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Soziales Unternehmertum aus Sicht von Wissenschaft und Praxis - Interview | Unternehmertum | bpb.de

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Soziales Unternehmertum aus Sicht von Wissenschaft und Praxis - Interview

Anne Decker André Habisch

/ 15 Minuten zu lesen

Die gleichzeitige Orientierung an Gemeinwohl, Innovation und Profit ist unternehmerisch durchaus machbar: Sozialunternehmen beweisen dies. Und ihre Potenziale zur Bewältigung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zukunftsaufgaben sind beträchtlich.

Herr Professor Habisch, Sie unterrichten unter anderem im Studiengang "Entrepreneurship and Social Innovation". Frau Decker hat gerade ihren Master bei Ihnen gemacht und bereits Erfahrungen als Mitarbeiterin von Sozialunternehmen gesammelt. Wir befragen daher Sie beide und möchten mit der Wissenschaft beginnen: Unternehmer sind doch vor allem an ihrem Profit interessiert. Ist ein "Sozialunternehmer" insofern nicht ein Widerspruch in sich selbst?

André Habisch: Neuere Untersuchungen untermauern die Theorie des britischen Ökonomen Thomas Malthus (1766–1834), der gezeigt hat, dass es in der Geschichte der Menschheit über Jahrtausende hinweg kaum jemals zu einer wirklich durchgreifenden Verbesserung der wirtschaftlichen Situation breiter Bevölkerungsschichten gekommen ist. Not, Mangel und Schutzlosigkeit scheinen zur menschlichen Existenz zu gehören: Insofern stellt es durchaus eine Besonderheit jüdisch-christlichen Sozialdenkens dar, tätige Nächstenliebe und Solidarität mit Armen, Kranken und Benachteiligten einzufordern. Ausgangspunkt ist dabei die Überzeugung, dass jeder Mensch – also auch der arme und ungebildete, der kranke und behinderte – als Abbild Gottes geschaffen und mit einer unveräußerlichen Menschenwürde ausgestattet ist. Ordensgemeinschaften wie Franziskaner und Dominikaner widmeten sich in den mittelalterlichen Städten dem Dienst an diesen Gruppen. So verbreiteten sich etwa von Norditalien aus die ersten Mikrofinanzorganisationen, die Montes pietatis, die Armen durch kleine Kreditbeträge Hilfe zum Bestreiten ihres Lebensunterhalts und zur Verbesserung ihrer Lebenssituation gewährten.

Erst das Aufklärungsdenken des 18. Jahrhunderts bringt eine durchgreifende Erschütterung der traditionellen Sozialordnung mit sich, in der die Masse der armen Bevölkerung eine kleine Schicht von Privilegierten alimentierte. Im Zuge der Industriellen Revolution des 19. und 20. Jahrhunderts gerät zunächst in England und dann auch in anderen europäischen Ländern die soziale Welt aus den Fugen. Der Übergang zu Strukturen der modernen Massenproduktion unter Einsatz von Maschinen und innovativer Produktionsmethoden markiert den Übergang in die Industriegesellschaft. An die Stelle des Grundbesitzers tritt nun der Unternehmer als Leitfigur des Wirtschaftssystems: Er wird durch die Einführung neuer Produkte, Produktionsprozesse oder Dienstleistungen zum "schöpferischen Zerstörer" – so die klassische Formulierung des Ökonomen Joseph Schumpeter – der bestehenden wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Unternehmerpersönlichkeiten tragen das wirtschaftliche Risiko von Investitionen in neue Produkte und Dienstleistungen. Sie sind im Erfolgsfall auch berechtigt, die finanziellen Erträge ihrer Marktstrategien abzuschöpfen. So wird das Unternehmertum zum wichtigsten Treiber wirtschaftlicher und sozialer Veränderung und Innovation in der modernen Wettbewerbswirtschaft, in der jenseits von Stand und Klasse letztlich der Verkaufserfolg am Markt das Erfolgskriterium darstellt.

Trotz seiner zentralen Bedeutung für das Gesamtsystem der Marktwirtschaft ist der Unternehmer aber in der modernen Wirtschafts- und Sozialwissenschaft noch immer ein vernachlässigter Forschungsgegenstand. Die Mikroökonomie modelliert ihn als rationalen Akteur, dessen Handeln durchgängig am Ziel der Gewinnmaximierung orientiert ist. Empirische Untersuchungen zeigen aber, dass eine solche eigennutzbestimmte Sichtweise der unternehmerischen Wirklichkeit nur teilweise gerecht wird. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer sind zumindest auch durch ein gesellschaftliches Anliegen getrieben. Sie wollen etwa einem innovativen Produkt oder einer Dienstleistung zum Durchbruch verhelfen, die Möglichkeiten einer bestimmten Technologie für ihre Kundschaft verfügbar machen oder zur besseren Versorgung der Bevölkerung beitragen.

Eine weit verbreitete Charakterisierung des Unternehmers durch wirtschaftliches Eigeninteresse oder gar Opportunismus und Selbstsucht stellt also eine Verzerrung dar. Unternehmerisch handelnde Personen sehen sich immer auch im Dienst ihrer Organisation und deren Ziel, nämlich der Einführung "besserer" Produkte beziehungsweise Dienstleistungen. Ob sie dabei gegenüber den Anspruchsgruppen des Unternehmens, also Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden, ihrer unternehmerischen Verantwortung gerecht werden, das entscheidet langfristig über ihre gesellschaftliche Wirksamkeit. Im Kontext eines funktionierenden rechtlichen und moralischen Rahmens marktwirtschaftlicher Ordnung ist mithin jeder Unternehmer bis zu einem gewissen Grad immer auch ein Sozialunternehmer.

Was ist unter einem Sozialunternehmer im engeren Sinne zu verstehen?

André Habisch: Die sozialwissenschaftliche Diskussion der vergangenen 15, 20 Jahre hat den Begriff Soziales Unternehmertum im engeren Sinne geprägt. Der gängigen Definition des amerikanischen Ökonomen J. Gregory Dees entsprechend handelt es sich um Initiatoren innovativer Lösungen für soziale Ziele sowie Impulsgeber für neue Ressourcenströme und soziale Märkte. Der Archetyp des Sozialunternehmers beziehungsweise social entrepreneurs ist der Gründer einer neuartigen Organisation, deren primäres Ziel nicht die Erwirtschaftung von Profit, sondern die Lösung eines bestimmten gesellschaftlichen Problems ist, die dadurch zum Motor sozialer Innovation im Dienst einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe wird.

Welche Beispiele möchten Sie uns nennen?

André Habisch: Auch wenn der Begriff noch neu ist – Sozialunternehmertum als solches ist keineswegs ein neues Phänomen. Vielmehr waren schon Adolph Kolping (1813–1865) und Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) social entrepreneurs. Durch die Wiederbelebung des genossenschaftlichen Gedankens und die Gründung entsprechender Organisationen haben sie sich um die Verbesserung der Lebenssituation der ländlichen Bevölkerung wie auch der fahrenden Handwerkerschaft bemüht. Das Phänomen Sozialunternehmertum rückte mit dem zunehmenden Bewusstsein für soziale Missstände im 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – und zwar lange bevor sich sozialpolitische Institutionen wie die Bismarckschen Sozialversicherungen überhaupt ausbilden konnten.

Ein berühmtes Beispiel der Gegenwart ist die Grameen Bank, die in den 1970er Jahren von dem Ökonomieprofessor Muhammad Yunus in Bangladesch aufgebaut wurde. Ziel war es, arme landlose Frauen in einem der ärmsten Länder der Welt mit Kleinkrediten zu versorgen, die sie auch zurückzahlen können. Nur dadurch konnte nämlich ihr faktischer Ausschluss vom Kreditsystem überwunden werden, der sie regelmäßig in die Arme skrupelloser Geldverleiher mit Rekordzinsen trieb. Im angelsächsischen Sprachraum verzeichneten Sozialunternehmen schon früh eine markante Entwicklung, während man auf dem europäischen Kontinent die Lösung sozialer Probleme eher vom klassischen Wohlfahrtsstaat erwartete. Die Entwicklung Sozialen Unternehmertums auch in anderen Ländern wurde denn auch maßgeblich durch die Gründung und Weiterentwicklung von unterstützenden Netzwerken wie beispielsweise Ashoka (seit 1980) oder der Schwab Foundation (seit 1998) gefördert. Größere Aufmerksamkeit in den Medien und in der breiten Öffentlichkeit erlangte social entrepreneurship jedoch erst im Jahr 2006, als Muhammad Yunus den Friedensnobelpreis erhielt.

Wann fand Sozialunternehmertum Eingang in die akademische Forschung und Lehre?

André Habisch: Das wissenschaftliche Interesse an Sozialunternehmertum setzte in den 1990er Jahren ein. Hintergrund war der Eindruck, dass der Wohlfahrtsstaat und die internationale Entwicklungshilfe viele Probleme eher verwalten als lösen und es im Sozialbereich an unternehmerischen Innovationen fehlt. Vor allem in den USA, Kanada und im Vereinigten Königreich wurde eine große Anzahl an Forschungszentren zu social entrepreneurship, seinen Entstehensbedingungen und Erfolgsfaktoren errichtet. Im europäischen Verständnis stehen eher Einrichtungen des Sozialen Sektors, traditionelle Sozialhilfeprogramme und gemeinnützige, also Non-Profit-Organisationen im Mittelpunkt, die amerikanische Auslegung orientiert sich mehr am Unternehmertum. Bislang entwickelte sich über alle Disziplinen hinweg keine einheitliche Begrifflichkeit, sodass bis heute in unterschiedlichen Forschungskontexten verschiedene Unternehmensformen unter diesem Begriff behandelt werden.

Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung sieht den Sozialunternehmer ausgestattet mit speziellen Eigenschaften wie unternehmerischem Antrieb und Organisationsvermögen, Kreativität, Führungskompetenz und starken ethischen Motiven. In organisationstheoretischer Hinsicht sind Sozialunternehmen vor allem bezüglich ihrer strukturellen Charakteristika – Leitungsstruktur, Einbezug von Interessenvertretern, Geschäftsmodell, Entwicklung entlang der Wertschöpfungskette sowie Finanzkonzept – interessant. Das gesellschaftspolitische Interesse am Sozialunternehmertum fokussiert auf seinen sozialen Mehrwert: Eine Neukombination von Ressourcen vermag es, soziale Veränderungen zu erzeugen oder soziale Bedürfnisse (besser) zu befriedigen ("soziale Innovation"). Dies schliesst das Angebot eines neuen Typs von Produkten und Dienstleistungen ein oder die Bildung von neuen Organisationen beziehungsweise Aktivitäten in bereits etablierten Organisationen, die social intrapreneurship genannt werden.

Profitorientierung und Gemeinwohlorientierung und Innovationsorientierung: Sind hier Zielkonflikte angelegt?

André Habisch: Vielfach wird die Umsatzgenerierung und Kapitalverwendung von Sozialunternehmen kritisiert. Es dominiert jedoch die Auffassung, dass Gewinn die Grundlage für ein nachhaltiges und wachstumsfähiges Unternehmen darstellt: Ohne Gewinn gibt es für das Sozialunternehmen auch keine langfristige soziale Wirkung. Hält nämlich eine Organisation wirtschaftlich nicht das, was sie verspricht, dann verliert sie ihren Charakter als Sozialunternehmen und bleibt eine karitative beziehungsweise Non-Profit-Organisation. In vielen Fällen stellt das spezifische Modell der Umsatzgenerierung eines Sozialunternehmens, also sein "Geschäftsmodell", gerade die eigentliche Innovation dar. Der soziale Zweck dient nicht der Umsatzgenerierung – wie etwa bei einer zweifelhaften "Hilfsorganisation", die sich aus dem Spendentopf selbst bedient. Vielmehr stehen die ökonomische Nachhaltigkeit und Selbsterhaltung im Dienst des sozialen Zwecks. Viele Sozialunternehmer und ihre Investoren vertreten deshalb die Ansicht, dass ihre Unternehmen zwar auf einem wirtschaftlich tragfähigen Geschäftsmodell aufbauen sollten, die soziale Wirkung aber gegenüber der Gewinnorientierung stets prioritär sein müsse, um nachhaltige positive Wirkungen zu erzeugen. Das Sozialunternehmen soll darüber hinaus unabhängig von politischen oder religiösen Absichten, aber auch von mitunter dominanten Gründerpersönlichkeiten bleiben.

Sozialunternehmen haben also drei Hauptmerkmale:

  • Klare Orientierung am Gemeinwohl. Extreme soziale Ungleichheit etwa ist ein Problem, das das Wohl der Mitglieder einer Gesellschaft gefährden kann. Das Sozialunternehmen versucht für Menschen mit spezifischen Problemen – etwa materielle Armut, Alkoholismus und Drogensucht, Kriminalität, Langzeitarbeitslosigkeit – Dienstleistungen zu entwickeln und anzubieten.

  • Soziale Innovation. Der innovative Ansatz umfasst neue Arten von Produkten und Dienstleistungen, Veränderungen im Produktionsprozess oder in der Kommerzialisierung. Auch er dient der Kongruenz von sozialen und geschäftlichen Zielen.

  • Hybride Finanzierungsstrukturen. Sozialunternehmen können in ganz unterschiedlichen rechtlichen Strukturen verfasst sein, und abhängig von der jeweiligen Entwicklungsphase kombinieren sie verschiedene Formen der Umsatzgenerierung mit Unterstützung öffentlicher und privater Geldgeber. Frau Decker wird dies noch näher erläutern.

Und ich möchte hier noch den gesellschaftlichen Mehrwert ansprechen, den Sozialunternehmen erzeugen: So erspart etwa die Resozialisation krimineller Jugendlicher Kosten des Strafvollzugs oder der Verbrechensbekämpfung in der Zukunft. Die Überwindung von Drogensucht und Alkoholismus senkt zukünftige Kosten im Gesundheitssystem. Diese auch finanziellen Vorteile von Sozialprojekten können aber im Status quo nicht ermittelt werden. Zukunftsmärkte können sich noch nicht bilden, hier setzen Sozialunternehmen an. In Arbeitsfeldern wie der Jugendfürsorge oder der Altenpflege sind Sozialunternehmen oft nicht in der Lage, handelsfähige Produkte für den Markt zu kreieren und sind dann auf freiwillige oder öffentliche Unterstützung angewiesen. In anderen Bereichen kann dagegen ein marktüblicher Gewinn realisiert werden. Dabei handelt es sich überwiegend um "ethische Alternativen" zu Produkten, die schon vorher auf Märkten gehandelt wurden, beispielsweise Fair-Trade-Produkte, Produkte aus der ökologischen Landwirtschaft und alternative Energien.

Hat die Diskussion um Sozialunternehmertum auch im deutschen Sozialsystem Auswirkungen gehabt?

André Habisch: Im deutschen Sozialstaat liegt die Zuständigkeit für die Bereitstellung von sozialen, gesundheitsbezogenen und Fürsorgedienstleistungen primär bei den großen nichtstaatlichen Wohlfahrtsverbänden – Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Deutsches Rotes Kreuz, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Zentralwohlfahrtspflege der Juden in Deutschland. Sie spielen eine zentrale Rolle in entsprechenden Vereinbarungen mit der Politik. Diese Organisationen werden primär durch Fördermittel oder Entschädigungen für Dienstleistungen von Land, Kommune oder Agenturen für soziale Sicherung finanziert.

Neben großen gemeinnützigen Organisationen existieren aber auch kleine, lokale Gruppen, Initiativen und Projekte. Diese widmen sich weniger manifesten, aber nicht weniger wichtigen humanitären Anliegen, die im tradierten System häufig nicht abgebildet sind, beispielsweise Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit oder sozialer Exklusion von Randgruppen, und werden durch die etablierten Geldgeber schlechter versorgt als die großen Einrichtungen. Sie sind also auf zeitlich beschränkte öffentliche Programme, auf lokale Solidarität und auf Bürgerengagement angewiesen.

Die festen Strukturen des deutschen Sozialstaates mit seinem breiten Angebot an Dienstleistungen und stabiler Projektfinanzierung haben einerseits zum Widerstand gegen die Gründung von Sozialunternehmen geführt. Andererseits haben die etablierten Organisationen schon früh verstanden, dass sie selbst innovativ werden müssen. Sozialunternehmen entstehen in Deutschland vor allem in jenen Lücken, in denen traditionelle Träger nicht sehr innovativ sind. Dadurch konkurrieren beide nicht direkt miteinander.

Ein Großteil der Sozialen Unternehmen entwickelt sich zu neuen Marktteilnehmern. Dieser Trend erfährt aktuell viel Unterstützung in Deutschland. Denn in Anbetracht steigender Ausgaben bei prinzipiell begrenzten öffentlichen Mitteln wird die nachhaltige Finanzierung sozialer Dienstleistungen immer mehr zum Problem. Dieses wird sich durch die demografischen und sozialstrukturellen Entwicklungen der nächsten Jahre wie Überalterung und weitere Individualisierung verstärken: Wissenschaftler erwarten entsprechend eine steigende Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen.

Frau Decker, auch an Sie die Frage: Warum werden Sozialunternehmen gegründet?

Anne Decker: Die Motive sind sehr unterschiedlich. In den meisten Fällen kommen die späteren Gründerpersönlichkeiten mit einer Problemstellung in Kontakt oder sind selbst davon betroffen. Sie sehen sich gefordert, eine Lösung zu finden und dazu einen innovativen Ansatz zu entwickeln. Das Spektrum reicht vom Unternehmer, dessen Kind Autist ist und der deshalb ein Berufsbegleitungszentrum für Autisten aufbaut wie im Falle des IT-Dienstleisters Auticon in Berlin, über den nach langer Haft entlassenen Straftäter, der für vorbestrafte Jugendliche eine Ausbildungsstätte gründet, bis hin zu Unternehmensberatern, die während eines Besuchs in Äthiopien die Armut der Kaffeebauern gesehen und deshalb eine Kaffeefirma mit neuem Handelsmodell gegründet haben: Coffee Circle.

Wie sieht das Geschäftsmodell dieses 2009 in Berlin gestarteten Sozialunternehmens aus und was wissen Sie über dessen Kunden?

Anne Decker: Ohne jegliche Erfahrung im Kaffeebereich haben die drei Gründer mit viel Unterstützung aus ihrem Netzwerk Know-how erworben und sich in das Abenteuer gestürzt. Sie entwickelten ein Konzept, dass Kaffeebauern eine sichere Existenz ermöglicht. Und sie bewirken durch lokale Projekte wie Schulbauten oder die Trinkwasserversorgung, die gemeinsam mit den Kaffeebauern geplant und umgesetzt werden, nachhaltige Verbesserungen für die Dorfgemeinschaften. Die Projekte werden durch einen Euro pro verkauftem Kilogramm Kaffee finanziert. Coffee Circle vertreibt seine Produkte ausschließlich via Internet; die Kunden können sich beim Einkauf entscheiden, welches der aktuellen Projekte sie unterstützen wollen und dessen Entwicklung online verfolgen. Bei den Kundinnen und Kunden sind alle möglichen Alters- und Einkommensklassen vertreten. Es sind Menschen, die hinter gerechten Einkaufspreisen und dem Handelsmodell stehen sowie hochwertige Lebensmittel schätzen.

Sie haben selbst bei Coffee Circle gearbeitet?

Anne Decker: Ja, ich war eine der ersten Mitarbeiterinnen und konnte die Entwicklung des Unternehmens mitprägen. Als Projektmanagerin habe ich mit Kaffeekooperativen in Äthiopien zusammengearbeitet. Ich war zuständig für die Kaffeeauswahl und die Projektarbeit vor Ort. Das bedeutete, mit den Kaffeebauern an einem neuen Schulbau zu arbeiten oder sie bei einem Gespräch mit der lokalen Schulbehörde zu unterstützen, um weitere Lehrkräfte für die Schule zu bekommen. So nah bei den Menschen zu sein und ihre täglichen Herausforderungen zu verstehen, das war für mich eine große Bereicherung.

Coffee Circle ist ein gutes Beispiel für ein deutsches Sozialunternehmen. Das Produkt Kaffee ist zwar nicht neu, aber Coffee Circle war mit dem innovativen Ansatz des persönlichen Handels mit den Produzenten ein Vorreiter im Kaffeemarkt. Dieses Modell ist die tatsächliche Umsetzung von fairem Handel im direkten und ständigen Austausch mit den Menschen, die den Kaffee erzeugen, um ihre Lebensbedingungen wirklich nachhaltig verbessern zu können. Das Team entwickelt das Handelsmodell stetig weiter, gibt den Kaffeebauern und ihren Familien eine Stimme gegenüber der Regierung, Kaffeeeinkäufern und vor allem den Konsumenten, indem auf Verbesserungspotenziale und -maßnahmen hingewiesen wird. Das Unternehmen hat es geschafft, nicht nur einen Vertrieb mit Fair-Trade-Kaffee aufzubauen, sondern verbindet wirtschaftliche Tragfähigkeit mit einem sozialen Ansatz. Mittlerweile haben viele internationale Kaffeehändler das Modell übernommen und integrieren die Kaffeebauern direkt in die Wertschöpfungskette. Ähnliche Ansätze kann man in anderen Bereichen auch bei den Hamburger Unternehmen LemonAid/ChariTea und Viva con Agua sehen.

Welche Optionen gibt es für die Finanzierung von Sozialunternehmen?

Anne Decker: In Deutschland wird Unternehmertum – wie schon von Herrn Habisch angesprochen – oft mit schneller Gewinnerzielung gleichgesetzt. Dass aber auch große Konzerne einmal klein angefangen und lange rote Zahlen geschrieben haben, wird nicht wahrgenommen. Sozialunternehmen haben es noch viel schwerer. Sie sehen oft dort einen Markt, wo andere noch keinen sehen, und wagen es, diesen zu schaffen oder einen bestehenden zu verändern. Sie entwickeln Produkte und Dienstleistungen mit dem übergeordneten Ziel, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Deshalb rechnen sich ihre Investitionen meist noch später als die anderer Unternehmen.

Sozialunternehmen beginnen oft als gemeinnützige Vereine und finanzieren sich am Anfang häufig durch Spenden und sogenannte Business Angels. Hier handelt es sich vielfach um erfahrene Unternehmerinnen und Unternehmer, die die Existenzgründer mit ihrem Wissen, ihren Kontakten und gegebenenfalls auch finanziell unterstützen. Erst später kommen Finanzierungsinstrumente von Banken, institutionellen Investoren oder Eigenkapitaleinlagen hinzu. Mittlerweile gibt es hierzulande sehr gute Netzwerke und Beratungsfirmen, die bei der Finanzierungssuche Hilfe leisten. Darunter befinden sich beispielsweise die Münchner Finanzierungsagentur für Social Entrepreneurship FASE oder das unabhängige und gemeinnützige Analyse- und Beratungshaus Phineo aus Berlin. Dies ist jedoch erst eine Entwicklung der vergangenen drei bis vier Jahre.

Mittlerweile hat sich auch eine neue Art von Investoren positioniert, die sogenannten Impact Investoren. Meist sind sie durch mehrere Privatinvestoren, Stiftungen oder staatlich geförderte Institutionen finanziert. Sie unterstützen Unternehmen ideell, aber auch finanziell mit klaren Renditeerwartungen, dies jedoch mit realistischen Einschätzungen von Wachstumsziel und -geschwindigkeit. Das Feld von Impact Investoren ist breit aufgestellt. Sie vergeben sowohl Investments in Spendenform als auch Kredite oder erwerben Unternehmensanteile. Für Impact Inverstoren steht die nachhaltige Entwicklung der Sozialunternehmen klar im Vordergrund. Dafür nehmen sie von marktüblichen Investitionsmerkmalen Abstand. Die elea Foundation for Ethics in Globalization in Zürich, für die ich seit Beginn des Jahres arbeite, ist ein gutes Beispiel für einen philanthropisch orientierten Impact Investor. Wir konzentrieren uns jedoch weniger auf den deutschen Sozialunternehmermarkt, sondern legen den Fokus auf unternehmerische Ansätze in Entwicklungsländern.

Vom einzelnen Sozialunternehmen abgesehen: Was kann diese "Branche" bewegen?

Anne Decker: Wer heute noch denkt, dass Sozialunternehmer bloß "Gutmenschen" mit beschränkter Lebenserfahrung seien, der liegt eindeutig falsch. Mit ihren Ideen verändern sie ganze Märkte. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist Carsharing. Das Modell ist so erfolgreich geworden, dass es große Automobilkonzerne schon vor Jahren in ihre Geschäftszweige aufgenommen haben.

Aber nicht nur die Ideen von Sozialunternehmen sind erfolgreich. Sie erhalten vor allem auch gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung durch Funding-Netzwerke oder auf interaktiven Feedbackplattformen. Sie stoßen Veränderungsprozesse in der Gesellschaft an. Die wichtigste Ressource der Unternehmen ist aber wohl das Personal. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter setzen sich – bei oft geringen Gegenleistungen – unermüdlich für die gemeinsame Vision ein. Sozialunternehmen sind im Arbeitsmarkt ein Randphänomen. Aber sie machen deutlich, wie wichtig die persönliche Identifikation mit einer Aufgabe, Vision und dem Produkt oder Service des Unternehmens ist, wenn dauerhaft hohe Leistung abgerufen werden soll. Davon können viele große Unternehmen sicherlich noch lernen.

Existiert in Deutschland schon eine Art Wettbewerb um soziale Innovationen?

Anne Decker: Nein, dafür ist der deutsche Markt noch zu klein. Aber es gibt natürliche Konkurrenz um Märkte oder Produkte, die positiv für die Etablierung eines Produktes oder einer Marke sein können. Überwiegend stelle ich jedoch fest, dass sich zwischen Sozialunternehmern und ihrem Netzwerk sehr starke Kooperationen aufbauen. Es findet ein intensiver Ideenaustausch statt. Die Sozialunternehmer möchten sich auch über ihre eigene Idee hinaus engagieren und vernetzen sich stärker als normale Gründer.

Welche aktuellen Herausforderungen sehen Sie für die deutsche Sozialunternehmerszene?

Anne Decker: Zum einen sehe ich – wie bei anderen Gründern auch – eine zentrale Herausforderung darin, aus der anfänglichen Idee ein nachhaltiges Geschäftsmodell zu entwickeln. Denn viele Unternehmer, die ich kennenlernen durfte, haben kaum Expertise in der Gründung und Führung eines Unternehmens. Und natürlich basieren manche Ideen zwangsweise auf Spendenfinanzierung und haben es schwer, sich autonom zu finanzieren: Das ist vollkommen in Ordnung.

Weiterhin bin ich der Auffassung, dass die politischen Rahmensetzungen auf Bundesebene noch nicht ganz ausgereift sind. Dies lässt sich sicherlich auf die heterogenen Erscheinungsformen von Sozialunternehmen an der Schnittstelle von Gemeinwohlorientierung und Unternehmertum zurückführen. Die Vielfalt sozialunternehmerischer Ansätze und voneinander abweichender Definitionen ist hinderlich.

Im Zusammenhang mit der sogenannten Flüchtlingskrise werden gegenwärtig viele Sozialunternehmen gegründet, die zu einer wichtigen Stütze des Gemeinwesens heranreifen können. Vor allem die Kiron University oder morethanshelters sind Projekte, die hier erwähnenswert sind und schon einige Preise für ihr Engagement entgegennehmen durften. Deshalb sollten nicht nur der Bund, sondern auch die Länder diese Entwicklungen richtig bewerten – und entsprechend unterstützen. Derzeit fehlen aber vor allem noch tragfähige Indikatoren für die gesellschaftspolitische Leistung von Sozialunternehmen, die vom Staat wie auch den Unternehmen und der Gesellschaft gleichermaßen anerkannt werden.

Profitorientierte Unternehmen sollen von Sozialunternehmen lernen – wie stellen Sie sich das vor?

Anne Decker: In Deutschland fangen Unternehmen gerade erst an, ihr gesellschaftliches und ökologisches Engagement nicht nur – und unter dem Deckmantel der Corporate Social Responsibility – als Philanthropie, sondern als Investition in künftige Wachstumsmärkte zu verstehen. Ich stelle oft fest, dass Unternehmen Konzepte der Sozialunternehmer übernehmen, beispielsweise in der Vermarktung neuer Produkte. Man kann Sozialunternehmen also auch als eine Art Forschungs- und Entwicklungsabteilung begreifen, die – im Kontext hierarchischer und träger Konzernstrukturen – innovative Vorarbeit leistet.

Zudem bin ich davon überzeugt, dass Beschäftigte in 15 Jahren darum konkurrieren werden, in sozialen Projekten mit dabei sein zu dürfen. Meine Generation strebt nach Selbstverwirklichung durch ihren Job, der Wunsch nach einem Arbeitgeber mit starkem Identifikationspotenzial wird merklich größer. Viele von uns begeistern sich für Unternehmen, die mit einer starken Vision ihr Umfeld verändern können.

Die Interviews wurden im März 2016 per E-Mail geführt.
(Anm. d. Red.).

M.A., geb. 1989; Associate bei dem philanthropischen Impact Investor elea Foundation for Ethics in Globalization, Mühlebachstrasse 70, 8008 Zürich/Schweiz. E-Mail Link: anne.decker@elea-foundation.org

Dipl.-Volksw., Dr. theol. habil., geb. 1963; Professor für Christliche Sozialethik und Gesellschaftspolitik an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Auf der Schanz 49, 85049 Ingolstadt. E-Mail Link: andre.habisch@ku.de