demokratie zu erreichen. Nicht nur ist Wachstum nicht nachhaltig, das Festhalten an Wachstumspolitik gefährdet zunehmend die ökologische Basis menschlicher Entwicklung – und es scheint sich sowieso dem Ende zu nähern.
Grünes Wachstum ist eine Illusion
Die vorherrschende Strategie, um Nachhaltigkeit und eine schnelle Dekarbonisierung zu erreichen, setzt auf technologische Innovationen, Effizienzsteigerungen sowie den Ausbau erneuerbarer Energien. Windkraft, ökologische Baustoffe und Wärmepumpen sind Beispiele hierfür. Auf diese Weise, so die Vorstellung, ist es möglich, Ressourcenverbrauch und Emissionen schnell zu senken, während gleichzeitig die Wirtschaft wächst. Doch diese Strategien allein reichen nicht aus – denn Effizienzsteigerungen werden oft durch Mehrverbräuche aufgefressen. Die Wissenschaft spricht von Rebound-Effekten.
Dies lässt sich gut veranschaulichen am Beispiel Mobilität. 2009 setzte die damalige Bundesregierung das Ziel, bis zum Jahr 2020 eine Million Elektroautos auf die Straßen zu bekommen. Das Ziel wurde dann erst 2023 erreicht. Viel dramatischer aber: Bis 2023 hatte die Autoindustrie so viele neue Autos verkauft, dass die Gesamtmenge an Autos auf Deutschlands Straßen von ungefähr 41 Millionen (2009) auf fast 49 Millionen gestiegen war– mit bis heute steigender Tendenz. Gleichzeitig werden die Autos immer größer. SUVs sind das am schnellsten wachsende Segment bei Neuzulassungen und machten 2024 mit 1,17 Millionen 42 Prozent der Neuzulassungen aus (Elektroautos nur 14 Prozent).
Mehr und größere Autos: Das ist der zentrale Wachstumstrend, der die technischen Innovationen in der Antriebstechnologie überkompensiert, sodass die Emissionen trotz technischer Innovationen nicht signifikant abnehmen. Vergleichbare Entwicklungen gibt es in anderen Bereichen: steigende durchschnittliche Wohnraumfläche, steigender Energieverbrauch, mehr Konsumgüter treiben Wachstum und damit die Überschreitung ökologischer Grenzen voran.
Auch die Studienlage zu grünem Wachstum ist immer klarer. Demnach ist es nahezu unmöglich, Wachstum ausreichend schnell von den Emissionen zu entkoppeln. Global gesehen gilt trotz aller Bemühungen um Klimaschutz: Die wenigen Phasen, in denen die weltweiten Treibhausgasemissionen absolut zurückgingen, waren Perioden der ökonomischen Schrumpfung – etwa die Ölkrise der 1970er Jahre und zuletzt die von der Coronapandemie verursachte Wirtschaftskrise.
Es stimmt zwar, dass einige Länder wie die Bundesrepublik bereits eine leichte Entkopplung des Wirtschaftswachstums von den Emissionen erreicht haben. So gingen seit 1990, also in fast dreieinhalb Jahrzehnten, die Emissionen um insgesamt 46 Prozent zurück. Erreicht wurde dies vor allem durch den Übergang zu erneuerbaren Energien. Das ist aber kein Beleg für die Erfolgsgeschichte „grünen Wachstums“. Im Gegenteil.
Denn genauere Analysen zeigen: Die Reduktionen waren zu großen Teilen durch nicht wiederholbare Faktoren verursacht wie den Zusammenbruch der Industrie in der ehemaligen DDR nach 1990 sowie Produktionsverlagerungen von Konsumgütern nach China. Der Rückgang konzentrierte sich auf Phasen, in denen die Wirtschaft stagnierte oder nur sehr langsam wuchs. Betrachtet man die gesamte Zeitspanne seit 1990, sanken die Emissionen in den meisten Jahren nur um ungefähr ein Prozent – das reicht bei weitem nicht. Um das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, sind wesentlich stärkere jährliche Emissionsminderungen erforderlich: laut Sachverständigenrat für Umweltfragen etwa elf Prozent pro Jahr in Deutschland. Anderen Analysen zufolge müssten die Emissionen sogar noch stärker gesenkt werden. Beim aktuellen Tempo würde die Dekarbonisierung in Deutschland noch über 200 Jahre dauern, und das verbleibende Kohlenstoffbudget um ein Mehrfaches verbrauchen.
Ein weiteres Problem: Grüntechnologische Lösungen schaffen oft neue soziale und ökologische Krisen, indem sie die Probleme lediglich verlagern: von Kohlenstoffemissionen zur Verringerung der biologischen Vielfalt, vom Globalen Norden zum Globalen Süden, von der Energieerzeugung zur Landzerstörung. Vieldiskutierte Nebenfolgen einer Verkehrswende, die allein auf mehr E-Autos setzt statt auf soziale Innovationen und mehr öffentlichen Verkehr, sind der oft mit Menschenrechtsverletzungen einhergehende Abbau seltener Erden für die Herstellung der Batterien in Elektrofahrzeugen, die flächenintensive Produktion von Biokraftstoffen für den Flugverkehr und die Herstellung von Wasserstoff in afrikanischen Ländern zur Versorgung der europäischen Industrie.
Grünes Wachstum ist volkswirtschaftliches Greenwashing. Diese Erkenntnis hat sich angesichts kontinuierlich steigender globaler Emissionen und der Gefahr eines ökologischen und gesellschaftlichen Kollapses durch Kipppunkte im Erdsystem auch unter vielen etablierten Wissenschaftler*innen durchgesetzt: In dem 2024 erschienenen „State of the Climate Report“ argumentieren William J. Ripple, Johan Rockström und andere: „In einer Welt mit begrenzten Ressourcen ist unbegrenztes Wachstum eine gefährliche Illusion. Wir brauchen mutige, transformative Veränderungen: eine drastische Reduzierung von Überkonsum und Verschwendung, insbesondere durch die Wohlhabenden […] und die Einführung eines ökologischen und postwachstumsorientierten Wirtschaftsrahmens, der soziale Gerechtigkeit gewährleistet.“
Wachstum macht das Leben nicht besser
Nach Jahrzehnten intensiver Forschung in der Wohlfahrtsökonomik, Sozialgeschichte und Glücksforschung bildet sich zunehmend die Erkenntnis heraus, dass das BIP „unser Leben falsch misst“ (so ein berühmter Bericht von Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi). Ein steigendes BIP führt in Gesellschaften des Globalen Nordens nicht mehr dazu, dass sich das Wohlergehen verbessert. Diese Studien zeigen, dass ab einer gewissen Einkommensschwelle Gleichheit viel entscheidender für gesellschaftliche Wohlfahrt ist als steigende Pro-Kopf-Einkommen und dass in Industrieländern ungefähr seit den 1980er Jahren trotz weiteren Wachstums Wohlfahrt und Lebensqualität stagnieren oder sogar zurückgehen. Wachstum ist daher „unwirtschaftlich“ geworden.
So hat sich seit Mitte der 1980er Jahre das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Deutschland mehr als verdreifacht – doch die Lebenszufriedenheit ist in dieser Zeit nicht gestiegen, sondern über den gesamten Zeitraum sogar Interner Link: leicht rückläufig.
Die Zukunft des Wachstums ist unsicher
In der Folge der jüngsten Weltwirtschaftskrise Anfang des 21. Jahrhunderts glauben mehr und mehr Ökonom*innen, dass wir eine neue Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht haben. Ausgangspunkt ist die Analyse, dass die Wachstumsraten in den Ländern mit der längsten Erfahrung mit Wirtschaftswachstum – Europa, Nordamerika und Japan – einen konstanten Rückgang aufweisen. Deshalb äußern sie die Sorge, dass die frühindustrialisierten Länder bald das Ende des Wachstums erleben werden.
Ganz unabhängig von ökologischen Grenzen des Wachstums scheint es also sinnvoll, sich vorsorgend auf eine Zukunft einzustellen, die mittelfristig ohne Wachstum stabile Entwicklung ermöglicht. So schreibt die Umweltagentur der EU: „Das ‚Postwachstums'-Konzept' scheint für Europa und andere entwickelte Regionen in hohem Maße relevant zu sein, da sie mit wachsenden Unsicherheiten hinsichtlich des zukünftigen BIP-Wachstums konfrontiert sind.“
Es könnte gut sein, dass sich langfristig das schnelle Wachstum der westlichen Gesellschaften zwischen 1760 und 1970 als historische Phase entpuppt, die irgendwann endet. Nur zu gut, dass wir mittlerweile wissen, dass Wachstum nicht das gleiche wie Wohlstand – und beispielsweise Gleichheit viel entscheidender für menschliches Wohlergehen ist.
Das Festhalten am Streben nach Wachstum ist also nicht nur angesichts sinkender Wachstumsraten unrealistisch, sondern aus Wohlfahrtsperspektive auch fragwürdig und vor allem ökologisch hochproblematisch. Wachstumspolitik ist instabil und selbstwidersprüchlich, da die geweckten Erwartungen nach immer weiter steigender materieller Produktion mit den ökologisch-sozialen Grenzen des endlichen Planeten kollidieren. Wachstum ist ein zentraler Treiber der sich zuspitzenden Polykrise – und es ist höchste Zeit, Alternativen einer Postwachstumsökonomie ernsthaft zu erforschen, zu diskutieren und politisch anzugehen. Neuere Forschungen zu Wirtschaften ‚beyond growth‘, zu ‚well-being economy‘, ‚Donut-Ökonomie‘, Degrowth oder Postwachstum zeigen: Es ist möglich, in frühindustrialisierten Ländern mit einem deutlich reduzierten Energie- und Materialverbrauch ein gutes Leben zu realisieren – durch eine demokratische Transformation hin zu einer stabilen, wachstumsunabhängigen Wirtschaft.