Sound und Revolte
Konsumkultur und alternativer Alltag
Detlef Siegfried
/ 18 Minuten zu lesen
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Lange Haare, laute Musik und Drogen: Jugendliche schufen sich in den 68ern ihre eigene private Gegenkultur. Der wachsende wirtschaftliche Wohlstand machte es möglich. Wer etwas auf sich hielt, reiste ins Swinging London oder nach Kopenhagen.
Im Alltag der 68er sollte sich nicht nur ein alternatives Leben verwirklichen, er war auch Teil eines politischen Konzepts. Fritz Teufel, Mitglied der Kommune I, erklärte: "Man muss die Gesellschaft ändern, um sich selbst ändern zu können. Man muss sich selbst ändern, um die Gesellschaft ändern zu können." In dieser Verschränkung konnte auch scheinbar Gegensätzliches zusammenfließen, wie sich im Leben vieler Akteure zeigte, die britische Popmusik und deutsche Liedermacher schätzten, radikale Ideen vertraten und Haschisch rauchten, politische Aktionen veranstalteten und im Sommer ans Mittelmeer trampten. Musik, Reisen und Drogenkonsum waren im Alltag verankerte Bindemittel der Gegenkultur, deren Anhänger sich durch einen spezifischen Habitus zu erkennen gaben. Entstehen konnte ein alternativer Alltag nur, weil sich die westdeutsche Gesellschaft seit den späten 1950er Jahren rasant wandelte. Wirtschaftlicher Wohlstand trieb die Erosion der traditionellen Sozialmilieus voran, und er gab Jugendlichen die Möglichkeit, ihre wachsenden Geldmittel in Schallplatten, Unterhaltungselektronik, Bekleidung, Kosmetik, Mode- und Musikzeitschriften zu investieren. Neue Lebensweisen konnten erprobt werden, weil sich Schul- und Universitätszeiten über einen wachsenden biografischen Zeitraum erstreckten. Der Besserstellungsschub wurde begleitet und kulturell überformt durch einen Wertewandel, der ungefähr 1964 einsetzte und zehn Jahre andauerte. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung und Teilhabe überlagerte traditionelle Normen wie Ordnung und Subordination; nicht mehr Aufsparen für ein erhofftes Glück im Erwachsenenalter bildete das Leitbild, sondern – von der Werbung nach Kräften forciert – Lebensgenuss hier und jetzt. Gegenkultur und alternatives Milieu waren ein Ergebnis dieses Wandlungsprozesses, der von den Akteuren selbst vorangetrieben und gestaltet wurde. Dabei waren Formen und Ausprägungen der Alltagskultur um 1968 umstritten. Sie stand in einem dreifachen Spannungsverhältnis – zwischen einem rationalen Aufklärungsdenken und einer emotional begründeten "neuen Sensibilität" (Herbert Marcuse), zwischen Kommerzialisierung durch die Kulturindustrie und den antikommerziellen Ansprüchen Jugendlicher, zwischen dem Ausgleich sozialer Unterschiede und der Entstehung neuer Distinktionsmechanismen.
Musik
Ein bedeutendes emotionales Bindemittel derjenigen Gruppen, die sich unter dem Sammelbegriff 'Gegenkultur' als Widerlager zu einer vermuteten Majorität verstanden, war Beat- und Rockmusik. Manche entdeckten schon in der nicht explizit politischen Beatmusik der frühen 1960er Jahre ein revolutionäres Potential. Sie konnte konsumiert werden, aber auch zur Bewusstseinsbildung beitragen. In der musikalisch begründeten transnationalen Jugendkultur, die sich seit den späten 1950er Jahren in ganz Europa ausbreitete, wurde elektrisch verstärkte Populärmusik auch deshalb links kodiert, weil sie eine besonders demokratische Form der medialen Artikulation darstellte und Weltoffenheit, Eigenaktivität und Partizipation repräsentierte. Weil nicht vorrangig der Text, sondern der Sound ihre soziale Bindungs- und Mobilisierungsfunktion begründet, ist Beatmusik zeitgenössisch als 'sprachlose Opposition' bezeichnet worden. Sie war die am wenigsten artikulierte Form der Gesellschaftskritik, begleitete aber die aufkommenden politischen Proteste auf der symbolischen und habituellen Ebene. Seit Mitte der 1960er Jahre wurde elektrisch verstärkte Musik darüber hinaus auch zu einem Medium politischer Botschaften. Frankfurter Provos betrachteten 1967 Beatmusik nicht nur als 'Kulturrevolution des Schaugeschäfts', sondern wünschten sich auch, die Beatles, Bob Dylan und andere Stars möchten eine 'internationale Beat-Partei' gründen, um Rassismus und Kolonialismus zu bekämpfen.
Ursprungsorte der Beatmusik wie der Cavern Club (Liverpool) oder der Star-Club (Hamburg) boten ein Ambiente der Abweichung von gesellschaftlichen Konventionen, das auch als Protest aufgefasst werden konnte. Im Laufe der 1960er Jahre kamen Lokalitäten wie der Club Voltaire (Frankfurt), die Lila Eule (Bremen) und der Club Ça Ira (West-Berlin) hinzu, die Jazz und Beat, Kunst, Filme, Lesungen und politische Veranstaltungen anboten und so oppositionelle Kultur und Politik zu einem neuen Veranstaltungskonzept verknüpften. Im Aufschwung der Diskotheken seit 1967 entstanden Tanztempel wie Creamcheese (Düsseldorf), Grünspan (Hamburg) und Sound (West-Berlin), in denen sich psychedelische Musik, Drogenkonsum und politische Opposition diffus miteinander verbanden.
Der Aufstieg der Beat- und Rockmusik stellte die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur, Avantgarde und Masse in Frage. Sie wurde zur Massenkultur, weil sie die kulturelle Präferenz einer Minderheit darstellte – jung, kritisch, individualistisch –, die im Wertewandel immer mehr Anziehungskraft entwickelte. Das zeigte sich etwa im Erfolg des Fernseh-Beat-Club von Radio Bremen, der 1965 auf die Mattscheibe kam, schon bald international als "the best of the bunch" galt und 1968 durchschnittlich 75 Millionen Menschen erreichte – seit diesem Jahr versetzt mit Wortbeiträgen, z. T. politischer Art. Auch Wirtschafts- unternehmen griffen den neuen Trend auf, als er noch umstritten war, und bedienten damit einen wachsenden Bedarf. Dass amerikanische Plattenfirmen wie CBS und Liberty oder die schwedische Firma Metronome über englischsprachige Populärmusik den Gedanken der Revolution popularisierten, bereitete jungen Nonkonformisten Kopfzerbrechen. Insbesondere CBS machte 'Underground' zu einem Warenzeichen und vermarktete damit den Sound der Gegenkultur. Parallel dazu entstanden Plattenlabels wie Ohr, Kuckuck und David Volksmund Produktion, die selbstverwaltet waren oder zwischen Kulturindustrie und linker Szene schillerten. Im Laufe der 1960er Jahre entstand in jugendbezogenen Sektoren der Kulturindustrie ein neuer Managertypus, der Künstler nicht nur als auswechselbare Displays betrachtete, sondern als autonome Produzenten. Das Ethos des professionellen, moralisch korrekten und publikumsnahen Musikmanagements verkörperte schon früh die Frankfurter Konzertagentur Lippmann + Rau, die zwischen 1962 und 1969 das American Folk Blues Festival veranstaltete und damit nicht nur den aktuellen Musikgeschmack junger weißer Europäer bediente, sondern auch ihren gestiegenen Bedarf an Identifikation mit den Unterdrückten und Ausgegrenzten auf der ganzen Welt, ihre Kritik an der Entfremdung und ihr antirassistisches Selbstverständnis.
Zwischen 1964 und 1969 gab es auf der Burg Waldeck einen europäischen Nukleus der Folkbewegung, auf der sich jährlich mehrere tausend Jugendliche trafen. Aus den Impulsen der Waldeck und des amerikanischen Underground entstanden die Internationalen Essener Songtage vom September 1968. Dieses bis dahin größte europäische Popfestival zog 40.000 BesucherInnen an und bot etwa 200 KünstlerInnen der verschiedensten Genres auf – darunter Alexis Korner, Franz Josef Degenhardt, Tangerine Dream, Mothers of Invention und The Fugs. 1970 rückte die Festivalkultur näher an den Alltag Jugendlicher heran, als in allen Teilen der Bundesrepublik erstmals eine Vielzahl von Gemeinschaftskonzerten abgehalten wurde – ein Zeichen dafür, dass die häufig noch unter dem Zeichen der Gegenkultur verhandelte Rockmusik immer weiter in die Gesellschaft diffundierte. In diesem Jahr nahmen etwa 500.000 Jugendliche an den Festivals teil, die allerdings nur begrenzt die hochgesteckten Erwartungen einer solidarischen Gemeinschaft der 'beautiful people' erfüllten.
Wohnung und Unterhaltungselektronik
Dass die zentrale Hardware der Jugendkultur in den 1960er Jahren der Plattenspieler war, zeigte schon die prominente Position, die er in vielen Jugendzimmern einnahm. Nun konnten Tonträger mit Popmusik selbstbestimmt gehört werden, allein und zu Hause, aber auch im Freundeskreis. Um 1968 wurden Stereoanlagen populär, die die feinen Unterschiede beim Musikkonsum hervortreten ließen. Nicht mehr der Besitz eines Gerätes zum Abspielen von Schallplatten allein verschaffte soziales Prestige, sondern die Verfügung über geschmacklich und technologisch avanciertes Material. Stereophone Wiedergabetechnik und die Einhaltung eines klanglichen Mindestniveaus definierten einen neuen Maßstab, der die in dieser Hinsicht nicht sonderlich anspruchsvollen Plattenspieler früherer Jahre ins Hintertreffen geraten ließ.
Vor allem Männer profitierten von der Elektrifizierung des Alltags – nicht zuletzt, weil sie techniknäher sozialisiert waren als Frauen. Mit dem Popmusik-Diskurs besetzten sie ein Gebiet, auf dem die Geschlechterverhältnisse noch zehn Jahre zuvor ausgeglichener gewesen waren. Anfang 1975 besaßen 16,9 % der 15- bis 23jährigen Frauen eine Stereoanlage, während es bei den gleichaltrigen Männern 42,9 % waren. In diesen kargen Zahlen wird eine massive Akkumulation kulturellen Kapitals auf der maskulinen Seite sichtbar, die erst im Prozess der Ausbreitung und Ausdifferenzierung der Popmusik und des ihr zugrundliegenden materiellen Ensembles entstanden war. Denn ein Vergleich mit den frühen 1960er Jahren zeigt, dass hier noch beide Geschlechter im Besitz von Plattenspielern fast gleichauf lagen – bei einem leichten Vorteil für die jungen Frauen. Frauen hörten Popmusik, und sie tanzten nach ihr begeisterter als Männer, aber als Gegenstände von Fachdiskursen waren Schallplatten und Phonogeräte, auch Popkonzerte, ja Popmusik überhaupt, zu einem bevorzugten Terrain vor allem für junge Männer geworden. Verfeinerte technische Reproduzierbarkeit durch ein ausdifferenziertes Ensemble technischer Gerätschaften war die Basis für diese Verschiebung in der Geschlechterrelation. Auch Mädchen verschafften sich auf diesem Gebiet Meinungsführerqualitäten, allerdings mit Abstand zu den Jungen und nachrangig zu ihren Hauptkompetenzgebieten Mode und Kosmetik. Die Lektüre einer Jugendzeitschrift, die detailliert (auch) über Popmusik berichtete, war unverzichtbar, um hier mithalten zu können. Wer signifikante Informationsvorsprünge gewinnen wollte, musste sich durch Zeitschriften wie "Pop" oder "Musik- Express" informieren, die den gewachsenen Bedarf an Spezialwissen seit 1966 bedienten – die Ambitioniertesten griffen zu "Sounds".
In der Einrichtung ihrer Wohnung unterschieden sich Jugendliche nicht nur vom Geschmack ihrer Eltern, sondern auch von dem, was ihnen von der Kulturindustrie als besonders modern angesonnen wurde. Wohl durchbrachen das Ende der 1960er Jahre popularisierte weiche Material, die geschwungenen Formen und die spielerischen Pop-Accessoires das funktionalistische Einrichtungsprinzip der Moderne. Doch war diese industriell durchgeformte Idylle weit entfernt von der Wirklichkeit westdeutscher Jugendzimmer oder Studentenbuden. Studierende griffen häufig auf ausgedientes Mobiliar zurück, darunter jene bequemen Polstermöbel, die, aus dem Kontext von Garnitur und Wohnzimmerschrank gerissen und mit selbstgezimmerten Regalen und politischen Plakaten kombiniert, ihre bürgerliche Symbolik verloren. Wie schon in den frühen 1960er Jahren bevorzugten junge Leute auch im Jahre 1969, wie eine Befragung der modisch besonders avancierten "Twen"- Leserschaft ausweist, das gemäßigt Moderne. Dabei war das noch einige Jahre zuvor favorisierte multifunktionale Jugendzimmer von seiner Spitzenposition verdrängt worden durch etwas großzügigere, üppiger gepolsterte, aber dennoch im sachlichen Stil gehaltene Arrangements. Die schlechtesten Noten erhielt der 'Gelsenkirchener Barock', aber auch die Sitzgruppe aus hypermodernen Kunststoffmöbeln. In der Praxis dominierte die Kombination alten und neuen Materials. In dieser 'Bricolage' fand auch eine speziell für das Jugendzimmer entwickelte Innovation im Möbelbau gelegentlich Verwendung: der mit Schaumstoffkügelchen gefüllte 'Sacco', der als rahmenlose Stoff- oder Kunstlederhülle das Prinzip des weichen Polsters radikalisierte, indem er sich weitestgehend dem Körper anpasste, anstatt ihn funktionalistisch zuzurichten.
Kleidung, Haartracht, Körperlichkeit
Durch ihre spezifische Haartracht, Kleidung und Körperhaltung waren Angehörige der Gegenkultur für Freund und Feind schnell zu identifizieren. Gleichzeitig gab die unendliche Kombinationsfähigkeit dieser Variablen die Möglichkeit, Zugehörigkeiten zu spezifischen Subkulturen innerhalb dieser Szenerie zu signalisieren und gleichzeitig individuell zu variieren. Grundsätzlich verkörperte das informelle Äußere – lange Haare, legere Kleidung, entspannte Haltung – die unter Jugendlichen besonders ausgeprägte Skepsis gegenüber Normen wie Disziplin, Gehorsam und Unterordnung. Schon die Körpersprache der seit 1966 gehäuft auf den öffentlichen Plätzen der Großstädte sichtbaren Vorboten der Gegenkultur, der 'Gammler', demonstrierte ein anderes Ideal: "Sein Oberkörper zeigte sich nicht aufgerichtet oder militärisch gestrafft. Der Gammler ging nicht, er schlenderte." Zum umstrittensten Zeichen für Liberalität und Rebellion wurden lange Haare. Sie kamen auf im Umfeld der Beat-Kultur und wurden in den Gammler- und Provo-Szenen mit Vorstellungen von einem antikonsumistischen Lebensstil und politischen Protesthaltungen
verbunden. Anfangs ein charakteristisches Merkmal der Beatles, verlagerte sich der darum entbrennende Kulturkampf in die Alltagssphäre, als junge Männer den medialen Vorbildern nacheiferten – nicht zuletzt, um Mädchen zu gefallen, die das feminine und lässige Erscheinungsbild solcher Bands mochten. Es gab weitere Anzeichen für eine Erosion des traditionellen maskulinen Ideals, am deutlichsten sichtbar in der Herrenmode, die Mitte der 1960er Jahre eine "schleichende Verweiblichung" anzuzeigen schien. Seit 1966 wurde die androgyne Tendenz unter dem Stichwort 'Unisex' verhandelt. "Jürgen will wie Uschi sein", so verortete die Zeitschrift "Twen" die Verschiebungsrichtung dieses Wandels. Gleichzeitig okkupierten junge Frauen das männliche Privileg, lange Hosen tragen zu dürfen – vorerst nur im Freizeitbereich, am Ende der 1960er Jahre auch in den harten Sphären von Ausbildung und Beruf. Wenn die Verbindlichkeit traditionaler Normen nachließ, kam es meist zum Kulturkonflikt – so auch bei langen Haaren und der Frage, ob Männer ein Rüschenhemd und Frauen eine Hose tragen durften. Untersuchungen von 1972 machten deutlich, dass Befürworter wie Träger von langen Haaren und Bärten nicht nur jünger als die Durchschnittsdeutschen waren, sondern auch besser gebildet und großstädtischer. Am wenigsten Rückhalt konnten Langhaarige in der Provinz erwarten.
Dennoch breitete sich die lässige Haartracht auch in der Gesamtgesellschaft aus, nicht zuletzt weil mit dieser Mode assoziierte Werte wie Jugendlichkeit, Toleranz und Individualität von den Bürgern stärker befürwortet wurden als noch zehn Jahre zuvor. Als 1972 eine Mehrheit in der Bevölkerung einen "gepflegten halblangen Haarschnitt" befürwortete, mussten Nonkonformisten die Gestaltung dieses wichtigen Erkennungsmerkmals modifizieren, um sich von der neuen Konvention abzusetzen. Die Haare sollten gern Schulterlänge erreichen und durften keineswegs besonders 'gepflegt' aussehen. Nicht zuletzt kam es auf die Kombination mit Kleidungsstücken und die Art ihres Tragens an, auf Accessoires, einen Bart etc. Durch derartige Montagen entstand ein Gesamtensemble, das sehr genau die Zugehörigkeit zu bestimmten Szenen und die Haltung gegenüber der Gesellschaft markierte. Rolf Schwendter, der einflussreichste Theoretiker der Gegenkultur im deutschen Sprachraum, führte lange Haare und Bärte ebenso wie nachlässige Kleidung auf rein "funktional-praktische" Gründe zurück: Sie verminderten "die Anzahl der festgelegten Zeremonielle, wie sie die tägliche Rasur, der Gang zum Friseur, zur Kleiderreinigung etc. darstellen". Das Echte und Unverbildete stellte gegenüber den künstlichen Zurichtungen des Körpers durch Sauberkeit, Rasur und ordentliche Kleidung ein Ideal dar. Damit harmonierte eine Praxis, die der Scheinhaftigkeit des Konsums eine strikte Orientierung am Gebrauchswert der Dinge entgegensetzen wollte. Im Alltag 'authentisch' sein konnte man durch vielerlei Praktiken: Bluesmusik hören, Tee trinken, Bücher aus dem 'Werkkreis Literatur der Arbeitswelt' lesen, die Lebensweisen von Indianern studieren, sich mit der Black-Panther-Bewegung solidarisieren. Auf textilem Gebiet fand der übergeordnete Trend zur freizeitorientierten, praktischen und informellen Unisex-Bekleidung im gebrauchten Parka aus US-Armeebeständen, Jeans und Pullover, die lange getragen und geflickt wurden, eine milieuspezifische Ausprägung. Versetzt und individualisiert wurde diese Konvention gelegentlich durch Überreste des als 'Anti-Mode' apostrophierten Hippiestils, um dessen Konfektionalisierung die Textilindustrie seit 1966 sich bemühte – selbstgemachte, gefärbte und aus anderen Kulturen importierte Kleidung nebst Ketten und Ringen.
Reisen
Die internationale Dimension von '1968' rückte nicht nur durch politische Konzepte, Medialisierung, Popkultur und Mode in den Alltag der Akteure ein, sie wurde auch gezielt von ihnen erkundet. Als touristische Trendsetter nutzten Jugendliche stärker als Erwachsene die neuen Möglichkeiten, die die verbesserten Verkehrsverhältnisse und der ideologische Überbau einer 'weltoffenen' Bundesrepublik boten. Durch die Bildungsreform verbesserten sich die Fremdsprachenkenntnisse, aber Aufsteiger wurden auch vom Ideal der Bildungsreise inspiriert und verknüpften es mit dem Ziel eines genuss- und erlebnisorientierten Urlaubs. Jugendliche reisten markant mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung, und sie fuhren häufiger ins Ausland. Dabei wählten Lehrlinge und Realschüler eher die deutschsprachigen Touristengebiete, die Schweiz, Österreich und Italien, während Gymnasiasten Großbritannien und Frankreich bevorzugten, wo Sprachkenntnisse weiterhalfen und gleichzeitig verbessert werden konnten. Sofern sie nicht mit der Familie fuhren, benutzten nicht Volljährige häufig die Bahn, die 1972 mit dem Interrail-Pass eine besonders preisgünstige Möglichkeit schuf, den europäischen Kontinent zu erkunden. Ältere verreisten zumeist mit dem Auto und ereichten damit ein Maximum an individueller Urlaubsgestaltung.
Auf die Segnungen der Automobilisierung ging auch die wachsende Beliebtheit der Auslandsfahrt per Autostopp zurück. Diese Art der motorisierten Fortbewegung wurde von traditionalistischen Kritikern beanstandet, die darin ein Merkmal von 'Asozialität' und daher das deutsche Ansehen im Ausland gefährdet sahen. Anhänger des Trampens hingegen erblickten darin nicht nur eine billige, sondern auch kommunikative und spontane Form des Reisens, die das Kommerzdenken der Konsumgesellschaft unterlief. Ob die Zielorte dieses Tourismus in jedem Falle vom Freiheitsgefühl der jungen Deutschen profitierten, war umstritten. Jedenfalls bildeten sich in südlichen Ländern 'Drop-Out'-Kolonien wie in Matala auf Kreta, das bereits 1966 als Fluchtpunkt bekannt war, spätestens 1969 einen Hippie-Boom erlebte und damit um eine Touristenattraktion reicher war.
Gemessen an den Übernachtungszahlen junger Deutscher in Jugendherbergen, erlebten die nordeuropäischen Länder einen signifikanten Zuwachs zwischen 1968 und 1970, während Spanien und Griechenland zwischen 1970 und 1972 nahezu eine Verdoppelung verzeichneten. In außereuropäischen Ländern schossen die Übernachtungen in den ersten beiden Jahren der neuen Dekade um fast sechzig Prozent in die Höhe – allerdings von einer sehr viel niedrigeren Ausgangsposition aus. Häufiger als die Leserinnen und Leser aller anderen Zeitschriften (mit Ausnahme der "Zeit") verreisten "Konkret"- und "Pardon"-Rezipienten, die zu einem erheblichen Teil aus dem Umfeld der Studentenbewegung kamen, ins fremdsprachige Ausland. Obwohl sich der Alternativtourismus vom Massenbetrieb der Tourismusindustrie absetzen wollte, hatte er nicht nur Sonnenseiten. Mit der gegenkulturellen Ethik kollidierte etwa die Tatsache, dass sich auch in diesem Milieu Reiseziele in den diktatorisch regierten südeuropäischen Ländern besonderer Beliebtheit erfreuten. Angesichts dieser Urlaubsvorlieben fragte Henryk M. Boder 1972: "Wie können lautere, aktive Antifaschisten sich von ihrem antifaschistischen Kampf in einem KZ erholen?" und machte sich über die Selbststilisierung der sonnensuchenden Revolutionäre lustig, die ihr 'aufgeklärtes Bewusstsein' für ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem Neckermann-Touristen hielten.
Besonders stark auf den Kulturtransfer durch die Pop- und Gegenkultur zurückzuführen war die Beliebtheit von Reisezielen in Großbritannien und Skandinavien. Schon seit den 1950er Jahren bestand ein relativ gut ausgebautes Netz an Begegnungsmöglichkeiten in Großbritannien, als ab 1963/64 die Beat-Kultur die Anziehungskraft des Landes für Jugendliche über alle Maßen steigerte. Seit Mitte der 1960er Jahre reisten, animiert durch "Bravo", "Twen" oder den "Beat-Club", immer öfter Jugendliche nach London, um Konzerte zu besuchen, ihre Stars zu treffen, im Hyde-Park oder in der Carnaby-Street den aktuellen Stand der Jugendmode und eines nonkonformistischen Habitus zu studieren. Wie bei vielen Auslandsreisen erschien auch in diesem Falle die Herkunftsgesellschaft in einem anderen, zum Teil ungünstigeren Licht. England galt als ",Promised Land', wo die Gitarren an den Bäumen wuchsen" und das Verhältnis zwischen den Generationen entspannter war. Auch über die mittleren 1960er Jahre hinaus blieb 'Swinging London' als Metropole der Epoche für westdeutsche Jugendliche das wichtigste städtische Reiseziel außerhalb der deutschen Grenzen. Als wenig politisierte Hochburg des europäischen Underground kam hier allerdings auch das kommerzielle Element besonders stark zur Geltung, was einen Londonreisenden aus dem linksradikalen Milieu bedenklich stimmte, der 1970 meinte, nun sei "alles vorbei", die Szene würde bestimmt von "Leute[n], die mit feinen langen Haaren und feinen Felljacken durch die Gegend laufen [...] aber ihr Bewusstsein gleicht im Grunde dem eines durchschnittlichen deutschen Bürgers". Anziehungspunkte seit den frühen 1970er Jahren bildeten Amsterdam und Kopenhagen als Zentren der Alternativkultur. In den von der Kopenhagener Stadtverwaltung als billige Massenunterkunft eingerichteten Sleep-Ins übernachteten im Sommer 1971 6.000 deutsche Jugendliche – das mit Abstand größte nationale Kontingent nach den Amerikanern. Deutsche Alternativzeitungen berichteten über 'Københavns Underground', der eine dichte Infrastruktur von Zeitungen, Geschäften, Clubs und Kneipen zu bieten hatte und seit 1971 mit der alternativen Republik Christiania überdies das einzige geschlossene Territorium in Europa, auf dem mehrere hundert Menschen weitgehend unabhängig von staatlichem Einfluss ihr Zusammenleben selbst gestalteten.
Drogen
Schon lange hatte der Konsum illegaler Drogen zum Habitus kultureller Avantgarden gehört. Doch im letzten Drittel der 1960er Jahre kam es zu einem Strukturbruch aufgrund seiner enormen Verbreitung unter Jugendlichen. Dieser Wandel vollzog sich in zwei Schüben, die im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung nicht direkt zusammenhingen. Während in den frühen 1960er Jahren lediglich klassische Drogen wie Amphetamine auch unter Jugendlichen verbreitet waren, schnellte seit 1967 die Zahl der Haschisch- und Marihuana-Konsumenten hoch. Der Boom hielt an bis etwa 1971, als die Skepsis gegenüber Drogen auch unter jungen Leuten wieder zunahm. In der Altersgruppe der 16- bis 29jährigen hatten 1971 14 % der Befragten nach eigenen Angaben schon einmal Haschisch oder LSD ausprobiert, 1972 waren es nur noch 10%, während der Anteil derjenigen, die erklärten, sie hätten dazu "keine Lust", von 63 % auf 72 % stieg. Getragen wurde die Haschisch-Welle vor allem von Gymnasiasten aus gehobenen Herkunftsmilieus, während der etwas später einsetzende Boom der 'harten' Drogen von weniger gut ausgebildeten oder sozial abgefederten Arbeiterjugendlichen und Drop-Outs ausging. Zeitgenössischen Erhebungen zufolge variierte der Anteil drogenkonsumierender Oberschüler in westdeutschen Großstädten zwischen einem Viertel und einem Drittel der Befragten. Allerdings handelte es sich weniger um Dauerkonsumenten, sehr viel häufiger wurde nur gelegentlich und über einen begrenzten Zeitraum hinweg 'gehascht', besonders experimentierfreudig waren junge Männer.
Im Gegensatz zum Heroin wurden Cannabisprodukte in der Gruppe konsumiert und waren Teil einer gegenkulturellen Vergemeinschaftung, die oftmals – ebenso wie das Halluzinogen LSD – mit einer politischen Bedeutung aufgeladen wurden. Der Gebrauch dieser Substanzen war überformt von einer 'Drogenkultur', die Wahrnehmungen und Ideale beeinflusste, Rituale ausbildete und über spezifische Medien verbreitet wurde. Drogen spielten eine eminent wichtige Rolle im 1967 aufkommenden 'Underground' – eine Sammelbezeichnung für jenes zwischen oppositioneller Politik und alternativer Kultur changierende soziokulturelle Geflecht, dessen politischer Flügel sich bald schärfer als 'Gegenkultur' auffassen sollte. Sie unterstützten das Informelle, Undisziplinierte und Fließende im äußeren Erscheinungsbild ihrer Akteure, indem sie als Alternative zur legalen Droge Alkohol eine generationsspezifische Substanz zur Erzeugung von Kontrollverlust boten. Cannabis-Konsum unterlief das selbst in seinen Ausbruchsoptionen rational kontrollierte Miteinander auch durch Einbindung in den Wertehimmel der 'neuen Sensibilität', den die Schallplatten psychedelischer Rockbands, Poster, Zeitschriften und Filme in den subkulturellen Alltag transportierten. Unter 'Gammlern' und 'Provos' gehörte Drogengenuss ebenso wie Rockmusik, Müßiggang und Reisen zum angestrebten Lebensstil – teilweise verbunden mit politischen Idealen. In Frankfurt und West-Berlin lag der Drogenhandel anfangs in den Händen politisierender 'Gammler', die ihn als Dienstleistung für die linke Szene betrachteten.
Weil Angehörige linker Gruppierungen unter Rauschmittelkonsumenten in den späten 1960er und frühen 70er Jahren überrepräsentiert waren, wurde der Umgang mit Drogen zu einem zentralen und kontrovers verhandelten Thema im linken Spektrum. In der explosionsartigen Ausweitung und Kommerzialisierung des Drogenmarktes wurde schnell deutlich, dass die Drogenszene auf die Dauer nicht unter linksradikale Protektion zu stellen war und das "Ritual der Droge" kaum einen politischen Zusammenhalt stiftete. Stattdessen erstreckte sich die zunehmende Kritik an der Kommerzialisierung des Underground auch auf den Drogenkonsum. Die SDS-nahe Schülerorganisation in Hamburg hielt fest, Haschisch zeichne sich dadurch aus, "dass es politische Gruppen zersetzt wie ein Ätzgift" und "die Exgenossen als 'fertige Typen' und 'Haschleichen' sich im beschaulichen Leben von Bohemiens üben und dabei vor die Hunde gehen". 1969 sah sich selbst das publizistische Flaggschiff des cannabis-affinen West-Berliner Anarchismus gezwungen, eine Debatte unter der Fragestellung "Ist Haschen revolutionsfördernd oder [...] konterrevolutionär?" anzuregen, in der Peter-Paul Zahl monierte, der revolutionäre "Hass" gehe "flöten durch häufigen Haschischgenuss". Es spricht manches dafür, dass seitdem der Cannabis-Konsum in der linken Szene keineswegs versiegte, aber doch kontrollierter und reflektierter vonstatten ging. In den nun aus dem Boden schießenden marxistisch-leninistischen Gruppen wurde er massiv bekämpft. Jedenfalls verflüchtigte sich die Vorstellung, Drogenkonsum und politische Revolution seien zwei Seiten einer Medaille, angesichts der Folgen, die Kommerzialisierung, Entideologisierung und Herausbildung einer 'harten' Drogenszene mit sich brachten.
Fazit
Der alternative Alltag war gedacht als Gegenentwurf zur Lebensweise des 'nach-bürgerlichen Angestelltensubjekts', des anthropologischen Prototypus der klassischen Moderne. Als Deutungsmuster wurde häufig auf Entfremdungstheorien zurückgegriffen, die die Zurichtung dieses Prototyps untersuchten, aber den Übergang zu einer post-industriellen Gesellschaft nur zum Teil erklären konnten. Aus heutiger Sicht erweist sich insbesondere die Vorstellung von einer entpolitisierenden oder ausschließlich manipulativen Wirkung des Konsums als verfehlt. Der Massenkonsum erweiterte die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe für alle Bürger. Auch die Entstehung eines alternativen Milieus ist nicht zu denken ohne Kommunikationsmittel und Waren wie Zeitschriften, Fernsehen, elektrisch verstärkte Musik, Drogen und Automobile. Allerdings wurde hier 'kritisch' und 'politisch' konsumiert, was besonders pointiert darauf verweist, dass der Konsumbürger in der Massenkonsumgesellschaft ein politisches Subjekt sein kann. Gleichzeitig entstand im Individualisierungsschub dieses Umbruchs das Ideal des 'unternehmerischen Selbst', das unter neoliberalem Vorzeichen die soziale Desintegration der Gesellschaft vorangetrieben hat, weil "jeder könnte, aber nicht alle können". Ebenso veränderte sich das Ideal des Hedonismus, der um 1968 als Alternative zur pflichtbetonten Arbeitsgesellschaft aufgefasst wurde und eine kritische Debatte um Lebensqualität auslöste, die Massenwohnungsbau, Umweltzerstörung und andere problematische "Nebenfolgen" (Ulrich Beck) der Moderne einbezog. Dass dieses Ideal insbesondere seit den 1980er Jahren kommerziell verengt wurde, sagt etwas über den Wandel der Gesellschaft aus, aber auch über die Rolle, die 'Konsumrebellen' für die Reproduktion des Kapitalismus spielen. Ein Blick auf die prosperierende und gleichzeitig sich politisierende Gesellschaft der langen 1960er Jahre zeigt jedoch, dass Gegenkulturen nicht auf ihre ökonomische Innovationsfunktion zu reduzieren sind, sondern ein enormes politisches Potenzial entwickeln können, das sich nicht zuletzt aus der Vision eines besseren Lebens speist.
Dr. phil., geb. 1958; Associate Professor für Neuere Deutsche Geschichte und Kulturgeschichte an der Universität Kopenhagen und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Anschrift: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Schulterblatt 36, 20357 Hamburg. E-Mail: E-Mail Link: siegfried@fzh.uni-hamburg.de
Veröffentlichungen u.a.: (Hrsg. zus. mit Axel Schildt und Karl Christian Lammers) Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2003(2); Der Fliegerblick. Intellektuelle, Radikalismus und Flugzeugproduktion bei Junkers 1914 bis 1934, Bonn 2001.