Etwas schreiben über die Israel-Reise mit der Bundeszentrale für politische Bildung? Schwierig. Ich erinnere mich an die Ausgangssituation. "Mach das!", sagten die, die schon mal mitgefahren waren. "Es ist sehr anstrengend. Aber du kommst anders wieder, als du hingefahren bist." Wie pathetisch, dachte ich. Politische Bildung mit der Behörde soll mein Leben verändern?
Abreise
Der Auftakt in Frankfurt gibt mir auch erst einmal recht: Kaum angekommen, wird schon hastig gegessen, um gleich mit Wissensvermittlung zu beginnen. Hochkarätige Referentinnen und Referenten stimmen uns ein auf Geschichte, Politik und Alltag in Israel. Schon am ersten Abend habe ich die Gewissheit verloren, je etwas über Israel gewusst zu haben. So soll es bleiben. Jeder Tag ist voll mit Besuchen, Referaten, Diskussionsrunden. Im Bus wird übers Mikro gelehrt, nach dem Aussteigen zwischen Ruinen und Grenzstreifen, in eiskalt klimatisierten Seminarräumen. Kaum Ruhepausen, Unmengen von Informationen. Und während die Hand notiert und der Kopf sortiert, ist die rechte Gehirnhälfte unablässig mit dem Bemühen beschäftigt, das Gehörte und die eigenen Gefühle zu verstehen, Unbehagen zu benennen oder Widersprüche aufzulösen. Meistens vergeblich.
Ankunft
Erster Tag in Tel Aviv. Gespräch mit zwei Studentinnen über ihren Alltag. Hilly Rejwan, 22 Jahre, Jurastudentin, sitzt lässig mit übereinandergeschlagenen Beinen da. Die Beine stecken in engen Jeans, High Heels, knappes T-Shirt, lange schwarze Haare, arabisch-dunkle Augen. Neben ihr Tzlil Siegelman, 20, mit orthodoxem Kopftuch, langärmeliger Bluse und im weiten, langen Rock. Sowohl das Aussehen als auch die Namen der beiden spiegeln die allgegenwärtige Mischung von Abstammung und Einwanderungsgeschichten in Israel, auch der politischen und religiösen Identitäten. Haben die so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Israel privat Kontakt? Die beiden gucken sich an. Das könne nur jemand fragen, der nicht aus Israel ist, lachen sie. "No problem!", sagen die beiden. Es seien eben alle Israelis. Aber Tzlil zieht Grenzen. Sie findet, sie kann schlecht mit jemandem befreundet sein, dessen Familienmitglieder potenziell Bomben schmeißen. Und überhaupt. "I don’t care about a country that’s not jewish”, sagt sie. Basta. Wir zucken leicht zurück. Dann fragt jemand, was das Leben in Israel schön mache. Und plötzlich sind beide wieder einmütig: Der Strand, die Sonne, Partys, dass alle eine große Familie sind. Die deutschen Köpfe sind verwirrt.
Das Zucken wird zum täglichen Reflex. Schon mit dem nächsten Referenten erfüllt die Bundeszentrale für politische Bildung das Kontroversitätsgebot. Die Gräben seien tief zwischen Orthodoxen und Säkularen, sagt Grisha Alroi-Arloser, Geschäftsführer der Israelisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer. Die einen zahlen keine Steuern, die anderen müssen ihre Kinder in die Armee schicken. Und arabische Juden hätten Rechte im Land, aber nicht auf das Land. Er sieht Israel in einem "chronischen Fieber", man mache sich dauernd etwas vor. Die israelische Gesellschaft sei entsolidarisiert und unangemessen vergnügungssüchtig aufgekratzt – "never a dull moment". Das ist ein bisschen viel starker Tobak für den ersten Tag. "Sie werden noch so viele unterschiedliche Meinungen hören", sagt Alroi-Arloser. "Und wissen Sie was? Sie haben alle recht!"
Er weiß wohl, wovon er spricht. Die Referenten und Gesprächspartner, die in den folgenden Tagen untereinander oder mit uns leidenschaftlich streiten, spiegeln die Vielfalt, aber auch die Disparität der israelischen Gesellschaft und eine Lebenseinstellung, die zwischen dem Tanz auf dem Vulkan und luzider Analytik hin und her schwenkt. Oder sind wir das selbst, im Eilschritt von einer Diskussion zur nächsten?
Darf man so etwas sagen, die Shoah sei "Teil der nationalen Mythologie"? Hanna, die Professorin für Holocaust-Studien an der Ben-Gurion-Universität, hat das gerade getan und meint auch, dass der Holocaust als Begründung für die Notwendigkeit des israelischen Staates den Zionismus abgelöst habe. Ich kann so schnell gar nicht verdauen, wie diese kluge, kleine, graziöse Dampfwalze wild gestikulierend Identitätstheorien erklärt. Und dann erzählt sie, dass ihr Vater nie gelacht habe, weil er als einziger seiner Familie den Holocaust überlebte und sein Leben lang Schuldgefühle hatte.
Wir sitzen in Bethlehem im schönen, hellen Raum des Internationalen Begegnungszentrums und sind gefesselt vom energischen Plädoyer des Leiters der Palästinaabteilung bei der Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem, Suleiman Abu Dayyeh, der eine "palästinensische Geschichte der Fremdbestimmung" entwirft, über die Restriktionen der israelischen Verwaltung berichtet, die Lebensbedingungen der Palästinenser in den gar nicht autonomen Gebieten skizziert. Und wir lachen laut über Lydia Aisenberg, die uns mit 62 Jahren, kurzen knallroten Haaren ("Diese Farbe, Freunde, kommt aus einer Tube!"), in Jeans und in einer Art Stand-up-Comedy ihre Jugend im antisemitischen Wales ausmalt, um uns danach in ein arabisches Dorf an der Grünen Linie zu führen. Keiner in ihrer Familie, erzählt sie, würde ihre Friedensinitiative unterstützen.
Sie alle, ob gewitzt oder naiv, sind in jeder Sekunde für eine Überraschung gut, auch durch einen irritierenden Vortrags- und Diskussionsstil, der bei uns oft als "politisch inkorrekt" gelten würde. Als mitten im bestürzenden Vortrag von PLO-Mitglied Walid Salem vom Palästinensischen Zentrum für Demokratie und Kommunalentwicklung sich eines der drei Handys von Suleiman mit "Highway to Hell" von AC/DC als Klingelton meldet, können wir nur noch lachen.
Dazwischen drängen sich Bilder vom Freitagnachmittag in Jerusalem, von stoßenden Menschenmassen, Frauen mit muslimischen Schleiern, orthodoxen Männern in Pumphosen, die zwischen singenden christlichen Pilgergruppen hindurch, vorbei an mit Schusswesten und Maschinenpistolen bewaffneten Polizisten, zum Ramadan- oder Sabbatgebet durch die engen Gassen hasten, Bilder von den Sperranlagen, der Mauer, die sich durch Jerusalem zieht, mit dem Graffiti "Wall of Tears". Und das Bild vom Juden Itzhik, der mit schönem Tenor und den zwei mitreisenden Leitern katholischer Bildungsstätten ein Te Deum in der Bethesda-Kirche singt und plötzlich die Welt für drei Minuten anhält. Alle haben recht. Wir schlängeln uns mit dem großen Reisebus den Ölberg hoch. Plötzlich kommen von allen Seiten riesige Busse wie der unsere und blockieren sich gegenseitig. Jemand müsste rangieren, um die anderen passieren zu lassen. Aber keiner bewegt sich. Stattdessen wird wie wild gehupt, die Fahrer steigen aus und beschimpfen sich lautstark. "Welcome to the Middle East!”, lacht unser Busfahrer Eli. "Wer rückwärts fährt, hat verloren!"
Zurück
Wieder zu Hause verfolge ich die Nachrichten über die Situation in Israel noch aufmerksamer. Wieder fliegen Kassam-Raketen. Trotz internationaler Proteste riegelt Israel erneut den Gazastreifen ab. Jeder verlangt vom anderen, den erlösenden Schritt zu tun. Ich kann mich keiner Lager-Haltung anschließen. Ich weiß weniger als vor der Reise, aber, wie es uns der Nachrichtenmoderator David Witzthum zum Abschied prophezeit hat, wenigstens "auf höherem Niveau". Und ich weiß: Auch wer rückwärts denkt, hat verloren.
Der vollständige Text erschien in Praxis politische Bildung, Heft 1/2009, 13. Jg., S. 38 – 43.