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Die kulturelle Überformung des Phänomens Flugzeugentführung | Lernort Landshut | bpb.de

Lernort Landshut Einblicke in die Werkstatt Ein Flugzeug mit Symbolcharakter Die Entführung der „Landshut“ und die Globalisierung Phänomen Flugzeugentführungen Die mediale Darstellung der „Landshut“-Entführung Redaktion

Die kulturelle Überformung des Phänomens Flugzeugentführung

Annette Vowinckel

/ 16 Minuten zu lesen

Flugzeugentführungen waren im 20. Jahrhundert weit verbreitet. Die Motive hierfür waren unterschiedlich. In der Wahl massiver Mittel stellten diese auch einen Angriff auf die Fortschritts- und Mobilitätsversprechen der „modernen Welt“ dar.

Wartende Passagiere auf dem Frankfurter Rhein-Main-Flughafen am 31.05.1973 (© picture-alliance/dpa)

Die Entführung der „Landshut“ im Oktober 1977 ist als ein einschneidendes Ereignis in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingegangen. Sie markiert in der Geschichtsschreibung ebenso wie in der öffentlichen Erinnerung das Ende des "Deutschen Herbstes", in dem sich der bürgerliche Staat und linksterroristische Kräfte im Umfeld von Roter Armee Fraktion (RAF) und der Bewegung 2. Juni einen erbitterten Machtkampf geliefert hatten und aus dem der Staat als klarer Sieger hervorging.

Was aus der Sicht der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger ein singuläres Ereignis war, ist im Kontext der Luftpiraterie nur eine von sehr vielen Geschichten. Die „Landshut“ war eins von insgesamt 821 Flugzeugen, die weltweit zwischen 1947 und 1990 entführt wurden, und die Zahl der Entführungen pro Jahr war 1977 bereits rückläufig. Ihren Scheitelpunkt hatte diese enorme Welle von Geiselnahmen 1969 erreicht, als von der Presse weltweit 85 Flugzeugentführungen gemeldet wurden. Statistisch bedeutete das, dass in diesem Jahr alle vier bis fünf Tage irgendwo auf der Welt ein Flugzeug entführt wurde.

Erste Reaktionen auf Flugzeugentführungen

Mit dem Abkommen von Tokio wurde 1969 aber auch ein erstes internationales Abkommen zur Bekämpfung der Luftpiraterie ratifiziert, dem inzwischen fast alle Staaten beigetreten sind. Damit wurden die juristischen Voraussetzungen für eine Verurteilung der Täterinnen und Täter geschaffen. Viele Länder erließen zudem nationale Gesetze, die den gefährlichen Eingriff in den Flugverkehr mit hohen Haftstrafen belegen. In einem zweiten internationalen Abkommen, der Convention for the Suppression of Unlawful Acts against the Safety of Civil Aviation, verpflichteten sich zwei Jahre später die unterzeichnenden Staaten, Luftpiraterie in jedem Fall entweder selbst zur Anklage zu bringen oder die Tatverdächtigen an einen Staat auszuliefern, der seinerseits Anklage erheben würde.

Parallel wurden die Sicherheitsvorkehrungen an den Flughäfen verschärft. War es in den 1960er Jahren vielerorts noch möglich gewesen, ohne jede Kontrolle und potenziell schwer bewaffnet an Bord eines Flugzeugs zu gelangen, etablierten sich die Durchleuchtung des Gepäcks und die Kontrolle der Fluggäste mit Hilfe von Metalldetektoren allmählich als Standardprozedur. Vorübergehend führte dies dazu, dass Flugzeugentführer*innen auf Flughäfen auswichen, die für laxe Kontrollen bekannt waren, wie beispielsweise der Athener Flughafen in den 1970er Jahren. Insgesamt war die Zahl der Entführungen jedoch seit Beginn der 1970er Jahre rückläufig.

Motive: Terrorismus, Rache, Lösegeld

Die Motive für Flugzeugentführungen waren außerordentlich heterogen. Sie reichten von der Flucht aus Krisengebieten über terroristische Motive bis zu persönlichen Rachefeldzügen und Lösegelderpressung. Erkennbar sind allerdings auch verschiedene Wellen von Entführungen, die durch historische Ursachen ausgelöst wurden und sicher infolge detaillierter Berichterstattung in der Presse auch einen gewissen Nachahmungseffekt hatten.

Die erste dieser Wellen setzte mit dem beginnenden Kalten Krieg ein. In den späten 1940er und frühen 1950er Jahren nahm eine Reihe von Flugzeugentführungen ihren Ausgang in den sozialistischen Staaten Osteuropas und endete in West- oder Südeuropa mit der Beantragung von politischem Asyl. Ende der 1970er Jahre kam es im Kontext der polnischen Solidarność-Bewegung erneut zu einer Entführungswelle, oft mit dem Ziel Berlin-Tempelhof. Die zivilen Maschinen flogen quasi unter dem Radar hindurch und landeten auf dem Stadtflughafen noch bevor eine militärische Intervention möglich gewesen wäre. Es heißt, dass die Berliner deshalb das Kürzel der polnischen Fluggesellschaft LOT als „Landet ooch in Tempelhof“ übersetzten. Im Westen wurden diese Taten anfangs noch als Kavaliersdelikte betrachtet und die Luftpiratinnen und -piraten wurden vor dem Hintergrund eines im Westen virulenten Antikommunismus mit offenen Armen aufgenommen. Das änderte sich allerdings, als in den 1960er Jahren die ersten terroristischen Geiselnahmen zu verzeichnen waren.

Zuvor gab es indes noch eine weitere Entführungswelle, die ursächlich auch auf den Kalten Krieg und seine Regionalkonflikte zurückzuführen war – diesmal auf dem amerikanischen Kontinent. Kurz vor der Kubanischen Revolution von 1959 entführten Castro-Anhänger einige US-amerikanische Flugzeuge, um sie für militärische Zwecke zu nutzen. Nach der Revolution wurde der reguläre Flug- und Schiffsverkehr zwischen der Karibikinsel und den Vereinigten Staaten von Amerika eingestellt, so dass es für Kubanerinnen und Kubaner keine Möglichkeit mehr gab, die Insel in Richtung USA zu verlassen oder von dort aus direkt nach Kuba zurückzukehren. Unter diesen Umständen versuchten Gegner des neuen kommunistischen Regimes per Flugzeugentführung in die USA zu gelangen, während kommunistisch eingestellte Exilkubaner auf diese Weise nach Kuba zurückzukehren versuchten. Von Fidel Castro heißt es, er habe die im Zuge einer Entführung unfreiwillig auf Kuba gelandeten US-amerikanischen Touristen großzügig bewirtet, sie mit Rum und Zigarren beschenkt und sich dafür von den Fluggesellschaften mit hohen Geldsummen entschädigen lassen. Ob sich dies tatsächlich so abspielte oder ob die Geschichte medienwirksam ausgeschmückt wurde, ist schwer zu klären. Klar ist aber, dass auch in diesem Kontext Flugzeugentführungen nicht immer konsequent verurteilt oder gar geahndet wurden, denn die Unterscheidung zwischen krimineller Tat und politischer Befreiungstat hing von der Perspektive des Betrachters ab.

Beflügelt wurden Flugzeugentführungen ab den 1960er Jahren durch die wachsende Aufmerksamkeit audiovisueller Medien, die nach Möglichkeit live dabei waren und Bilder und Stimmen von den Entführungsorten direkt in die Wohnzimmer übertrugen. Als die linksgerichtete Japanische Rote Armee Fraktion im März 1970 eine in Tokio gestartete Passagiermaschine nach Seoul entführten, rückten dort Fernsehjournalist*innen mit Teleobjektiven an, die den Zuschauer*innen den Blick bis ins Cockpit erlaubten – während den Entführern vorgegaukelt wurden, sie befänden sich in Nordkorea, wo sie eigentlich hätten landen sollen. In anderen Fällen wurden Massenmedien gezielt als Kommunikatoren in das Geschehen eingebunden, zum Beispiel, indem sie aufgefordert wurden, die Forderungen von Entführer*innen zu verbreiten. Margaret Thatcher forderte deshalb Mitte der 1980er Jahre, die Medien sollten Terrorist*innen „aushungern“, indem sie nicht (mehr) über deren Aktionen berichteten.

Flugzeugentführungen im Nahost-Konflikt

In der Zwischenzeit hatte eine dritte Welle von Flugzeugentführungen eingesetzt, die den Nahen Osten zum Schauplatz hatte. 1964 hatte sich die Palestine Liberation Organization (kurz: PLO) als politische Vertretung der Palästinenserinnen und Palästinenser formiert, die sowohl mit politischen als auch mit terroristischen Mitteln ihre Forderungen durchzusetzen versuchte. Diese Forderungen reichten vom Recht der vertriebenen oder geflüchteten Einwohner des ehemaligen Mandatsgebiets Palästina auf Rückkehr in ihre Heimat bis zur Auslöschung des Staates Israel. Als dieser mit dem Sechstagekrieg von 1967 zur Besatzungsmacht wurde, verschärften sich palästinensische Angriffe durch terroristische Gruppierungen wie die im gleichen Jahr gegründete Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP) oder die Organisation Schwarzer September, die 1972 für den Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft in München verantwortlich zeichnete.

In diesem Kontext entdeckten radikale palästinensische Kräfte die Flugzeugentführung als ein Mittel, maximale mediale Aufmerksamkeit zu generieren. War das Motiv vieler Entführerinnen und Entführer bisher überwiegend der unkonventionelle Transport von einem Ort zu einem anderen gewesen, etablierte sich nun das Motiv der Geiselnahme, die den Ausgangspunkt für politische Verhandlung bzw. Erpressung bildete.

Besondere Aufmerksamkeit zog dabei die palästinensische Luftpiratin Leila Khaled (auch: Chaled) auf sich, die an mehreren terroristischen Aktionen beteiligt war. 1967 trat sie der eben gegründeten PFLP bei, im August 1969 beteiligte sie sich an der Entführung einer Trans-World-Airlines-Maschine, die in Paris gestartet war und in Tel Aviv hätte ankommen sollen. Die Boeing 707 wurde stattdessen zur Landung in Damaskus gezwungen, wo sie, nachdem alle Passagiere das Flugzeug verlassen hatten, in die Luft gesprengt wurde. Die durch diese Aktion international bekannt gewordene Leila Khaled unterzog sich mehreren Gesichtsoperationen, die ihre Identifizierung erschweren sollten, und beteiligte sich im September 1970 an einer weiteren Aktion. Die PFLP plante fünf simultan verlaufende Flugzeugentführungen, von denen vier aus Sicht der Terrorkommandos erfolgreich verliefen. Eine der entführten Maschinen landete in Kairo, drei auf dem Flughafen Dawson’s Field in Jordanien, wo sie ebenfalls nach Evakuierung der Passagiere vor laufenden Kameras gesprengt wurden. Die fünfte Entführung wurde durch die beherzte Intervention mehrerer Passagiere und eines israelischen Sicherheitsmannes verhindert und führte nach der Rückkehr der Maschine nach London zur Verhaftung von Leila Khaled. Khaled, inzwischen eine Ikone der palästinensischen Nationalbewegung, wurde allerdings noch im gleichen Monat im gegen die Passagiere eines sechsten entführten Flugzeugs ausgetauscht: Hier zog eine Flugzeugentführung eine andere unmittelbar nach sich. Bis heute erfreut sich Leila Khaled in den palästinensischen Gebieten großer Beliebtheit, wie ein an der Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland angebrachtes überdimensional großes Externer Link: Graffito erkennen lässt.

Entebbe und Mogadischu

Ebenfalls im Kontext des Nahostkonflikts zu verorten sind zwei Flugzeugentführungen, die von deutschen Linksterrorist*innen zusammen mit palästinensischen Kooperationspartner*innen durchgeführt wurden. Die erste betraf eine in Paris gestartete Air France-Maschine, die mit mehreren Zwischenlandungen schließlich auf dem Flughafen Entebbe in Uganda landete. Die Passagiere wurden dort ins Flughafengebäude gebracht und dort von zwei Angehörigen der Revolutionären Zellen, Brigitte Kuhlmann und Wilfried Böse, in eine israelische und eine nicht-israelische (nach anderen Auskünften: jüdische und nichtjüdische) Gruppe eingeteilt. Letztere wurde freigelassen und konnte abreisen, während die verbleibenden jüdischen bzw. israelischen Passagiere von der israelischen Armee in einer spektakulären Aktion befreit wurden. In Israel und in den jüdischen Gemeinden weltweit löste diese Aufteilung der Geiseln Entsetzen darüber aus, dass junge Deutsche nur dreißig Jahre nach dem Ende des Holocaust wieder eine „Selektion“ jüdischer Menschen vornahmen, die über Leben und Tod entscheiden konnte. Bei den Revolutionären Zellen, die für die Entführung verantwortlich zeichneten, sorgte diese Kritik für erhitzte Debatten, die schließlich bei Teilen der Gruppe zu einer Distanzierung von der Aktion führten.

Die zweite linksterroristische Flugzeugentführung unter deutscher Beteiligung war die Entführung der „Landshut“ nach Mogadischu, die ebenfalls mit einer erfolgreichen Befreiungsaktion endete. Bei dem Einsatz in Entebbe waren auf Seiten der Passagiere drei Geiseln ums Leben gekommen, der Einsatz in Mogadischu forderte, bis auf den von den Geiselnehmern bereits zuvor erschossenen Piloten Jürgen Schumann, nicht ein einziges Opfer unter den Geiseln und wurde infolgedessen als Erfolg von Bundeskanzler Helmut Schmidt dargestellt, der für den Fall eines Misserfolgs bereits seinen Rücktritt vorbereitet hatte. Mit Ausnahme von Souhaila Andrawes, die die Befreiung der „Landshut“ schwer verletzt überlebte, wurden alle Luftpirat:innen bei den jeweiligen Einsätzen erschossen.

D.B. Cooper, 9/11, Belarus-Konflikt

Dass die Zahl der Flugzeugentführungen gegen Ende der 1970er Jahre deutlich abnahm, lässt sich möglicherweise also nicht nur mit den verschärften Sicherheitsmaßnahmen erklären, sondern auch mit den aus Sicht der Entführungskommandos spektakulär gescheiterten Aktionen in Entebbe und Mogadischu. Größere Wellen, die einem erkennbaren Muster folgten, gab es seit Ende der 1970er Jahre nicht mehr. Erwähnenswert sind jedoch drei Fälle, die gerade nicht den gerade beschriebenen Mustern folgen.

Ein vom FBI angefertigtes Phantombild von D. B. Cooper (© picture-alliance)

Einer dieser Fälle ist der Fall „D.B. Cooper“. Eine bis heute nicht sicher identifizierte Einzelperson gelangte am 23. November 1971 unter diesem Pseudonym in eine Passagiermaschine, die in Washington, DC gestartet war und in Seattle landen sollte. Kurz vor der Ankunft informierte der Mann – angeblich recht freundlich und höflich – eine Flugbegleiterin, dass er eine Bombe im Gepäck habe und diese zünden werde, sofern man ihm nicht 200.000 US-Dollar und einen Fallschirm aushändige. Die Maschine landete planmäßig, die Passagiere und zwei Crewmitglieder wurden entlassen und das Geld samt Fallschirm wurden übergeben, bevor die Maschine mit zwei Piloten, zwei Flugbegleiterinnen und Cooper selbst Richtung Mexiko wieder abhob. Als die Maschine dort landete, war der Luftpirat spurlos verschwunden. Er war mit dem Fallschirm aus der Heckklappe der Boeing 727 – einem der wenigen Flugzeugtypen, bei denen deren Öffnung während des Flugs überhaupt möglich war – abgesprungen, und es fehlte von ihm jede Spur. Teile des Lösegelds, dessen Seriennummern registriert worden waren, wurden knapp zehn Jahre später von einer wandernden Familie am Ufer des Columbia River gefunden, der Entführer selbst aber tauchte nie wieder auf. Entweder kam er bei dem Absprung ums Leben oder er tarnte sich so gut, dass das FBI ihn nicht ausfindig machen konnte.

Teil einer Kulturgeschichte der Flugzeugentführung wurde „D.B. Cooper“ vor allem dadurch, dass er von der amerikanischen Öffentlichkeit zu einer Art Pop-Ikone befördert wurde, die in verschiedenen Musikstücken besungen und deren Phantombild auf T-Shirts mit der Aufschrift „Will the real D. B. Cooper please stand up?“ oder „Skyjacking – the only way to fly“ gedruckt wurden. Die Fluggesellschaft Western Airlines klagte gegen das Plagiat ihres Werbespruchs “Western – the only way to fly”. Und die US-amerikanische Air Line Pilots Association protestierte, weil man Nachahmungstäter nicht beflügeln wollte, gegen das Abspielen eines Song mit dem Text: „D. B. Cooper, where are you now? We’re looking for you high and low. With your pleasant smile, and your dropout style, D. B. Cooper, where did you go?” Dessen ungeachtet ist „D.B. Cooper“ noch heute eine Metapher für einen coolen Aussteiger, der mit freundlicher Miene und ohne andere zu gefährden sein Glück gemacht hat.

Eine weitere Reihe von Flugzeugentführungen, die in Konzeption und Ablauf im Vergleich zu vorherigen Entführungen sehr ungewöhnlich waren, fand im Kontext des Anschlags vom 11. September 2001 statt, bei dem insgesamt vier Passagiermaschinen von islamistischen Terroristen entführt und vorsätzlich zum Absturz gebracht wurden. Zwar hatte es zuvor bereits mehrere Abstürze gekaperter Maschinen infolge von Kerosinmangel gegeben, doch der geplante Absturz in Form eines Selbstmordattentats, bei dem auch eine große Zahl von Flugpassagieren und Opfern in den angesteuerten Gebäuden getötet wurden, hatte es zuvor nicht gegeben. Hier ging es nicht mehr um den Transport von einem Ort zum anderen, auch nicht um Gefangenenaustausch oder Lösegelderpressung, sondern darum, durch maximale mediale Aufmerksamkeit Angst und Schrecken zu verbreiten.

In jüngster Vergangenheit sorgte ferner ein drittes Ereignis für große Aufmerksamkeit, bei dem ein Flugzeug der Billigfluggesellschaft Ryan Air auf dem Weg von Athen nach Vilnius von weißrussischen Kampfjets abgefangen und zur Landung in Minsk gezwungen wurde. Dort wurden zwei Passagiere, der belarussische regierungskritische Journalist Raman Pratassewitsch und seine russische Lebensgefährtin Sofia Sapega, verhaftet, die Maschine konnte anschließend nach Vilnius weiterfliegen. Einige Medien, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung, stellten diese Aktion, die bisher präzedenzlos war, als einen Fall staatlicher Flugzeugentführung dar, während die belarussische Regierung den Eingriff mit einer angeblichen Bombendrohung der islamistischen Hamas rechtfertigte. Klar ist, dass es sich hier juristisch betrachtet um einen gefährlichen Eingriff in den Flugverkehr und politisch betrachtet um eine Form von Staatsterrorismus handelte.

Flugzeugentführungen und das Konzept der „Airworld“

Die hier umrissene Geschichte der Luftpiraterie hat sich stark auf die Ereignisse konzentriert und versucht, eine Periodisierung und Systematisierung anzubieten – auch wenn einige Fälle aus allen Mustern herausfallen. Da die Forderungen und Motive der Entführer:innen außerordentlich divers waren, bleibt am Ende jedoch nur ein Faktor übrig, der allen beschriebenen Einzelfällen und Wellen gemein ist: Sie fanden in einer Umgebung statt, die der amerikanische Romanautor Walter Kirn einmal als Airworld bezeichnet hat.

In dem Roman Up in the Air, der 2009 mit George Clooney in der Hauptrolle verfilmt wurde, versucht der Protagonist Ryan Bingham, eine Million Flugmeilen zu sammeln. Er verlegt deshalb sein Leben in die Welt des Fliegens, der Flugzeuge und Flughäfen, die er selbst als Airworld bezeichnet. Er beschreibt diese Welt als „Nation in der Nation, mit eigener Sprache, Architektur und Stimmung, ja selbst mit eigener Währung – den Guthaben an Bonus-Flugmeilen“. Was den meisten Menschen daran missfalle, nämlich „die trockene, unentwegt umgewälzte Luft, die von Viren nur so wimmelt, das salzige Essen, das scheinbar in Mineralöl gebraten wurde, das künstliche Licht, das einem die Lebenskraft aus den Knochen saugt –, ist mir im Laufe der Jahre lieb geworden. Ich liebe die Lounges des Compass Club mit ihren digitalen Saftautomaten, Samtsofas und den vom Boden bis zur Decke reichenden Fensterfronten, durch die man den Flugzeugen zusehen kann."

Sieht man sich die Genese dieser Airworld an, so zeigt sich, dass sie in der Zeit der Flugpionier*innen die Welt der Risikofreudigen, der Freiheitsliebenden und der Ingenieur*innen war. Sie galt als ein Bereich, in dem technischer Fortschritt erst einigen wenigen, später dann sehr vielen Menschen das Reisen erleichterte, auch wenn dies anfangs noch deutlich gefährlicher und beschwerlicher war: die Flugzeuge schwankten, die Passagier*innen und Crew waren heftigen Temperatur- und Druckschwankungen ausgesetzt und Flugbegleiterinnen waren Krankenschwestern, die für die Gesundheit der Passagiere zuständig waren. Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Airworld dagegen zu einer Kulisse für den Jetset, für die Schönen und die Reichen, die sich Flugtickets leisten konnten. Das Eintauchen in die Airworld blieb etwas Besonderes, eine Unterbrechung des Alltags und finanziell eine Investition. Für viele Menschen wurden Urlaubsreisen per Flugzeug erst mit der Ausweitung der Pauschalangebote auf den Flugreisebetrieb in den 1960er Jahren erschwinglich. Diese Entwicklung wurde durch das Aufkommen von Billigfluggesellschaften in den 1990er Jahren noch verstärkt, ihr Anfang liegt jedoch in der Hochzeit der Flugzeugentführungen.

Bis heute zeichnet sich die Airworld dadurch aus, dass sie die Reisenden vorübergehend in eine Art Paralleluniversum versetzt: Durch Sicherheits- und Passkontrollen ist gewährleistet, dass sich darin nur noch diejenigen aufhalten können, die einen gültigen Pass und ein Ticket (oder in der Airworld ihren Arbeitsplatz) haben. Auch wenn diese Exklusivität nicht mehr im gleichen Maß sozial bedingt ist, so gelten doch in der Airworld andere Spielregeln als außerhalb. Die Reisenden befinden sich in einem Transitraum, den sie nur betreten können, wenn sie sich von Kopf bis Fuß durchleuchten lassen, in dem ihnen suggeriert wird, sie sollten hochprozentigen Alkohol und teure Parfums kaufen und in dem sie die Kontrolle über die Fortbewegung zeitweise vollständig an hochqualifizierte Pilotinnen und Piloten abgeben.

Trans- und internationale Mobilität war von Beginn an ein Kernprojekt der Moderne. In Zeiten der Globalisierung wurde diese Form der Mobilität zu einer Notwendigkeit, der sich gerade Geschäftsreisende, Diplomat*innen und transnational agierende Organisationen kaum mehr entziehen konnten. Ähnlich wie im Autoverkehr, der in der Bundesrepublik trotz einer katastrophalen Bilanz von mehr als 20.000 Toten jährlich in den 1970er Jahren nicht eingeschränkt wurde, ist die Notwendigkeit des Fliegens in Zeiten der Globalisierung jahrzehntelang nicht angezweifelt worden. Erst in jüngster Vergangenheit haben der Klimawandel und eine Pandemie zur Verlegung von Meetings in virtuelle Räume geführt, und es ist kaum vorhersehbar, wie sich der Flugverkehr in den kommenden Jahren weiter entwickeln wird.

Unverändert aber lässt sich die Bedeutung der Airworld als Ort der Mobilität an der Aufmerksamkeit bemessen, die ihr von außen zuteil wird. Jeder gefährliche Eingriff in den Flugverkehr, jeder Absturz und jede Entführung landen sofort in den Nachrichten. Das mag daran liegen, dass in der Regel gleich mehrere Dutzend oder gar Hunderte von Reisenden betroffen sind und dass jeder und jede Reisende zu den Opfern gehören könnte. Das mag auch daran liegen, dass der Flugverkehr naturgemäß international organisiert ist und deshalb Schlagzeilen oft gleich mehrere Länder betreffen. Sicher aber hat dies auch etwas damit zu tun, dass die Airworld als Kulisse eines Dauerausnahmezustands ein hervorragendes Setting bietet für spektakuläre Bilder und Berichte.

Doch damit nicht genug: Zahlreiche Flugzeugentführungen wurden Gegenstand von Spiel- und Dokumentarfilmen, die für das Fernsehen oder das Kino produziert wurden. Allein die Entführung einer Air France-Maschine nach Entebbe 1976 wurde binnen eines Jahres drei Mal verfilmt. Bei allen drei Filmen handelt es sich um Doku-Dramen, die mit Focus auf die wichtigsten historischen Figuren und teilweise unter Einbezug fiktiver Charaktere das Geschehen dramatisierten. In allen dreien kamen international bekannte Schauspieler*innen wie Charles Bronson, Helmut Berger, Liz Taylor, Antony Hopkins und Klaus Kinski zum Einsatz. Und auch die Ereignisse von Mogadischu wurden zwei Mal verfilmt, wenn auch „nur“ für das öffentlich-rechtliche Fernsehen der Bundesrepublik. 1997 lief unter dem Titel Todesspiel ein Zweiteiler des Regisseurs Heinrich Breloer in der ARD, 2008 folgte ebendort sowie auf ORF 2 Mogadischu unter der Regie von Roland Suso Richter – beide erzielten sehr hohe Einschaltquoten. Die Liste der Verfilmungen von Flugzeugentführungen ließe sich endlos fortsetzten. Sie bestätigt die Annahme, dass Eingriffe in den Flugverkehr, zumal wenn sie terroristischer Natur sind, ein Maximum an medialer und zuweilen auch künstlerischer Aufmerksamkeit generieren – sowohl in Echtzeit als auch in der rückblickenden Perspektive.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Wahl des Flugzeugs als Objekt für eine Entführung mehr als plausibel. Zum einen sind der Flughafen und ganz besonders das Flugzeug selbst abgeschlossene Räume. Man kann sie nur unter bestimmten Bedingungen betreten, vor allem aber kommt man aus ihnen kaum wieder heraus, wenn sie jemand unter Einsatz von Gewalt unter Kontrolle bringt. Zum anderen sichert das Setting der Airworld gerade denen, die auf internationalem Parkett eine Botschaft verbreiten oder eine Forderung durchsetzen wollen, ein Maximum an politischer und medialer Aufmerksamkeit.

Dass die materiellen Überreste der „Landshut“ schließlich zum Ausstellungsgegenstand und zum Lernort werden, passt sich perfekt in die hier beschriebene Entwicklung ein. Viele erhoffen sich vom „historischen“ Objekt eine möglichst „authentische“ Nähe und Erfahrbarkeit der historischen Ereignisse; sie erwarten, einen Eindruck von der Enge des Raums und von der Dramatik der Ereignisse zu bekommen. Den Hintergrund bildet in einer solchen Anordnung die Airworld, vor deren Kulisse das historische Geschehen stattfand. Und auch die mediale Aufmerksamkeit ist dem Projekt gewiss. Sie steht in der langen Tradition der intensiven Berichterstattung über jeden Zwischenfall im Flugverkehr, die sich mit der Zahl der deutschen Geiseln und der Verknüpfung der Entführung mit den Ereignissen des Deutschen Herbstes ins schier Unermessliche steigerte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu die statistischen Angaben in Jin-Tai Choi, Aviation Terrorism. Historical Survey, Perspectives and Responses, New York 1994, S. 6.

  2. Vgl. Externer Link: https://en.wikipedia.org/wiki/Tokyo_Convention (1.10.2021).

  3. Vgl. The Cuban Joyride, in : Johan Grimonprez, Inflight Magazine, Ostfildern 2000, S. 23.

  4. Japanese Jet Is Hijacked But Lands Safely at Seoul: Japanese Jet Is Hijacked but Lands Safely at Seoul, in: New York Times, 31. März 1970, S. 1 und S. 13, hier S. 13: „Television broadcasts showed pictures from cameras that zoomed almost into the cockpit with telephoto lens. There were occasional glimpses of a student with a short samurai sward standing behind crew members.”

  5. R. W. Apple jr., Thatcher Urges the Press to ‚Starve’ Terrorists, in: The New York Times, 16.7.1985, S. A3.

  6. Vgl. Yossi Melman, Setting the Record Straight: Entebbe Was Not Auschwitz, in: Ha’aretz, 8.7.2011, Externer Link: https://www.haaretz.com/1.5025753 (13.10.2021).

  7. Vgl. dazu den Wortlaut der Stellungnahme der Revolutionären Zellen vom November 1991 auf Externer Link: http://www.freilassung.de/div/texte/rz/zorn/Zorn04.htm (24.1.2022).

  8. Hijacker Disappears From Plane After Getting Parachutes, $200.000, in: The Washington Post, 25.11.1971, S. 3.

  9. Thomas Gutschker, Belarus wird vom Flugverkehr abgeschnitten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.05.2021, Externer Link: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/eu-sanktionen-belarus-wird-vom-flugverkehr-abgeschnitten-17356623.html (13.10.2021).

  10. Walter Kirn, Up in the Air, New York: Doubleday 2001, hier in der deutschen Übersetzung: Mr. Bingham sammelt Meilen, München: Piper 2004, S. 19ff.

  11. Raid on Entebbe (dt.: ... die keine Gnade kennen), USA 1977, R: Irvin Kershner, Darsteller u.a.: Charles Bronson, Peter Finch, Horst Buchholz; Victory at Entebbe, USA 1976, R: Marvin J. Chomsky, Darsteller u.a.: Kirk Douglas, Elizabeth Taylor, Anthony Hopkins; Mivtsa Yonatan (engl: Operation Thunderbolt), Israel 1977, R: Menahem Golan, Darsteller u.a.: Assi Dayan, Yehoram Gaon, Klaus Kinski, Gila Almagor.

Weitere Inhalte

ist u.a. seit 2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZZF Potsdam mit dem Arbeitsbereich Kultur- und Mediengeschichte des 20. Jahrhundert sowie seit August 2021 Außerplanmäßige Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.