Das Jahresgutachten 2017/18 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (der „Wirtschaftsweisen“) enthält eine beeindruckende Grafik zur Entwicklung der Weltbevölkerung. Sie illustriert, dass in den Jahren von 1870 bis etwa 1990 die Anzahl der Personen auf der Welt, die in absoluter Armut lebten, von gut einer auf über zwei Milliarden Menschen anstieg.
Debatte: Leben wir auf Kosten des globalen Südens?
Der „globale Süden“ kann vom Handel mit dem „Norden“ profitieren
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Profitieren die ärmeren Länder vom Welthandel? Die Befunde sind eindeutig: Die Globalisierung schafft auch Wohlstand in Ländern, die weniger produktiv sind. Das hat mit der Arbeitsteilung zu tun.
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Etwas anderes hat sich seit 1990 ebenfalls stark verändert: der globale Austausch an Waren und Dienstleistungen, ein wichtiger Aspekt der Globalisierung. Wurden 1990 weltweit Waren und Dienstleistungen im Wert von rund 4,3 Billionen US-Dollar gehandelt, so betrug dieser Wert 2023 knapp über 26 Billionen US-Dollar. Das entspricht einem Wachstum von ungefähr 500 Prozent im vergangenen Vierteljahrhundert.
Ist es Zufall, dass die Zahl der Bevölkerung in Armut drastisch gefallen ist in der Zeit, in der die Globalisierung stark zunahm? Es gibt gute ökonomische Argumente und belastbare Belege, die nahelegen, dass es kein Zufall ist, sondern dass es hier einen kausalen Zusammenhang gibt: Eine Öffnung einer Volkswirtschaft hin zu mehr Handel kann zu mehr Wachstum der Wirtschaft führen, was dann auch eine Reduzierung der Armut mit sich bringt.
Die internationale Arbeitsteilung
Die grundsätzliche theoretische Idee, warum Handel das Wirtschaftswachstum fördert, basiert auf den Vorteilen der internationalen Spezialisierung – ein Argument, das bis auf Adam Smith und David Ricardo zurückgeht, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts darüber nachdachten . Wenn Länder sich für den Handel öffnen, bedeutet das, dass sie nicht alle Güter und Dienstleistungen selbst herstellen müssen, sondern sich auf bestimmte Produkte spezialisieren können, Produkte, bei denen sie einen Vorteil in der Produktion haben. Das kann auf klimatische Bedingungen oder Verfügbarkeit von Rohstoffen zurückgehen (zum Beispiel Kakao aus Ghana) oder auch auf Kosten- oder Technologievorteile in der Produktion (etwa Textilien aus Bangladesch).
Ausschlaggebend ist dabei: Solche Spezialisierungsvorteile ergeben sich selbst dann , wenn ein Handelspartner in der Produktion aller Güter absolut gesehen weniger produktiv ist als der andere – oder wenn ein anderer Handelspartner bei allen Gütern produktiver wäre als andere. Selbst wenn Deutschland – oder andere Länder des „globalen Nordens“ – mit etwas Anstrengung Kakao oder Textilien günstiger herstellen könnten als andere, wäre dies nicht sinnvoll, da sie dann Beschäftigte und Kapital abziehen müssten aus anderen Industriezweigen, die für sie ein höheres Wachstumspotenzial haben. Spezialisierung ergibt also ökonomisch gesehen Sinn.
Dies ist eine extrem wichtige Einsicht: Handel ist damit kein Nullsummenspiel, bei dem Länder so viel exportieren wie möglich und der Handelspartner durch diese Exporte verliert. Sondern es ist ein Austausch, bei dem sich Handelspartner spezialisieren und dadurch profitieren, dass zum einen die Produzenten durch Exporte auf größere Absatzmärkte zugreifen können (sie also dadurch wachsen und Arbeitsplätze schaffen), und zum anderen für die Konsumenten durch Importe eine größere Auswahl an Gütern zu einem geringeren Preis verfügbar ist. Außerdem können Unternehmen durch ihre Teilnahme am Welthandel von ihren Handelspartnern lernen und so ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit weiter erhöhen.
Spezialisierung bedeutet außerdem nicht zwingend, dass es weltweit nur einen Produzenten eines bestimmten Produkts geben sollte. Produktdifferenzierung durch technische Unterschiede oder Markennamen führt dazu, dass Konsumenten eine größere Auswahl haben. Deswegen nutzen wir Smartphones sowohl aus den USA als auch aus Südkorea und China, trinken Wein aus Frankreich, Italien und Spanien, aber auch aus Australien, Südafrika oder Chile, und fahren Autos aus vielerlei Ländern.
Gewinner und Verlierer der Globalisierung
Es gibt also gute Gründe davon auszugehen, dass Handel den Wohlstand fördert. Aber ist das nur ein nettes theoretisches Gedankenspiel, oder zeigt uns auch die Realität, dass Handel zu höherem Wachstum führt? Mit dieser Frage beschäftigt sich nicht nur das oben zitierte Gutachten des Sachverständigenrates, sondern auch einige Publikationen internationaler Organisationen wie der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation,
Die Antwort ist eindeutig: Es gibt belastbare Evidenz, die die Aussagen der Theorie unterstützt. Empirische Arbeiten schauen dabei auf verschiedene Aspekte. Zum einen gibt es Analysen mit aggregierten Daten für Länder, die zeigen, dass Volkswirtschaften, die sich für den Handel öffnen, stärker wachsen als andere.
Wenn Theorie und Empirie unzweifelhaft zum Ergebnis kommen, dass Handel Wohlstand fördert, woher dann der Skeptizismus, den man oft in politischen Debatten und gesellschaftlichen Diskussionen hört? Dies liegt zum großen Teil daran, dass, selbst wenn die globale Weltwirtschaft, oder einzelne Länder eindeutig vom Handel profitieren, es nicht der Fall sein muss (und auch nicht ist), dass alle im gleichen Maße profitieren. Es gibt Gewinner und Verlierer der Globalisierung, sowohl international als auch innerhalb von Ländern.
Weltweit gesehen sind, neben den Ländern des „globalen Nordens“, viele Länder in Ost- und Südost-Asien die größten Gewinner der Globalisierung. Das Paradebeispiel ist dabei China, das vor allem seit seinem Beitritt zur Welthandelsorganisation 2001 ein massives Wachstum gezeigt hat, befeuert durch seine Rolle im internationalen Handel – der Löwenanteil der reduzierten absoluten Armut, von der oben die Rede war, geht auf China zurück. Im Gegensatz dazu haben viele Länder auf dem Afrikanischen Kontinent nicht oder nur wenig vom Handel profitiert. Das geht darauf zurück, dass diese Länder es nicht geschafft haben, große Akteure im Welthandel zu werden – insgesamt liegt der Anteil der afrikanischen Länder am Welthandel bei nur rund drei Prozent.
Ein weiterer Punkt ist, dass der internationale Handel beschuldigt wird, auf der Ausbeutung von Arbeitnehmern im globalen Süden zu beruhen. Das trifft in einigen Fällen zu (man denke nur an den Einsturz der Rana-Plaza-Textilfabrik in Bangladesch 2013), ist aber auch kein “Naturgesetz“. Hier stellt sich auch die Frage, was denn die Alternative ohne Handel wäre, also wenn die Produzenten, die ihre Arbeitnehmer ausbeuten, dies ohne Kontakt zur internationalen Handelsgemeinschaft tun könnten. Ob das besser wäre, ist fraglich. Dies ist eher eine Aufgabe für die Politik, hier auf die Einhaltung von Standards zu achten, als den Handel zu beschränken.
Des Weiteren ist es selbst in den „Gewinner-Ländern“ der Fall, dass es Verlierer durch den Handel gibt. Nicht nur in den Ländern des „globalen Südens“ sondern auch in Industrieländern. Spezialisierung bedeutet auch Strukturwandel. Unternehmen in den Wirtschaftszweigen, die international wettbewerbsfähig sind, florieren, während andere Wirtschaftszweige schrumpfen (müssen), um das Wachstum der anderen zu ermöglichen. Das führt zu Arbeitsplatzverlusten und hat soziale Folgen. Sollte deswegen der Handel durch protektionistische Maßnahmen eingeschränkt werden? Dadurch würde es ganz klar zu Wohlstandsverlusten kommen. Ökonomisch sinnvoller wäre die Öffnung für den Handel, flankiert mit Maßnahmen, die die negativen sozialen Auswirkungen des Strukturwandels abzufedern. Das könnte durch eine Umverteilung der Handelsgewinne finanziert werden – wenn denn der politische Wille dazu da wäre.
Weitere Meinungen zur Debatte
Holger Görg ist Professor für Außenwirtschaft an der Christian-Albrecht-Universität zu Kiel und leitet das Forschungszentrum "Internationaler Handel und Investitionen" am Kiel Institut für Weltwirtschaft. Seit 2016 leitet er das Kiel Centre for Globalization.