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"Bei Massenmorden setzte sein Gedächtnis regelmäßig aus": Täter und Netzwerke | Danach – Der Holocaust als Erfahrungsgeschichte 1945 – 1949 | bpb.de

5. Internationale Konferenz zur Holocaustforschung Themen Eröffnung/Einführung Displaced Persons - Flüchtlinge - Zwangsmigration Täterbilder und Netzwerke Zerstörte Welten - Ordnungsversuche Bilder - Zeugnisse - Dinge Entnazifizierung - Re-Education - Prozesse Workshops Formate Texte Videos Fotos Redaktion

"Bei Massenmorden setzte sein Gedächtnis regelmäßig aus": Täter und Netzwerke

/ 3 Minuten zu lesen

Das letzte Panel des ersten Konferenztages trug den Titel "Täter und Netzwerke". Die drei Referenten sind ausgewiesene Experten der modernen Täterforschung und beschäftigen sich unter anderem mit der Frage nach dem Einfluss der "situativen Handlungsdynamik" bei Massenmorden. Vor allem Wendy Lower hatte 2013 mit ihrer Publikation zur Rolle von Frauen als Täterinnen im Nationalsozialismus die Forschungslage maßgeblich ausdifferenziert.

bild6 (© Oliver Feist / buero fuer neues denken)

"Nur ein ganz gewöhnlicher Trawniki" 
Das Panel eröffnet Andrej Angrick mit einem Vortrag zur strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen durch amerikanische Justizbehörden. Der Historiker verweist auf die besondere Rolle der USA bei der Strafverfolgung. Die Amerikaner verfolgten entgegen der Schwerpunktsetzung bei den Briten und Franzosen in ihren Verfahren vor allem den Aspekt des individuellen Tatbeitrages. Das am 24. November 1953 verabschiedete Bundesgesetz zur "Rechtsstellung der Flüchtlinge" erleichterte die Auslieferung von Nationalsozialismus-Tätern in die jeweiligen Länder bei justiziellem Interesse. Der Historiker kritisiert jedoch die Vorgehensweise der jeweiligen Verfahren durch die Amerikaner und verweist beispielhaft auf den bekannten Fall des Trawniki John (geborenen Iwan) Demjanjuk. Vor allem die sukzessive Öffnung zahlreicher Archive nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ermöglichte den Zugang zu neuem Quellenmaterial, das wiederum zur Strafverfolgung verwendet werden konnte. Im Fall Demjanjuk konnten hier sowohl zugunsten des Angeklagten falsche Informationen korrigiert, jedoch auch die Anklage aufgrund der neuen Beweislage konkretisiert werden. Angrick polemisiert zum Ende seines Vortrages mit der Aussage, dass Demjanjuk nicht Iwan der Schreckliche war, sondern "nur ein ganz gewöhnlicher Trawniki".

"Bei Massenmorden setzte sein Gedächtnis regelmäßig aus"

Wolfram Wette konzentriert sich in seinem Vortrag illustrativ auf zwei "NS-Direkttäter" des Nationalsozialismus. SS-Standartenführer Karl Jäger, "der Mörder der litauischen Juden" und Dr. Dr. Josef Mengele, der sogenannte Todesengel von Auschwitz. Wette zeichnet das Leben der beiden Massenmörder zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945 nach. Beide waren auf der Flucht, seit sich nach Jahresende 1944 das Schicksal des Dritten Reichs abzeichnete. Jäger tauchte im Gegensatz zu Mengele jedoch nie unter. Wie er nach seiner Festnahme im April 1959 immer wieder betonte, hat er sich unter seinem richtigen Namen polizeilich gemeldet. Wette hob hervor, dass dies nur die halbe Wahrheit war, denn Jäger verschwieg, wie auf seinem Meldebogen nachvollziehbar, jegliche Zugehörigkeit zu SS oder ähnlichen Gruppierungen. Herr Wette bringt den Saal zum Schmunzeln, als er anmerkt, dass "Jäger sich quasi selbst entnazifiziert hatte". Josef Mengele handelte ebenfalls erfinderisch, denn er hatte trotz seiner Mitgliedschaft bei der SS keine Blutgruppen-Tätowierung. Somit entging er nach kurzer Kriegsgefangenschaft einer Identifizierung als gesuchter Täter. 
Wette vergleicht in seinem Vortrag das Verhalten der NS-Täter und kommt zu dem Schluss, dass beide Täter einen sozialen Abstieg in Kauf nahmen und sich jeweils als Landarbeiter unsichtbar machten. Auf diese Art und Weise entzogen sich beide der Strafverfolgung (Im Falle Jägers jedoch nur zeitweise). Der Historiker betont, dass in den Westzonen des besetzten Deutschlands selbst "Schwerst-Täter" unbehelligt leben konnten und in einigen Ausnahmefällen sogar durch politische Entscheidungen begünstigt wurden. Wie Hanna Arendt bei ihrem ersten Besuch 1949 nach dem Krieg in Deutschland konstatierte, sei unter den Deutschen, die sich selbst als Opfer des Krieges sahen, eine Bereitschaft zur Aufarbeitung nicht vorhanden. Bis heute, Jahrzehnte später, stoße man immer noch auf Nachwirkungen dieser Haltung, so Wette.


"Schreibtischtäterinnen"

Auf eben jene fehlende Aufarbeitung weist auch Wendy Lower hin. Die Historikerin polarisierte in jüngster Vergangenheit mit ihrer Publikation zu "Hitlers Furies" - in Deutschland unter dem Titel "Hitlers Helferinnen" erschienen. Das Buch konzentriert sich auf die Frauen als selbsttätige Individuen, die bislang als aktive Täterinnen in der Holocaustforschung außer Acht gelassen worden sind. Lowers Forschungsschwerpunkt geht bis ins Jahr 1992 zurück, als sie im Archiv des ukrainischen Schytomyr auf Dokumente stieß, die die Tätigkeit von Frauen an vorderster Frontlinie bewiesen. Frauen, die bislang im Allgemeinen keine Strafverfolgung fürchten mussten, hatten detailreiche Zeugenaussagen abgegeben, die Lower zu der Annahme brachten, dass die Tätigkeit von Frauen im Zweiten Weltkrieg nicht auf eindimensionale Ansätze reduziert werden sollte. "1992 war nur die Spitze des Eisbergs", so Lower und weiter: "Aus einem blinden Fleck wurde langsam eine klaffende Lücke." Von diesem Punkt ausgehend, formulierte die Historikerin die These, dass vor allem seit Eichmann und den Schreibtischtätern auch nach den "Schreibtischtäterinnen" geforscht werden muss. Diese waren oft versteckt hinter Stempeln und Unterschriften, getarnt als Sekretärinnen oder Geliebte von SS-Führern. Lower verweist schlaglichtartig auf den Handlungsspielraum dieser Frauen.

Dem Panel folgt eine angeregte Diskussion, bei dem vor allem der situative Handlungsspielraum multiperspektivisch und durchaus kontrovers diskutiert wird. Außerdem stößt die Rolle von Frauen als handelnde Personen auf große Resonanz.

Alle Vorträge samt anschließender Diskussion im Video: