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Workshop 8: "Sterbehilfe und Sterbebegleitung bei muslimischen Patientinnen: Perspektiven, Kontroversen und Erfahrungen" | X. Zukunftsforum Islam | bpb.de

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Workshop 8: "Sterbehilfe und Sterbebegleitung bei muslimischen Patientinnen: Perspektiven, Kontroversen und Erfahrungen"

Lukas Grasberger (Berlin)

/ 5 Minuten zu lesen

Leitung: Dr. med. Mimoun Azizi, M.A. (Mainz)
Referent: Fatih Keskin (Krefeld); Dr. Mimoun Azizi (Mainz)
Moderation: Nina Käsehage (Göttingen)

Mit drastischen Bildern todkranker Patienten rüttelte Dr. Mimoun Azizi die Teilnehmer des Seminars zur Sterbehilfe und Sterbebegleitung bei muslimischen Patientinnen am Samstagnachmittag auf. Der Arzt, Politikwissenschaftler und Soziologe sprach aus der Sicht des Praktikers, der sich dabei alleingelassen fühlt, ethisch fundierte Entscheidungen über lebensverlängernde oder todbringende Maßnahmen zu treffen. Angesichts von bis zu 20 Prozent muslimischen Patienten in Krankenhäusern werde das Klinikpersonal nahezu täglich mit Schwer- und Schwerstkranken konfrontiert.

Der Dringlichkeit und den hohen Ansprüchen an Mediziner und Pflegepersonal stehe die Wirklichkeit einer muslimischen Gemeinschaft in Deutschland entgegen, die das Thema ignoriere oder auf die lange Bank schiebe. "Der Diskurs über Sterbehilfe ist weder in der muslimischen community angekommen, noch wird er von dieser angenommen", kritisierte Azizi. Daher würden in die aktuell laufenden Beratungen über eine gesetzliche Neuregelung der Sterbehilfe zwar die christlichen Konfessionen einbezogen – nicht aber die Muslime.

Die Position des Islam zu Sterbehilfe sei indes völlig ungeklärt. Weder treffe der Koran, aus dem Azizi zitierte, dazu klare Aussagen - noch ließen sich anderweitige Informationsquellen leicht erschließen. Dieses Dilemma werde durch das Fehlen geeigneter Ansprechpartner erschwert: Mimoun Azizi schilderte den Fall eines hirntoten Unfallopfers, bei dem sich die Frage des Abschaltens lebenserhaltender Maschinen stellte. Dessen muslimische Großfamilie sei darüber gespalten gewesen. "Wen frage ich nun? An wen können sich Angehörige wenden? Wir haben keine Ansprechpartner. Das ist beschämend!" Zu seinem emotionalen und zuweilen provokanten Auftritt habe er sich bewusst entschlossen, betonte Azizi, der auch die Organisatoren des "Zukunftsforums Islam" kritisierte: Es seien zu wenig Referenten mit spezieller Expertise zu Sterbehilfe eingeladen.

Er verstehe sich als Sprachrohr frustrierter Kollegen und Experten, die bereits ein klares Konzept zur Sterbehilfe ausgearbeitet und dem Zentralrat der Muslime vorgelegt hätten – ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Dabei gibt es Azizi zufolge sowohl Ansatzpunkte für eine zeitgemäße theologische Auseinandersetzung – er zitierte Aussagen des "Islamisch-europäischen Rats für Fatwa und Wissenschaft" zum Thema – als auch Vorbilder für beratende Gremien für Ärzte und Angehörige wie etwa klinische Ethik-Komitees. Idealerweise würde in jedem Bundesland ein mit muslimischen Medizinern, Theologen und Philiosophen besetzter Rat gegründet, der bei schwierigen Entscheidungen zur Sterbehilfe angerufen werden kann und zeitnah Empfehlungen ausspricht. Der Psychiater Dr. Fatih Keskin erweiterte mit seinem Vortag die Perspektive um die Dimension des Sterbens und Trauerns "in der Fremde". Dabei nahm Keskin, der in Krefeld die erste türkischsprachige Ambulanz für psychisch Erkrankte leitet, besonders die Belastung von Angehörigen in den Blick. Migranten litten oftmals stärker unter der Begleitung Sterbender, betonte Keskin: Da die Betreuung Bettlägeriger genuin als Aufgabe der Familie verstanden werde und kultursensible Angebote oft fehlten, versuchten oft berufstätige Angehörige, die Pflegearbeit unter allen Umständen selber zu leisten. Als psychologisch problematisch erweise sich oft auch die Phase nach dem Tod: Da eine islamgemäße Beerdigung schnell zu erfolgen hat, könnten Angehörige aus dem Ausland oft nicht rechtzeitig anreisen, um sich vom aufgebahrten Toten zu verabschieden. Auch die Besuchsmöglichkeiten des Grabes seien oft eingeschränkt, eine "zerrissene Trauer" die Folge. Er habe viele regressiv-depressive Patienten, die nach dem Tod von Eltern "den eigenen Schritt in die Vaterfunktion nicht schaffen", betonte Keskin. Zuweilen verlören sie sich in der Suche nach Sinn im von Allah auferlegten Schicksal, was Weiterentwicklung und Heilung hemme. "Da gerate ich bei der Behandlung oft in eine Sackgasse." Auch muslimische Tabus wie Suizid oder HIV setzen Klienten Keskin zufolge unter hohen sozialen Druck.

Um das Beschweigen solcher muslimischer Tabus, zu denen auch die Sterbehilfe zählt, kreiste auch die abschließenden Diskussion. Dass nicht sein kann, was nicht sein darf – dies liegt nach Auffassung der Krankenhausseelsorgerin und Traumatherapeutin Dr. Christina Kayales an einer spezifisch muslimischen Schamkultur. Diese konzentriere sich nicht auf das Versagen in der Sache, sondern stelle die Person, die einen Fehler begangen hat, in ihrer Gänze in Frage. Dies mache einen Diskurs – und Fortschritte bei einem Thema wie der Sterbehilfe, wo "richtige" Entscheidungen schwer zu finden sind – so schwer.

Der Druck auf Imame, sich mit Fällen von Sterbehilfe auseinanderzusetzen, werde wachsen, prognostizierte ein anderer Seminarteilnehmer. Dies werde zwangsläufig Fragen der Seelsorge – neben den theologisch-liturgischen Kernaufgaben in den Fokus rücken. Dies brauche jedoch Zeit: Im Judentum sei ein modernes Rabbinat, das seelsorgliche Aktivitäten beinhaltet, in etlichen Jahrzehnten entstanden.

Biografische Angaben

Dr. med. Mimoun Azizi ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und Notfallmedizin. Zudem ist er Politikwissenschaftler und Soziologe. Seit Jahren beschäftigt er sich aktiv mit der medizinischen Versorgung, sowie mit der sozialpsychiatrischen Versorgung und der psychosozialen Versorgung von muslimischen Patienten. Diesbezüglich arbeitet er mit den deutschen Wohlfahrtsträgern, insbesondere mit der Caritas und mit der Diakonie, sehr eng zusammen. Zudem fungiert er ehrenamtlich als Berater bei den Demenz-Beratungsstellen, den Schwerbehinderten-Beratungsstellen und in Hospizeinrichtungen. Zudem berät er Pflegeeinrichtungen in der Versorgung muslimischer Patienten

Dr. Fatih Keskin geboren und aufgewachsen als 3. (jüngstes Kind) einer türkischen Gastarbeiterfamilie in Köln. Besuch von Gymnasium in Köln-Kalk und Studium der Humanmedizin in Bochum. Abschluss seit 2004.Seit 2004 in einer psychiatrischen Fachklinik (Klinik Königshof Krefeld) tätig, seit 2012 als Oberarzt der Tagesklinik und der Interkulturellen Institutsambulanz. Verheiratet seit 9 Jahren, 2 Kinder (5 + 3).

Nina Käsehage Studium der Geschichts- und Religionswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Master-Arbeit über die Konversion zum Islam in Deutschlands. Mein kürzlich abgeschlossenes Dissertationsprojekt befasst sich mit salafistischen Gruppen in Deutschland sowie im europäischen Ausland. Zurzeit bin ich Studienberaterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Religionswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Meine Forschungsschwerpunkte sind der religiöse Extremismus, hier insbes. der Salafismus in seinen deutschen und europäischen Ausprägungen, die Konversionsforschung, transnationale, religiöse Bewegungen, die Religionssoziologie sowie –psychologie und religiöse Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus halte ich Vorträge und Lehrveranstaltungen über das Phänomen des (deutschen) Salafismus, den Umgang mit (Syrien-)Rückkehrern und die Möglichkeiten von De-Radikalisierung.