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Faktoren, die über Leben und Tod entschieden | Helfer, Retter und Netzwerker des Widerstands | bpb.de

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Faktoren, die über Leben und Tod entschieden

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Ethan Hollander sprach in seinem Podiumsvortrag über seine Untersuchung von Deportationsraten in verschiedenen, von Deutschland besetzten Ländern: Kollaboration und Eigenverwaltung erschwerten die Deportationen und führten zu geringeren Opferzahlen.

Ethan Hollander Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Maurice Papon, Kollaborateur im Vichy-Frankreich und verantwortlich für die Deportation von 1500 Juden aus Bordeaux nach Auschwitz, behauptete nach dem Krieg, er habe nicht gewusst, dass dies ihren Tot bedeute. In den 1990er Jahren wurde er verhaftet und zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Als Ethan Hollander Papon im Jahre 2004 befragte, gab dieser an, die Deportationen zwar veranlasst zu haben, sagte aber auch, dass dies das notwendige Übel gewesen sei, um die Deportation von noch viel mehr Juden zu verhindern. Hat er also tausende Menschen vor dem Tod bewahrt, indem er andere opferte?

Hollander kann nicht sagen, ob Maurice Papon ein Täter war. Das Einzelbeispiel interessierte ihn nur insofern, als es neue Denkanstöße gibt. Hat die Kollaboration mit den deutschen Besatzern die Möglichkeit eröffnet, Deportationen zu verlangsamen und zu sabotieren und so im Endeffekt Menschen zu retten? Warum überlebten in manchen von Deutschland besetzten Gebieten mehr Juden als in anderen?

Hollanders Forschungen zeigen überraschende Ergebnisse. Der Anteil der deportierten Juden in Relation zur gesamten jüdischen Bevölkerung in Frankreich betrug 25 Prozent. Schockierend hoch, so Hollander, aber doch bedeutend niedriger als in anderen Ländern, in denen niemand mit den Deutschen kollaborierte.

Hollander unterschied zwischen direkten und indirekten Formen der Besatzung. Das Ausmaß der Deportation, die Opferrate, war umso größer, je mehr Macht bei den deutschen Besatzern lag. Wenn der einheimisch besetzte Verwaltungsapparat im Amt blieb, also kollaborierte – wie beispielsweise in Frankreich oder in Dänemark –, gab es mehr Chancen, Juden zu retten, so seine These. Kollaboration führte zu Zugeständnissen und zu Entscheidungsfreiheit. Die Zahlen sprechen für sich – Hollander gibt einen Überblick über die Opferraten. In den Ländern, die unter direkter deutscher Herrschaft standen ist sie hoch: Baltische Staaten 96 Prozent, Polen 90 Prozent, Niederlande 67 Prozent. Demgegenüber ist sie beispielsweise im selbständigen Italien mit 18 Prozent vergleichsweise niedrig.

Viele Kollaborierende verzögerten oder verhinderten allerdings durchaus aus eigennützigen politischen und finanziellen Motiven Deportationen, so Hollander. In Rumänien existierte eine Judensteuer, die dem Staat Einnahmen einbrachte, die im Fall der Deportation entfallen wären. Mussolini war dagegen, alle Juden zu deportieren, weil viele mit Säulen des faschistischen Staates, als Veteranen mit dem Militär, als Mitglieder der faschistischen Partei oder in Mischehen mit der katholischen Kirche verbunden waren.

Ein umfassender europäischer Vergleich sei schwierig, da sich der Aufbau der Institutionen und die äußeren Faktoren unterschieden. Doch der Trend, so Hollander, sei eindeutig. Autonome Länder hatten einen größeren Spielraum. Zudem bleibe auch festzuhalten, dass es Helfer und Retter vor allem in jenen Ländern mit hohen Opferraten gab.

Fussnoten