Ein Flugzeug mit Symbolcharakter
Geschichts- und erinnerungskulturelle Dimensionen des Dokumentations- und Bildungszentrums „Landshut“
Cord Arendes
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Hinweis
Das Dossier basiert zu Teilen auf Überlegungen, die der Verfasser bereits in einem APuZ-Beitrag veröffentlich hat. Vgl. Cord Arendes, Ein Flugzeug als Objekt staatlicher Erinnerungspolitik? Die „Landshut“ als deutscher Erinnerungsort, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/2021, S. 34–41.
Am 7. August 1970 wurde auf dem Flughafen München-Riem eine Boeing 737-200 der deutschen Lufthansa in Anwesenheit einer offiziellen Delegation aus der niederbayrischen Stadt auf den Namen „Landshut“ getauft. Damals wie heute ein gern gesehenes Medienereignis, da viele Fluglinien ihre Maschinen als „fliegende Botschafter“ ihrer Heimatländer verstehen. Die Lufthansa tauft ihre Flotte seit 1960 auf den Namen deutscher (Boeing 707 „Berlin“) und seit 2012 auch auf den Namen internationaler Städte (Airbus 380 „Peking“). Als Paten werden bevorzugt Orte gewählt, „die in besonderer Weise mit der Luftfahrt oder Lufthansa verbunden sind“ sowie Städte mit einer „historischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung“. Flugzeuge sind ein Sinnbild grenzenloser Mobilität, da sie Ziele auf allen Kontinenten der Welt ansteuern. Sie verfügen gleichzeitig aber auch über konkrete Ortsbezüge: zu ihrer Patenstadt, vor allem aber zu ihrem Heimatflughafen.
Flugzeuge mit historischem Symbolcharakter
Wenn ein einzelnes materielles Objekt zum Spiegel oder zum Symbol seiner Zeit auserkoren wird, so verweist diese Charakterisierung zumeist auf ein historisches Ereignis, dem eine besondere Bedeutung im Gedächtnis vieler Menschen zukommt. So erinnert beispielsweise eine am Frankfurter Flughafen aufgestellte Maschine vom Typ Douglas C-47 an die umfangreichen alliierten Unterstützungsmaßnahmen für die Bevölkerung Berlins während der „Luftbrücke“ 1948/49. Die Erinnerungsfunktion des Flugzeuges besteht in seiner Rolle als Stellvertreterin für einen größeren Zusammenhang. Genaue historische Kontexte erschließen sich aber nicht immer so leicht wie bei den „Rosinenbombern“.
Dass auf dem Lavastrand von Sólheimasandur (Island) bis heute das Wrack einer im Herbst 1973 notgelandeten Douglas C-117 der US-Navy liegt, verwundert nicht, wenn man weiß, das von 1941 bis 2006 amerikanische Truppen auf der Insel stationiert waren, da Island trotz NATO-Mitgliedschaft über keine regulären Streitkräfte verfügt. Die internationale Bekanntheit des Wracks und seine große Beliebtheit als touristisches Fotomotiv erschließen sich aber erst, wenn seine Präsenz in Musikvideos (u.a. Justin Bieber, „I’ll show you“, 2015) und auf in digitalen sozialen Medien geteilten Fotos ebenfalls berücksichtigt wird. Die Erinnerungsfunktion ist in diesem Fall zwar an eine bestimmte, zugleich aber namenlose Maschine gebunden.
Anders verhält es sich mit der Boeing 29 Superfortress, die im August 1945 die Atombomben über der japanischen Stadt Hiroshima abwarf: Die „Enola Gay“ ist nicht nur für die Angehörigen US-amerikanischer Veteranenverbände ein Objekt nationalen Schaucharakters. Mitte der 1990er Jahre war es im Zuge der Ausstellung des Flugzeugs im Smithsonian National Air and Space Museum (Washington DC) zu heftigen Kontroversen über eine angemessene Erinnerung an den ersten Atombombenabwurf gekommen. Diese verwiesen auch auf eine Neuvermessung des Einflusses sowie der Beteiligungsformen der Öffentlichkeit bei der Interpretation der Geschichte der USA im 20. Jahrhundert. Die vollständig restaurierte Maschine befindet sich heute in einem Technikmuseum, dem Steven F. Udvar Hazy Center der Smithsonian Institution (Chantilly, Virginia). Die Erinnerungsfunktion leitet sich hier vom Namen der Maschine ab.
Die „Landshut“ als materielle Verkörperung deutscher Zeitgeschichte
Seit einigen Jahren zieht auch in Deutschland ein Flugzeug unterschiedliche erinnerungspolitische Interessen auf sich: Die bereits erwähnte ehemalige Lufthansamaschine „Landshut“ soll „zum zentralen Objekt eines Dokumentations- und Bildungszentrums“ werden, „das als Lernort der historisch-politischen Bildung konzipiert ist“. Der Name „Landshut“ steht ohne jeden Zweifel für ein Flugzeug mit Symbolcharakter. Ihre Bedeutung für die jüngere Zeitgeschichte wurde wiederholt in Presseberichten hervorgehoben: „Seit dem ‚Deutschen Herbst‘ war die Landshut nicht mehr nur ein Flugzeug, sondern ein Symbol.“ Die Verfasserin dieser Zeile geht aber noch einen Schritt weiter, in dem sie die Materialität des technischen Objekts zur Metapher erhebt: „Eigentlich besteht ein Flugzeug hauptsächlich aus Stahl […] die Landshut aber besteht vor allem aus Geschichte“. Das Flugzeug, so lässt sich hier folgern, ist selbst zu einem Teil deutscher Geschichte geworden oder, noch treffender, die deutsche Zeitgeschichte materialisiert sich in der „Landshut“.
Die Geschichtsmächtigkeit der Maschine zeigt sich nicht zuletzt an dem Gewicht, das ihrer Rückkehr nach Deutschland zugeschrieben wurde – 1977 wie 2017: Nach fünfzehnstündigem Flug „mit Landungen in Dschibuti, Jeddah, Kairo und Saloniki“ traf die nur für Kurzstrecken ausgerichtete Maschine mehrere Tage nach den befreiten Geiseln und Besatzungsmitgliedern auf dem Frankfurter Flughafen ein. Die „Landshut“, so war in der Presse zu lesen, „ist wieder daheim“. Vier Jahrzehnte später finden sich ähnliche Überschriften: Die „Landshut“ war, „40 Jahre nach ihrer Entführung“, wieder „[z]u Hause“. Der Ort der Rückkehr hieß diesmal aber nicht Frankfurt am Main, sondern Friedrichshafen am Bodensee.
Zeitsprünge: 1977–2017–2022
Um den Symbolcharakter der „Landshut“ für die deutsche Geschichte zu verstehen und die unterschiedlichen Positionen in der Diskussion um das gleichnamige Dokumentations- und Bildungszentrum nachvollziehen und einordnen zu können, empfiehlt sich ein doppelter Blick zurück: Zum einen auf den Terror der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) im „Deutschen Herbst“ 1977, zum anderen auf das Jahr 2017, in dem sich die geglückte Geiselbefreiung das 40. Mal jährte und die Maschine nach Deutschland zurückkehren sollte. Für den geplanten Lernort kommt beiden Vorgeschichten jeweils eine hohe Bedeutung zu.
Der „Deutsche Herbst“
Im „Deutschen Herbst“ erreichte die Terrorwelle der linksterroristischen RAF mit der Entführung und Ermordung des Präsidenten des Arbeitgeberverbandes und des Bundesverbandes der deutschen Industrie – Hanns Martin Schleyer – einen weiteren blutigen Höhepunkt. Schleyer wurde am 5. September in Köln durch das RAF-Kommando „Siegfried Hausner“ entführt. Der Forderung der RAF nach Freilassung von insgesamt elf inhaftierten „Gesinnungsgenossen“ kam die Bundesregierung nicht nach. Die RAF versuchte durch die am 13. Oktober von einem Kommando der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) entführte Lufthansamaschine „Landshut zusätzlichen Druck auf die Bundesregierung auszuüben. Die Maschine mit der Flugnummer LH 181 hatte sich an diesem Tag auf dem Weg von Palma de Mallorca nach Frankfurt am Main befunden. Die Irrwege des entführten Flugzeugs und der Geiseln aber führten über den römischen Flughafen Fiumicino (erste Forderungen der Entführer), Larnaka auf Zypern (Verhandlungen der Entführer mit Vertretern der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO) sowie nach Zwischenlandung in Bahrain zu einem ersten, mehr als zwei Tage andauernden Aufenthalt auf dem Flughafen von Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten (erneute Verhandlungen, Ultimatum der Entführer, Auftanken der Maschine). Ein weiterer längerer Zwischenstopp im südjemenitischen Aden schloss sich an (Ermordung des Kapitäns der „Landshut“ Jürgen Schumann) bevor die Maschine auf dem Flughafen der somalischen Hauptstadt Mogadishu landete. Die Entführung endete hier schließlich am frühen Morgen des 18. Oktober mit der erfolgreichen Erstürmung der Maschine durch ein GSG9-Kommando, einer nach den Anschlägen auf die Olympischen Spiele von München 1972 neu gegründeten Sondereinheit des Bundesgrenzschutzes. Die im Gefängnis Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe verübten in der gleichen Nacht in ihren Zellen Selbstmord. Einen Tag später wurde die Leiche Hanns-Martin Schleyers in Mülhausen im Elsass aufgefunden.
Bilderwelten und Erinnerung
Zum Verwechseln ähnliche Szenen – Dubai, Aden, Mogadishu – die „Landshut“ steht allein in flimmernder Hitze auf einem staubigen Rollfeld bzw. auf einer Sandpiste an dessen Rand. Bilder, die nicht nur Zeitzeug:innen der Entführung in Erinnerung geblieben sind. Vor allem die Fernsehnachrichten haben dafür gesorgt, dass die düstere Szenerie selbst heute, über 40 Jahre nach den blutigen Ereignissen, noch allgemein präsent ist. Die zeitgenössische Realität vermischt sich aber mit späteren Eindrücken: Da in den Archiven deutscher Fernsehsender kein Bildmaterial von diesem damals live übertragenen Ereignis erhalten geblieben zu sein scheint, sind die Bilder der ohne Treibstoff auf dem Flugfeld in Dubai stehenden Maschine heute nur noch aus der Erinnerung derjenigen heraus abrufbar, die das Ereignis damals mitverfolgten.
Eine Leerstelle, die Philipp Lachenmann zu füllen versucht hat. In seiner preisgekrönten Videoinstallation „Space_Surrogate I (Dubai), 2000“ hat der Künstler ein erhaltenes, aus dem Tower des Flughafens aufgenommenes Standbild, in einer 31-minütigen Dauerschleife zu neuem Leben erweckt: „Sein Bild flimmert. Als ob der Betrachter selbst in der Wüste stünde, als ob er – wie die eingesperrten Passagiere damals – unter der Hitze und der beängstigenden Situation leiden müßte“. Ob heutige Betrachter:innen der Installation in der Lage sind, den Standort Dubai – nicht Aden oder Mogadishu – benennen und damit das Video einordnen zu können, dürfte fraglich sein. Die Erinnerung an die „Landshut“ setzt sich aus mehreren visuellen Versatzstücken zusammen: „Flugzeug“, „Rollfeld arabischer/ostafrikanischer Flughafen“, „gewaltsamer Tod des Piloten“ und „Befreiung der Geiseln“. Der Künstler selbst gibt wichtige Hinweise zu den Chancen (und Risiken) der erinnerungskulturellen Dimension der „Landshut“: Er versteht seine Videoinstallation als eine „Art ‚Rekonstruktion‘ der Szene, die ich als kleiner Junge mit Staunen und leisem Entsetzen betrachtete, eine Erfahrung, die ebenso unwiderruflich verloren schien wie das Filmmaterial selbst. Schließlich ist es der ‚innere Film‘, der die Bedeutung aller äußeren Bilder bestimmt.“
Sowohl zeitgenössisch reale als auch erinnerte Bilderwelten sind in der Lage, auch Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse der deutschen Zeitgeschichte wieder vor unser geistiges Auge zu rufen. Zur Präsenz der „Landshut“ im visuellen Gedächtnis haben, neben den nur unzureichend archivierten Fernsehbildern, vor allem mediale Formate beigetragen: So unter anderem das Doku-Drama „Todesspiel“ von Heinrich Breloer (177 min, D 1997) oder der Spielfilm „Mogadischu“ von Roland Suso Richter (108 min, D 2008). Filme können, dies zeigt ihre Rezeption, unter Umständen geeigneter sein, historische Zusammenhänge in Erinnerung zu rufen und gegebenenfalls neu zu bewerten als wissenschaftliche Forschungsergebnisse.
Bereits zwei Jahre nach der Erstsendung wurde „Todesspiel“ zu den Jahrhundertwerken des Fernsehens gezählt: Kein anderes Werk sei den Ereignissen des „Deutschen Herbstes“ nähergekommen. Breloer hätte „mittels Fernsehen eine Epoche erschlossen, die vom Moment der Ausstrahlung seines Stücks an historisierbar wurde.“ Diese Historisierung sollte, gleich ob vom „Todesspiel“ ausgelöst oder nicht, neben Opfern und Tätern, den Diskussionen um politische Verantwortlichkeiten oder die Einbettung des RAF-Terrorismus in die (bundes-)deutsche und die (west-)europäische Geschichte nach 1945, irgendwann auch die „Landshut“ mit einschließen und ihr schließlich zu einer Art Ausnahmestellung innerhalb der deutschen Erinnerungslandschaft verhelfen.
Die zweite Rückkehr der „Landshut“
Im Frühjahr 2001 thematisierte der Journalist Jost Kaiser den Verbleib der „Landshut“. Dabei formulierte er eine Einschätzung, der für das geplante Dokumentations- und Bildungszentrum beinahe eine programmatische Bedeutung zukommt: Die „Landshut“ ist das „Flugzeug, das irgendwann nur ein Gegenstand war, später zum Symbol wurde – und irgendwann wieder zum Gegenstand.“ Heute ist sie erneut zum Symbol geworden. Die (Um-)Wege, die die Boeing mit der Produktionsnummer 230 auf ihrer langen Reise dabei zurücklegte, waren verschlungen und beschwerlich:
Nach ihrer Rückkehr aus Mogadishu wurde sie in der Hamburger Lufthansawerft instandgesetzt. Aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar, aber das Flugzeug sollte danach noch weitere acht Jahre für die Lufthansa im Einsatz sein: Bis 1981 als „Landshut“ – danach namenlos. Ab Herbst 1985 wurde die Maschine mehrmals weiterverkauft. Zu den späteren Eignern zählten mehrere US-amerikanische Leasingunternehmen. Das Flugzeug kam, erst als Passagier-, später als Frachtmaschine, in den USA, Honduras und Frankreich zum Einsatz und wurde Anfang der 1990er Jahre auf dem Flughafen Shannon (Irland) zeitweise geparkt. Weitere Stationen führten die Maschine nach Malaysia, Indonesien und schließlich, wir schreiben das Jahr 2002, nach Brasilien. Hier wurde sie 2008 endgültig außer Dienst gestellt und auf einem Flugzeugfriedhof nahe Fortaleza (Bundesstaat Ceará) ihrem weiteren Schicksal überlassen.
Auf dem Weg zu einem Erinnerungsort
Waren es bis dahin nur einzelne Stimmen gewesen, die öffentlich fragten, was denn aus der „Landshut“ geworden sei, so stieg in Folge der Recherchen Martin Rupps, eines Journalisten und Zeithistorikers, seit 2012 das öffentliche Interesse stark an. Rupps hatte sich intensiv mit den persönlichen Schicksalen der Geiseln und ihren Versuchen, das Trauma „Mogadischu“ zu verarbeiten, auseinandergesetzt und in der Folge gemeinsam mit ehemaligen Passagieren und Besatzungsmitgliedern für nichts weniger als die Errichtung eines Erinnerungsortes für die „Landshut“ plädiert.
Anfang 2017 nahm die Politik in Gestalt des damaligen Außenministers Siegmar Gabriel das Anliegen auf, die Maschine zu kaufen und zum 40. Jahrestag der Geiselbefreiung zurück nach Deutschland zu holen. Über einen geeigneten Standort, anfallende Kosten für Rückholung und Unterhalt sowie den öffentlichen Zugang zur Maschine wurde danach sowohl in der Presse als auch auf lokal- und bundespolitischer Ebene emotional debattiert. So bezeichnete beispielsweise einer der ehemaligen Piloten der „Landshut“, Werner Krause, deren Verkauf durch die Lufthansa 1985 in einem Leserbrief rückblickend als einen Vorgang, bei dem die Maschine „praktisch noch einmal entführt worden“ wäre.
Es meldeten sich in der Debatte aber auch erinnerungskulturelle Akteur:innen zu Wort, die nicht das Flugzeug, sondern nur einzelne Teile in ihren Institutionen zeigen wollten. Als mögliche Standorte wurden unter anderem Berlin (Deutsches Historisches Museum), Bonn (Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland), Sinsheim (Technikmuseum), Fürstenfeldbruck, Hamburg oder Flensburg ins Spiel gebracht. Trotz erkennbarer lokaler Konfliktlinien fiel die Wahl am Ende auf die Stadt Friedrichshafen. Hier wurden der Rumpf und die demontierten Tragflächen im Herbst 2017 aus zwei russischen Transportmaschinen entladen. Diese auf den ersten Blick überraschende Entscheidung war zum damaligen Zeitpunkt von der Idee getragen, die „Landshut“ im am Ort ansässigen Dornier Museum auszustellen. Eine Beteiligung des Dornier Museums am Projekt ist mittlerweile obsolet geworden, am gewählten Standort wurde aber festgehalten. Die Zuständigkeit für den Bau des Dokumentations- und Bildungszentrums liegt aktuell beim Bundesministerium des Innern und für Heimat. Die kuratorische Umsetzung sowie die didaktisch-pädagogische Konzeption des Lernortes verantwortet die Bundeszentrale für politische Bildung.
Geschichtspolitische Dimensionen der Erinnerungskultur
Die zum Teil bis heute fortgeführten Diskussionen zeigen, dass Konzeption und Umsetzung der Ausstellung nicht in einem luftleeren Raum stattfinden können. Zu berücksichtigen sind hier unter anderem die vermuteten oder auch real vorhandenen Wechselbeziehungen zwischen Geschichte und Politik. Diese schließen den mit konkreter politischer Absicht verbundenen öffentlichen Gebrauch von Geschichte genauso wenig aus wie die gezielte Nutzung historischer Argumentationsfiguren oder Geschichtsbilder in der politischen Kommunikation.
Lesarten von Geschichtspolitik
Der Begriff „Geschichtspolitik“ verweist erstens auf mögliche politische Einflussnahmen bzw. auf Versuche gezielter Funktionalisierung von Geschichte. Er dient zweitens als Analysebegriff der politik-, geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschung, der vor allem den Konstruktionscharakter von Geschichte hervorhebt. Jenseits staatlicher Initiative werden geschichtspolitische Strategien auch von weiteren Akteur:innen, nicht zuletzt von Historiker:innen, initiiert und vorangetrieben. In der „Landshut“-Debatte engagieren sich neben politischen Entscheidungsträger:innen auch Journalist:innen und Privatleute wie etwa die ehemaligen Passagiere und Mitglieder der Crew.
Geschichtspolitische Maßnahmen können mit der Absicht erfolgen, eine demokratische Erinnerungs- und Gedenkkultur zu fördern. Sie können aber auch das Ziel verfolgen, Alternativen zu bestehenden historischen Meistererzählungen zu etablieren. Gerade in demokratischen Gemeinwesen steht Geschichtspolitik auch für Formen der diskursiven Aushandlung auf dem Feld der öffentlichen Erinnerungskultur. Mit Blick auf die „Landshut“ können unter anderem die Rolle des Linksterrorismus sowie die Bedeutung des Topos der „wehrhaften Demokratie“ in der Bundesrepublik, aber auch die lange Zeit erfolglosen Versuche, der Erinnerung der bzw. an die Opfer der Entführung einen geeigneten Ort zu geben.
Ein produktives Bearbeiten der Erinnerungskultur wird so, wie auch im Fall der „Landshut“, zur Aufgabe staatlicher Kulturpolitik. Der Historiker Hilmar Sack spricht hier von „Geschichte im politischen Raum“; in der internationalen Diskussion wird seit kurzem auch auf den Begriff „state-sponsored history“ zurückgegriffen. Dieser verdeutlicht ebenfalls, dass bei der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschichte und Erinnerung unterschiedliche Prozesse und Ergebnisse direkten wie indirekten staatlichen Einflusses zum Tragen kommen. Eine gegenseitige Bezugnahme von Politik und Geschichte kann durch entsprechende Gesetze erfolgen, weitaus häufiger aber durch das Setzen ökonomischer Rahmenbedingungen bei der staatlichen Grundfinanzierung von Wissenschaft und Kultur. Solche ‚weichen‘ Lesarten von Geschichtspolitik betonen die Notwendigkeit, in einem permanenten Prozess den politischen Rahmen zu reflektieren, innerhalb dessen Geschichte „gemacht“ wird. Geschichtspolitik wird nicht nur in großen medienwirksamen Debatten und Kontroversen sichtbar, genauso lässt sie sich in wissenschaftlich fundierten oder in populär-kulturellen Objektivationen der Geschichtskultur ausmachen. Wenn heute in Forschung und Lehre sowie in Vermittlung und Weiterbildung über Geschichtspolitik reflektiert wird, dann gilt es dabei vor allem unterschiedliche Praxen der Geschichtsproduktion in medialen Formaten und medialen Aushandlungsprozessen zu berücksichtigen und zu analysieren. Die Videoinstallation „Space_Surrogate I (Dubai), 2000“ stellt nur ein Beispiel unter vielen anderen dar, das es beim Umgang mit der Vergangenheit am zukünftigen Lernort zu reflektieren gilt.
Erinnerungskultur und der Lernort „Landshut“
Die geschichts- und erinnerungskulturellen Dimensionen des geplanten Dokumentations- und Bildungszentrums „Landshut“ treten deutlicher zutage, wenn man zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Diskursen unterscheidet, in welche die Konzeption und die Umsetzung des Lernortes ihrerseits eingebettet sind:
Authentizität und Inszenierung
Wenn es um die Präsentation von Objekten und Narrativen in Ausstellungen und Museen, aber auch an Lernorten, in Dokumentationszentren und Gedenkstätten geht, lässt sich die Frage nach der Authentizität bzw. nach der Bedeutung von Inszenierungen nicht ausblenden. Unter dem Label „Szenografie“ betont die Ausstellungsgestaltung schon seit längerem die gestiegene Bedeutung des Audiovisuellen (Bilder, Filme, Geräuschkulissen), der Immersion (sinnlich-körperliches Eintauchen in eine Erlebniswelt) oder auch der Augmented Reality (computergestützte Erweiterung der Wahrnehmung von Realität). Ohne hier im Detail auf die mit den Ansätzen jeweils verbundenen Chancen und Risiken eingehen zu können, ist diese Hinwendung zu digitalen Werkzeugen und Räumen eng mit Authentizitätserwartungen beim Publikum verknüpft. Dies gilt sowohl für die Präsentation von Objekten als auch für deren subjektive Wahrnehmung durch die Besucher:innen. Beide Formen der Authentizität stehen dabei in vielfältigen Wechselbeziehungen.
Die Bewahrung authentischer Orte bzw. von Orten, an die mit guten Gründen entsprechende Authentizitätsansprüche und -erwartungen herangetragen werden können, gehört zum kleinen Einmalseins der Erinnerungskultur bzw. stellt die „Richtschnur des geschichtspolitischen Handelns“ dar. Wird die Authentizitätsfrage für die „Landshut“ gestellt, so steht deren „Echtheit“ außer Frage. Als real existierendes technisches Objekt ist sie eben kein rein geschichtskulturelles Produkt wie beispielsweise die Verfilmung „Mogadischu“. Der Terror der RAF, die Entführung der Maschine und deren Nachgeschichten bis hin zur aktuellen erinnerungspolitischen Debatte können eine wissenschaftlich verbriefte Personen- und Ereignisauthentizität für sich in Anspruch nehmen.
Stimmen aus der Politik wie von ehemaligen Passagieren und Crewmitgliedern betonen dagegen eine Form der Authentizität, die den Erfahrungen der Geiseln und ihren bei der Entführung durchlebten Emotionen größere Berücksichtigung schenkt und so in der Lage ist, mit und in der Ausstellung Betroffenheit zu evozieren. So ließe sich in technischer Hinsicht mit dem Flugzeugkörper ein Raum inszenieren in dem die Besucher:innen einen Ausschnitt der Entführung – und dies sogar im „originalen“ Flugzeug – auf Basis sinnlich-körperlicher Eindrücke erfahren könnten. Auch ein digital konstruiertes Nach- bzw. Neuerleben dieser Extremsituation in einem dreidimensionalen virtuellen Raum dürfte sich als technisch umsetzbar erweisen. Die Geschichtsdidaktik spricht diesbezüglich von Erlebnisauthentizität – einer Authentizität, die aber „kaum mit den üblichen historischen quellenbezogenen Mitteln nachweisbar“ ist. Ein unmittelbarer Zugang zur Vergangenheit oder gar zu historischer Erkenntnis ist auf diesem Weg nicht möglich. Audiovisuell-sinnlich erfahrene vordergründige „Evidenz“ bedarf weiterhin der Erklärung, Analyse und der (Re-)Kontextualisierung.
Einen Schritt in Richtung der Verbindung von Personen-, Ereignis- und Erlebnisauthentizität ist die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik mit ihrem Webangebot „landshut77“ gegangen. Dieses verfolgt in Form einer multimedialen Dokumentation das Ziel „den Fokus auf die Opfer der linksterroristischen Gewalt zu richten und ihre Perspektive als Teil der Geschichte sichtbar zu machen“. Neben den Geiseln steht hier auch das Flugzeug im Fokus: Das digitale Angebot konzentriert sich als „atmosphärisch dichte Dokumentation“ auf die fünf Tage der Entführung. Es bietet „verschiedene Perspektiven und Erzählstränge“ und sieht in der „Landshut“ ein „Symbol des nicht erpressbaren demokratischen Staats“.
Historische Lernorte und ihre erinnerungskulturelle Bedeutung
Die „Landshut“ ist „ein zentrales Objekt der jüngeren Zeitgeschichte“, bei ihrer Präsentation ist ihre „komplexe Objektgeschichte“ ernst zu nehmen. So der offizielle Wortlaut – Stand April 2021. Eine Realisierung der Ausstellung als Dokumentation oder Inszenierung, Fragen und Erwartungen hinsichtlich der Authentizität und ein ausgeschlachteter Flugzeugrumpf als quasi „ideales“ Zeugnis der Vergangenheit – allein die Nennung einiger Aspekte zeigt, dass die „Landshut“ als außergewöhnliche materielle Hinterlassenschaft viele Anknüpfungspunkte für geschichts- und erinnerungskulturelle Strategien unterschiedlichster Akteur:innen bietet. Begriffe wie Authentizität und Inszenierung verweisen aber nicht allein auf gestalterische Aspekte. Sie sind auch Bestandteil didaktisch-pädagogischer Diskurse. Und in eben diesen kommt wiederum Dokumentations- und Bildungszentren in ihrer Rolle als außerschulischen Lernorten eine wichtige Rolle zu. Die Geschichtsdidaktik betrachtet außerschulische Lernorte als „Phänomene der Geschichtskultur“. Diese bekunden die Bedeutung, die ein Gemeinwesen Ereignissen, Orten und den dort gegebenenfalls noch vorhandenen materiellen Überresten aus der Vergangenheit zuerkennt. Lernorte unterscheiden sich von reinen Inszenierungen unter anderem darin, dass sie keine „Reise in die Vergangenheit“ versprechen. Für die „Landshut“ ist deshalb zu fragen, ob und wie das besondere Potenzial, das Lernorten für historische Lernprozesse zugeschrieben wird, ermittelt, begründet und nachvollzogen werden kann.
Das geschichtsdidaktische Potenzial von Lernorten gilt idealerweise dann als ausgeschöpft, wenn diese die Kriterien der Realität und Permanenz, der Originalität und Anschaulichkeit sowie der Imagination und Authentizität erfüllen. Beim lokal- und regionalgeschichtlichen Lernen kommt historischen Orten als direkten Handlungs- und Erfahrungsräumen eine große Bedeutung zu. Die „Landshut“ erfüllt auf den ersten Blick gleich einige der aufgeführten Kriterien: Das Flugzeug ist real vorhanden; auch wenn es sich heute nicht mehr im Originalzustand befindet, ermöglicht seine Materialität trotzdem eine dreidimensionale Erfahrung; nicht zuletzt wird es am Ausstellungsort für Besucher:innen dauerhaft verfügbar sein. Auch das Prinzip der Multiperspektivität (Geschichtsdidaktik) oder das der Kontroversität (Politikdidaktik) lassen sich am Lernort „Landshut“ umsetzen. Vor allem dann, wenn man weitere historische Anknüpfungspunkte wie beispielsweise den europäischen Linksterrorismus, den Nord-Süd-Konflikt der 1970er Jahre, das Gedenken an die Entführungsopfer oder das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ mit hinzunimmt und zugleich die sich mal ausschließenden, mal sich ergänzenden Interessen der unterschiedlichen Akteur:innen nicht nur zu respektieren, sondern auch zu berücksichtigen versucht.
Das Kriterium der „unmittelbare[n] Begegnung mit dem historischen Zeugnis an seinem ursprünglichen Ort“ erfüllt die „Landshut“ hingegen nicht. Ihr fehlt der direkte Ortsbezug bzw. dieser lässt sich nur schwer aus der Gegenwart heraus konstruieren und begründen: Ihr neuer Standort Friedrichshafen ist mehr oder weniger zufällig gewählt und steht in keiner sich leicht erschießenden Beziehung zur Entführung der Maschine, zum RAF-Terrorismus oder zum „Deutschen Herbst“. Materielles Relikt, Ausstellungsort und Erinnerungsaufträge der unterschiedlichen Interessengruppen fallen so auf den ersten Blick auseinander. Zu fragen ist zudem, wie sich historischer Lernort und massenhafte touristische Nutzung in Einklang bringen lassen. Die für den Historiker Valentin Groebner den Geschichtstourismus kennzeichnenden Attribute des „hier war es“ und des „so war es“ lassen sich auf die geplante Ausstellung nicht einfach übertragen. Und auch die unterschiedlichen Authentizitätserwartungen des Publikums an einen Ort, der ein Objekt präsentiert, das eng mit der Erinnerung an unterschiedliche Gewaltzusammenhänge verbunden ist, bedürfen weiterer Analyse und Diskussion.
Der Geschichtsdidaktiker Meik Zülsdorf-Kersting sieht als ein kennzeichnendes Moment außerschulischer Lernorte, dass diese jeweils zwei Narrationen präsentieren, die „eigentliche“ Geschichte der Orte sowie zusätzlich „eine zweite geschichtskulturelle Geschichte“. Das Projekt der „Landshut“-Ausstellung ist in unterschiedliche erinnerungskulturelle Diskurse eingebettet und die öffentliche Erinnerungskultur steht wiederum in enger Verbindung sowohl zu politischen als auch gesellschaftlichen Diskursen und Praktiken. Die „Landshut“ kann in diesem Sinne – trotz ihres fehlenden direkten Ortsbezuges – als ein Ort im oben genannten Sinne verstanden werden. Ihre „eigentliche“ Geschichte wird dabei von ihrer Entführung im Herbst 1977 nicht nur inhaltlich bestimmt, sondern auch in zeitlicher Hinsicht strukturiert. Die vielen Vor- und Nachgeschichten zählen in der aktuellen Narration bisher noch zu den Nebenhandlungen. Die geschichts- und erinnerungspolitischen Dimensionen des Lernortes werden nicht zuletzt dann plastisch greifbar, wenn die im Vergleich mit anderen Ereignissen der jüngeren Zeitgeschichte noch kurze zweite geschichtskulturelle Geschichte der „Landshut“ so erzählt wird, dass der Schauwert des Flugzeuges in den Hintergrund rückt. Das Projekt „Landshut“ verfügt nach heutigem Stand also durchaus über das Potenzial, zu einem „Rundflug über eine facettenreiche Landschaft“ werden zu können.
ist Professor für Angewandte Geschichtswissenschaft – Public History am Historischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
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