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Wirtschaftswachstum – ein Schicksal? | Debatte: Das Problem Wachstum | bpb.de

Debatte Debatte: Das Problem Wachstum

Vorsorge

Wirtschaftswachstum – ein Schicksal?

David Hofmann

/ 5 Minuten zu lesen

Wirtschaftswachstum hat Millionen Menschen Wohlstand beschert. Gleichzeitig bedroht es die Umwelt. Muss die Wirtschaft daher schrumpfen? Hilft „grünes Wachstum“? Oder müssen wir neu denken?

Ein modernes Gebäude mit vertikaler Bepflanzung. (© picture-alliance, CHROMORANGE | Christian Ohde)

Die Entwicklung unserer modernen, westlichen Gesellschaft ist ohne wirtschaftliches Wachstum nicht denkbar. Seit dem Beginn der Industrialisierung wuchsen Produktion und Konsum in den westlichen Ländern in einem historisch nie dagewesenen Ausmaß. Dies ermöglichte die Überwindung existenzieller Not für einen Großteil der Bürgerinnen und Bürger und die schrittweise Anhebung des verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens und allgemeinen Lebensstandards auf ein Niveau, das tendenziell über dem vieler Eliten und Herrschenden in der Menschheitsgeschichte liegt.

Erfolgsmodell Wachstum

Insbesondere seit den 1950er Jahren, dem Beginn des ‚Ölzeitalters‘, gab es in den westlichen, früh-industrialisierten Ländern eine Wachstumsentwicklung, die alles bisher Erlebte nochmals in den Schatten stellte. Sie war eine wesentliche Voraussetzung für bedeutende gesellschaftliche Errungenschaften. Hierzu gehören die Herausbildung eines Sozialstaates mit umfassenden Leistungen – vor allem in den westlichen europäischen Ländern –, bedeutende technologische Durchbrüche oder die Errichtung einer Infrastruktur zur Erfüllung vielfältigster, immer weiter wachsender Bedürfnisse. Zudem ermöglichte die dynamische Wirtschaftsentwicklung bisher nie gekannte soziale Aufstiegschancen durch neue Beschäftigungs- und Bildungsangebote.

Durch steigende Steuereinnahmen konnten die Staaten auch für sozialen Ausgleich und Absicherung von existenziellen Lebensrisiken sorgen, ohne bestimmte gesellschaftliche Gruppen extrem zu belasten oder – wie in der Menschheitsgeschichte üblich – auszubeuten. Dies alles trug maßgeblich zu einer Befriedung gesellschaftlicher Konflikte und zur Herausbildung und Stabilisierung einer demokratischen Gesellschaft bei, der es gelang immer inklusiver zu werden, also insbesondere Frauen und verschiedenen Minderheiten die lange verwehrten Teilhabemöglichkeiten einzuräumen. Wirtschaftswachstum wurde zum „Erfolgsmodell“ für moderne Gesellschaften, und eine „Kultur des Wachstums“ bildete sich hieraus, die weit über den wirtschaftlichen Bereich hinausging. Das „immer mehr und immer weiter“ wurde zu einem Leitbild für einzelne Menschen für ihr Lebensglück, und das Wirtschaftswachstum zu einem Erfolgsmaßstab für ganze Gesellschaften. Wachstum wurde zum universellen „Problemlöser“ für gesellschaftliche Probleme jeder Art. Unsere moderne Gesellschaft hat sich davon abhängig gemacht, immer weiter zu wachsen.

Klimawandel – die andere Seite der Medaille

Doch es gibt auch eine zweite Seite der Medaille. Viele negative Entwicklungen, vor allem Umweltbelastungen und die Ausbeutung von Menschen, haben wir einfach verlagert – die Wirtschaftswissenschaften sagen hierzu „externalisiert“ – in den globalen Süden oder auf den Globus insgesamt ‚abgewälzt‘. Der menschengemachte Klimawandel und der Verlust biologischer Vielfalt durch das Artensterben infolge zerstörter natürlicher Lebensräume sind die zentralen Bedrohungen für die Menschheit und alle Lebewesen auf der Erde geworden. Der Blick auf die seit dem „Ölzeitalter“ explodierenden Treibhausgasemissionen zeigt, dass eine Entwicklung außer Kontrolle geraten ist.

Nimmt man die international vereinbarten Klimaziele ernst, so ist eine fundamentale Veränderung der Art, wie unsere Gesellschaften wirtschaften, innerhalb nur weniger Jahrzehnte notwendig. Dabei kommt den früh-industrialisierten Ländern wie Deutschland eine besondere Verantwortung zu.

Der bisherigen Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik ist es bislang jedoch bei Weitem nicht gelungen, eine hinreichend starke Reduktion der ökologischen Belastungen durch eine „Entkopplung“ von Wachstum und Umweltbelastung zu erreichen. Einige wichtige Stellschrauben sind dabei kaum strittig – zum Beispiel der verstärkte Ausbau der Erneuerbaren Energien, die Entwicklung von Technologien, die effizienter mit fossilen Rohstoffen umgehen oder Abfälle reduzieren, aber auch der Ausbau von Infrastrukturen, die umweltfreundliches Alltagshandeln ermöglichen (wie der ÖPNV). Doch blickt man systemischer auf die Frage, wie Wachstum und die Erreichung umweltpolitischer Ziele zusammenhängen, sieht das gänzlich anders aus.

Zudem zeigt sich seit mehreren Jahrzehnten, dass in verschiedenen bereits weit entwickelten Ländern eine Zunahme der Wirtschaftsleistung und der Einkommen immer weniger zu einer höheren Lebenszufriedenheit beizutragen scheinen oder dies nur zeitweise oder unter bestimmten Bedingungen der Fall ist. Daher etabliert sich zunehmend, vor allem in internationalen Organisationen wie der OECD, eine erweiterte, an einem breiten Spektrum gesellschaftlicher Ziele orientierte Wohlstandsmessung, die auch Aspekte wie den sozialen Zusammenhalt oder Geschlechtergerechtigkeit beinhaltet.

Weitere gravierende Herausforderungen für das derzeitige Wachstumsmodell sind der tendenzielle Rückgang der Wachstumsraten in vielen entwickelten Ländern seit mehreren Jahrzehnten und das Scheitern von Versuchen, das Wachstum politisch zu stimulieren. Zudem ist in einigen Ländern, wie etwa Deutschland, die stark vom demografischen Wandel und dem damit verbundenen Fachkräftemangel betroffen sind, fraglich, ob substanzielles Wachstum in der Zukunft überhaupt realisierbar ist. Für eine pessimistische Sicht auf die Wachstumspotenziale gerade exportorientierter Volkswirtschaften wie Deutschland spricht auch, dass zunehmende Handelskonflikten zu beobachten sind, die sich weiter verschärfen könnten. Daher scheint es ratsam, Optionen für eine gesellschaftliche Entwicklung in Erwägung zu ziehen, die möglichst unabhängig(er) vom Wirtschaftswachstum sind, wie unten im Kasten skizziert.

Grünes Wachstum oder Postwachstum

Die Positionen in der Wachstumsdebatte lassen sich meist einem von zwei Konzepten zuordnen: Green Growth („Grünes Wachstum“) – der dominante Ansatz in Wissenschaft und Politik – und Degrowth als kritische Alternative hierzu.

Die Green-Growth-Schule argumentiert, dass weiteres Wirtschaftswachstum auch in früh industrialisierten Volkswirtschaften notwendig ist, um die Lebensqualität in diesen Gesellschaften zu erhalten oder zu erhöhen. Zudem sind sie sicher, dass ökologische Belastungen durch geeignete Instrumente (wie CO2-Besteuerung, Emissionshandel oder technologische Durchbrüche) ausreichend stark reduziert werden können. Die Wirtschaftsleistung kann dabei weiterhin wachsen. Diese Auffassungen lassen sich aber nur dann gut begründen, wenn eine Gewissheit für das Gelingen einer hinreichend starken Entkopplung von Wachstum und Umweltbelastung unterstellt wird, die wissenschaftlich aber umstritten ist.

Die Degrowth-Theorie ist hingegen der Überzeugung, dass Wirtschaftswachstum zur Aufrechterhaltung der Lebensqualität in den wohlhabenden Ländern nicht (mehr) notwendig ist. Diese Lebensqualität könne selbst dann gesichert oder gar erhöht werden, wenn die Wirtschaftsleistung sinkt. Dies soll unter anderem möglich werden durch Prozesse tiefgreifenden kulturellen Wandels, mehr gesellschaftliche Umverteilung, mehr Kooperations- statt Konkurrenzbeziehungen oder die Aufwertung von Care-Arbeit. Die Degrowth-Schule ist sich sicher, dass die Wirtschaftsleistung in den wohlhabenden Ländern sinkt, wenn die notwendige Umweltpolitik umgesetzt wird. Allerdings hat der Degrowth-Ansatz zwei große Schwachstellen: einerseits erklärt er nicht ausreichend, ob und insbesondere wie die Lebensqualität erhalten werden kann, wenn das Pro-Kopf-Einkommen stark abnimmt. Auch ist unsicher, ob die Strategie zur Entkopplung von Wachstum und Umweltbelastung wirklich so zum Scheitern verurteilt ist, wie viele Vertreterinnen und Vertreter des Degrowth annehmen.

QuellentextVorsorgeorientiertes Postwachstum

Aufbauend auf diesen Schlussfolgerungen haben meine Co-Autorinnen und -Autoren und ich in einer Studie für das Umweltbundesamt vorgeschlagen eine „vorsorgeorientierte Postwachstumsposition“ einzunehmen. Diese Perspektive ermöglicht den früh industrialisierten Ländern verantwortungsvoll mit den bestehenden Unsicherheiten umzugehen und reflektiert die ungeklärte Frage, inwieweit die nötige ambitioniertere Umweltpolitik mit Wachstum überhaupt vereinbar ist. Aus dem Vorsorgeprinzip leiten wir ab, den bisherigen Pfadabhängigkeiten unserer auf Wachstum ausgerichteten Gesellschaft entgegenzuwirken und wichtige gesellschaftliche Bereiche so zu verändern, dass sie ihre Funktionen unabhängig(er) von der Entwicklung der Wirtschaftsleistung erbringen können. Das erleichtert die Umsetzung von umweltpolitischen Maßnahmen, die das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen können. Dies würde der Politik größere Spielräume bei Konflikten zwischen ökonomischen und ökologischen Zielen ermöglichen. Umweltpolitische Maßnahmen wären weniger stark unter „Wachstumsvorbehalt“ gestellt.

Wichtige Beispiele für diese Wachstumsabhängigkeit sind die Sozialversicherungssysteme oder die Art wie wir Teilhabe durch Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt organisieren. Die Fachdebatte zu wirksamen Instrumenten befindet sich noch am Anfang und die Wirksamkeit bisheriger Vorschläge ist zweifelhaft oder nur schwer abschätzbar. Vorgeschlagen wird etwa, das monetäre Einkommen unabhängiger vom Erwerbseinkommen zu gestalten (etwa durch ein Grundeinkommen) und entsprechende Bedürfnisse stärker „jenseits des Marktes“ durch nicht-monetär vergüte Austauschbeziehungen zu befriedigen. Hierzu zählen die Stärkung von Care-Ökonomie, ehrenamtlichen Engagements, das nicht-kommerzielle Teilen von Ressourcen, die gemeinschaftliche Nutzung von Gütern und eine konsequente Reparaturkultur. Um steigende Gesundheitskosten zu dämpfen, wird vorgeschlagen, mehr in die Prävention zu investieren oder die Möglichkeiten hoher Gewinne im Gesundheitsbereich einzuschränken. Zugleich bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Debatte, welche Leistungsniveaus der Systeme sozialer Sicherung gesellschaftlich (noch) akzeptabel sind.

Unabhängig davon, wie die Wachstumsfrage letztlich beantwortet wird, ist es nötig die Klimaziele in den Fokus zu nehmen und „pragmatisch“ vorzugehen. Das bedeutet, dass sich die Politik aus einem breiten Instrumentenkasten sowohl des Green Growth-Ansatzes (wie Emissionshandel, Subventionen, steuerliche Anreize) als auch alternativer Ansätzen (wie Degrowth, aber auch Ideen wie sie in der Commons- oder Klimagerechtigkeitsbewegung vorgeschlagen werden) bedienen sollte. Essenziell ist es dabei, Prozesse kulturellen Wandels zu fördern, damit statt materieller individueller und gesellschaftlicher Ziele wünschenswerte Zielzustände (gesellschaftliches Wohlergehen/Zufriedenheit, „gutes Leben“) stärker in den Fokus rücken und gesellschaftliche Suchprozesse und Experimente hierfür zu fördern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Joel Mokyr, A Culture of Growth: The Origins of the Modern Economy. Why Enlightenment Culture Sparked the Industrial Revolution, Princeton 2022.

  2. Es gibt für Degrowth leider keine gute Übersetzung. Teilweise wird von Wachstumsverzicht, -rücknahme, Schrumpfung oder in der deutschen Debatte auch synonym von ‚Postwachstum‘ gesprochen.

  3. Zudem wird eine spezifische Auffassung von Lebensqualität zugrunde gelegt (die Erfüllung „individueller Präferenzen“), die als der ‚richtige‘ Maßstab für politisches Handeln kritikwürdig ist (siehe Ulrich Petschow et al., Gesellschaftliches Wohlergehen innerhalb planetarer Grenzen - Der Ansatz einer vorsorgeorientierten Postwachstumsposition, UBA-Texte 89/2018.

  4. Siehe Ulrich Petschow et al., Gesellschaftliches Wohlergehen innerhalb planetarer Grenzen - Der Ansatz einer vorsorgeorientierten Postwachstumsposition, UBA-Texte 89/2018; und Ulrich Petschow et al., Ansätze zur Ressourcenschonung im Kontext von Postwachstumskonzepten, UBA-Texte 98/2020.

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David Hofmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsfeld „Umweltökonomie und Umweltpolitik“ am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) in Berlin.