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Mit angezogener Handbremse: Zum Stand der Energiewende

Weert Canzler

/ 19 Minuten zu lesen

Die Energiewende bedeutet nichts weniger, als ein bisher zentral organisiertes System der Energiegewinnung und -verwendung zu einem dezentralen umzubauen – und zugleich allgemein einen effizienteren Umgang mit Energie durchzusetzen. Der Umbau einer für die Gesellschaft und Wirtschaft so wichtigen Infrastruktur ist in jedem Fall ehrgeizig und sicherlich nur als "Gemeinschaftsaufgabe" zu schaffen. Der Anfang ist gemacht, zumindest beim Strom. Derzeit wird fast ein Drittel des in Deutschland verbrauchten Stroms aus erneuerbaren Energien (EE) gewonnen. Die erneuerbaren Stromquellen, vor allem die Photovoltaik und die Windenergie, haben die Nische verlassen. Die Atomkraft steuert hingegen nur noch 13 Prozent bei und läuft innerhalb der nächsten vier Jahre ganz aus.

Doch die wirklichen Herausforderungen stehen erst noch bevor: Im Wärme- und vor allem im Verkehrssektor ist bisher nur wenig von einer Wende zu sehen. Der Anteil der Erneuerbaren ist hier mit zwölf und fünf Prozent sehr bescheiden, auch in absoluten Zahlen sind kaum Fortschritte zu verzeichnen. Der Energieeinsatz in den Gebäuden und im Verkehr verändert sein Niveau kaum. Zugleich wird zunehmend klar, dass ein weiterer Ausbau von Windenergie- und Photovoltaikanlagen vor allem mehr Stromnutzung vor Ort und zusätzliche Speicheroptionen braucht. "Dezentralität" als Organisationsprinzip der postfossilen Energiezukunft birgt viele Chancen, ist aber voraussetzungsvoll.

Insgesamt kommt die Energiewende nicht so voran, wie sie es vor allem wegen des notwendigen Klimaschutzes müsste. Was es braucht, sind klare Rahmenbedingungen für einen rascheren Umstieg auf die mittlerweile kostengünstigen Erneuerbaren. Dazu gehören der Ausstieg aus der Kohleverstromung, die Bevorzugung einer vernetzten Elektromobilität und Anreize für dezentrale Energienutzung wie Eigenverbrauch, Mieterstrom und intelligente Stromnetze (smart grids).

Vielen erschienen der Atomausstieg, eine anspruchsvolle Klimaschutzstrategie und das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), die drei zentralen Elemente der deutschen Energiewende, als energiepolitische Sonderwege. Doch ist die deutsche Energiewende gar nicht so außergewöhnlich. Weltweit stehen die Energiesysteme vor einem massiven Wandel: Um die Ziele der Pariser Klimaschutzvereinbarung von 2015 erreichen zu können, müssen sie in den nächsten Jahrzehnten dekarbonisiert werden. Die energiepolitischen Ziele klingen in vielen europäischen Ländern, aber auch in China, Indien oder sogar in einigen arabischen Ölstaaten ganz ähnlich: So soll der Anteil der erneuerbaren Energien stark ausgebaut und die Energieeffizienz drastisch erhöht werden. Das gilt nicht nur für den Stromsektor, sondern ebenso für die Wärme- beziehungsweise Kälteversorgung und für den Verkehr. Neben dem beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien sind außerdem erhebliche Anpassungen bei den Energienetzen beziehungsweise beim Energiemanagement und neue Geschäftsmodelle sowie soziale Innovationen erforderlich. Absehbar stehen zudem eine systemdienliche Integration von Speichern sowie eine breite Beteiligung der Bevölkerung auf der Agenda. Die Transformation der Energiesysteme ist nicht allein eine ambitionierte technische und wirtschaftliche Herausforderung. Sie braucht eine andauernde gesellschaftliche Unterstützung und verlässliche politische Regulierung.

Wende in die Volatilität

Schauen wir etwas genauer auf die Energiewende in Deutschland, wo sich die Unsicherheiten und auch die Inkompatibilitäten seit Kurzem verstärkt zeigen. Solange Wind und Sonne als fluktuierende Energiequellen nur einen marginalen Anteil an der Energiegewinnung hatten, war das unproblematisch. Jetzt, da ihr Anteil bei der Stromerzeugung bei einem Drittel liegt, werden die Folgen der Schwankungen allerdings virulent. EE-Anlagen werden zunehmend öfter abgeschaltet, das sogenannte dispatching – Eingriffe der Netzbetreiber in den Betrieb der Kraftwerke – gewinnt an Bedeutung. Die Volatilität des Energiesystems nimmt zu. Sie nagt am Prinzip der Versorgungssicherheit, nach dem der Strom unabhängig vom Wetter und von der Jahreszeit immer und überall gesichert zur Verfügung stehen muss. In Deutschland seien mehr als 15 Minuten Stromausfall pro Jahr (durchschnittliche Versorgungsunterbrechung pro Kunde) nicht zu tolerieren, heißt es in der Energiewirtschaft kategorisch. Gemäß dieses tradierten Prinzips gilt: Je höher der Anteil der fluktuierend einspeisenden Erneuerbaren ist, desto mehr Ausgleichs- und Back-up-Kapazitäten bedarf es. Entsprechend bedeuten mehr Wind- und Solarstromanlagen mehr aufwändige Redundanzen, also Reservekapazitäten. Für den Strombereich heißt das, dass mehr Übertragungsleitungen und steuerbare Reservekraftwerke gebraucht werden.

Die Abkehr vom Prinzip der Versorgungssicherheit wäre tatsächlich ein Paradigmenwechsel. Sie würde bedeuten: Dann, wenn Energie erzeugt wird, sollte diese auch abgenommen werden – und umgekehrt. Und zwar möglichst auch dort, wo sie erzeugt wird. In letzter Konsequenz wäre jede Verbraucherin und jeder Verbraucher für das eigene Nachfrageverhalten selbst verantwortlich, Versorgungssicherheit würde individualisiert. Die technischen Voraussetzungen dazu sind im Grundsatz gegeben – die zunehmende Digitalisierung der Energiewirtschaft und des gesamten Lebens macht vieles technisch möglich, was das Verhältnis von Stromverfügbarkeit und -bedarf in eine Balance bringt. Schon jetzt stehen große Datenmengen aus Erzeugung, Verteilung und Verbrauch zur Verfügung, die allerdings kaum genutzt werden. Das wird sich ändern: Leistungsfähige digitale Verarbeitungssysteme erlauben künftig exakte Auswertungen, Verknüpfungen und Erkenntnisse über Korrelationen.

Big Data im Strombereich hat zwei Folgen: Zum einen lassen sich nicht nur Erkenntnisse über das gewinnen, was war, sondern auch Prognosen erstellen, was sein wird. Die schwankende Stromerzeugung wird vorhersagbar. Zum anderen werden die Datensätze immer kleinteiliger. Abweichungen von sogenannten Standardlastprofilen, auf deren Grundlage das Verbrauchsverhalten von Haushalten vereinfacht berechnet wird, werden offenbar, und die Profile als solche werden obsolet. Das Energiesystem wird granularer, erwünschtes Verhalten lässt sich – so zumindest die Erwartung vieler Smart-meter- und Smart-home-Befürworter – bis auf die Ebene des Individuums hin fördern. Die exponentielle Zunahme von Messpunkten im "Internet der Dinge" beschleunigt diesen Trend.

Richtung und Dynamik

Auch wenn die EE-Anlagen im Vergleich zu den fossilen und nuklearen Großkraftwerken kleiner dimensioniert und trotz Bündelung in Wind- und Solarparks viel kleinräumiger verteilt sind, sind dezentrale Strukturen nicht notwendigerweise das Ergebnis ihres Ausbaus. Auch eine stärkere (Re-)Zentralisierung ist möglich, wie sie im Offshore-Windsektor ja bereits umgesetzt wird. Die Offshore-Windprojekte haben eine Leistung im hohen zweistelligen und sogar dreistelligen Megawattbereich und sind zudem weit von den Verbrauchsorten entfernt. Der Transport des Stroms muss daher wie in überkommenen fossilen Zeiten über neue beziehungsweise auszubauende Leitungen in die Verbrauchszentren transportiert werden.

Auch führen die Ausschreibungsverfahren für Onshore-Wind- und Solarparks zudem dazu, dass zum einen eher größere Einheiten angeboten werden und zum anderen sich finanz- und planungsstarke Anbieter überhaupt beteiligen. Sie sind im Gegensatz zu regionalen Energiegenossenschaften und kleinen Stadtwerken in der Lage, mehrere Angebote gleichzeitig zu stemmen und damit die Risiken der Ausschreibung zu verteilen. Bisher wird dieser Entwicklungspfad der (Re-)Zentralisierung von EE-Anlagen vor allem von Ökonomen befürwortet, die sich auf die günstigen Kosteneffekte von großskaligen Anlagen und Übertragungsnetzen berufen. Auch die Bundesregierung folgt diesen Annahmen. Alle EEG-Novellen der vergangenen Jahre zielten darauf ab.

Trotz aller Rhetorik von der "Akteursvielfalt" stehen die Zeichen auf Rezentralisierung, und selbst die Rekommunalisierung bedeutet meistens nichts anderes. Die (alten) professionellen Akteure im Energiemarkt sollen es richten, die Pioniere sind nicht mehr gefragt. Man kann diese Richtungsänderung der Energiewende zugleich als einen versuchten Rückgriff auf alte Identitäten und als Reaktion auf eine zunehmende Volatilität interpretieren. Dabei wurde der Ausbau der Solar- und Windenergie lange Zeit in erster Linie von Bürgerinnen und Bürgern vorangebracht und finanziert, und zwar nicht nur von den oft zitierten wohlhabenden Zahnärzten und cleveren Landwirten, sondern auch von vielen Energiegenossenschaften und ganz unterschiedlichen Beteiligungsgesellschaften. Ungefähr die Hälfte der Investitionen in EE-Anlagen wurde bisher von Bürgerinnen und Bürgern getätigt, davon ein großer Teil in wohnortnahe Projekte.

Der Richtungskampf im Transformationsprozess geht dennoch weiter. Das Spannungsverhältnis zwischen zentralen und dezentralen Anteilen im künftigen Energiesystem ist keineswegs geklärt. Das hat viel mit den Eigentümlichkeiten der Erneuerbaren zu tun. Die Grundidee des dezentralen Transformationsweges besteht darin, die regenerativen Energien mit der regionalen Ökonomie zu koppeln. Die zu prüfende Hypothese lautet: Die dezentrale, über regionale Marktplätze organisierte Energieversorgung und eine wichtigere Rolle der "Prosumenten" (Verbraucher, die aber auch lokal Strom erzeugen und einspeisen) birgt nicht nur wirtschaftliche, sondern auch ökologische und soziale Vorteile. Sie erhöht die Wertschöpfung vor Ort, vermeidet einen übermäßigen und von den Bürgern nicht gewollten Ausbau von Übertragungsnetzen, stärkt die regionale Identität und sichert auf Dauer die Akzeptanz des notwendigen weiteren Ausbaus von EE-Erzeugungsanlagen.

Darüber hinaus kann die Resilienz des Gesamtsystems steigen, wenn sich im Störfall regionale Teilnetze "einfach abnabeln" und damit Kettenreaktionen im übergeordneten Netz vermieden werden können. Das Leitbild der dezentralen Energiewende ist dabei nicht die regionale Autarkie. Da sich die Prosumenten sicher nicht automatisch "systemdienlich" verhalten, bedarf es wirksamer Regularien und Anreize. Das Ziel ist eine Balance von regionaler Eigenversorgung – inklusive eines entsprechenden Wertschöpfungsanteils für die Prosumenten, Netzbetreiber und Energiedienstleister – und einer kostengünstigen Energieversorgung auch für diejenigen, die keinen Strom produzieren. Im Zentrum steht ein robustes regionales Prosumentennetzwerk, also ein Netzwerk aus dezentralen Produzenten und Verbrauchern.

Genau das ist das "Gemeinschaftswerk Energiewende": Nur gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern kann es gelingen, auf Schuldächern, privaten Häusern, Fabrikhallen und Bauernhöfen genügend Energie aus Wind, Sonne und Biomasse umzuwandeln. Nahwärmeversorgung und verteilte Fahrzeugflotten – von Dienstwagenfuhrparks über Mietfahrzeugflotten bis zu Busbahnhöfen – sind die ersten Kandidaten für eine Integration in (kleine) smart grids. Sie lassen sich dezentral effizienter managen als zentral. Auch die Beteiligung von Nicht-Prosumenten wie Mietern und Dienstleistungsunternehmen ohne eigene Betriebsstätten lässt sich dezentral über Mieterstrommodelle organisieren. Mittel- und langfristig soll es zudem möglich sein, auch die Haushalte der Kommunen, Unternehmen und Bürger zu entlasten, weil die EE-Rendite ("Die Sonne schickt keine Rechnung") nicht von externen Investoren eingefahren wird.

Ohne Zweifel ist der Umbauprozess von heutigen zentralen Versorgungsstrukturen zu dezentralen und von vielen Beteiligten beeinflussten Infrastrukturen mit großen Unsicherheiten verbunden und Anlass für Konflikte. Beides ist nicht zu vermeiden, weil nur in einer "offenen Situation" die nötigen Innovationen entstehen können. Technische Innovationen, auch disruptive technische Konzepte wie die blockchain, die bisherige Techniken obsolet werden lassen, brauchen "Ergebnisoffenheit". Entwicklungssprünge in der Speichertechnik beispielsweise können ganz neue Möglichkeiten eröffnen, während unbeherrschbare Datensicherheitsprobleme in smart grids andere für sicher gehaltene Optionen verschließen. Dabei sind es nicht nur die Energietechniken im engeren Sinne, die mit dem Übergang zu den relativ jungen Erneuerbaren in teilweise hochdynamische Entwicklungsphasen eingetreten sind. Auch die Materialforschung und vor allem die Digitalisierung, also in erster Linie die Algorithmisierung von Steuerungs- und Kopplungsabläufen, die vorher entweder manuell oder gar nicht vorgenommen wurden, sind durch eine schubweise beschleunigte Entwicklung gekennzeichnet. Die Digitalisierung steht übrigens für die Dialektik des gesamten Transformationsprozesses der Energiewende: sie ist Treiber für mehr Volatilität und zugleich potenzielles Instrument, diese zu reduzieren.

Bisher nur Stromwende

Eine Wärme- und eine Verkehrswende stehen noch aus, gleichzeitig liegen in der Verknüpfung dieser beiden Sektoren mit dem Stromsektor – in der vielfach geforderten, sogenannten Sektorkopplung – erhebliche Synergiepotenziale. Der Grund dafür ist, dass der bei einem weiteren Ausbau der EE-Kapazitäten häufiger auftretende Überschussstrom in diesen Sektoren genutzt werden kann. Statt bei starkem Wind Windenergieanlagen abzuschalten oder an sonnigen Mittagen Photovoltaikanlagen vom Netz zu nehmen, kann der überschüssige Grünstrom durch "Power-to-X-Verfahren" in speicherbare Wärme beziehungsweise Gase umgewandelt oder in Fahrzeugbatterien gespeichert werden. In welchem Maßstab dies am kostengünstigsten zu machen ist, ist noch unklar. Möglichen Skaleneffekten durch großtechnische Prozesse stehen potenzielle Umwandlungsverluste und zu geringe Auslastungszeiten gegenüber. Der Grundkonflikt zwischen bisherigen zentralen und künftig möglichen dezentralen Erzeugungs- und Verbrauchsstrukturen könnte auch in der Sektorkopplung neu aufbrechen. Der Abgleich von Angebot und Nachfrage zwischen den traditionell getrennten Sektoren Strom, Wärme/Kälte und Verkehr auf der Basis ihrer Elektrifizierung findet bisher nicht statt. Dafür fehlen derzeit die (gesetzlichen) Rahmenbedingungen, die Geschäftsbedingungen und folglich auch die gewerblichen Akteure. Technisch ist jedoch viel mehr möglich als je zuvor.

Vor allem im Verkehr bieten sich mit der Digitalisierung viele auch die Umwelt und den städtischen Raum entlastende Nutzungsinnovationen an, da verschiedene elektrisch betriebene Verkehrsmittel mit geringen Transaktionskosten einfach und zuverlässig verknüpft werden können. Aufseiten der Nutzerinnen und Nutzer – gerade bei den digital sozialisierten jüngeren – ändert sich das Verkehrsverhalten grundlegend. Die Autoaffinität nimmt signifikant ab, Mobilitäts-Apps machen es vor allem in Städten attraktiv, den öffentlichen Verkehr und Carsharing oder öffentliche Leihfahrräder zu nutzen. Das Smartphone kann zum Generalschlüssel für eine intermodale Mobilität werden. Vermietflotten und Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrs sind wiederum für die Sektorkopplung von hohem Interesse, weil sie im Gegensatz zu den Ansprüchen privater Autonutzer dem Planungs- und Verwertungskalkül professioneller Flottenmanager unterliegen. Wirtschaftliche Anreize funktionieren im gewerblichen Verkehr besser als bei Privatnutzern. Lohnt es sich, richten Flottenmanager nicht nur ihre Ladeprozesse nach den Phasen von Überschussstrom im Netz aus, sie speisen auch umgekehrt nicht benötigten Strom zurück ins Netz, wenn er woanders gebraucht und entsprechend hoch vergütet wird.

Gleichzeitig gewinnen Speicher an Bedeutung, zunächst vor allem kleinere Speicher. Home storage units – auch in Form von E-Autos – können das bisherige energiewirtschaftliche Setting rasch umwerfen. Wieviel Eigenleistung und Prosuming die einzelnen Bürger und Haushalte in dieser dezentralen Energieausgleichswelt tatsächlich beitragen (wollen und können), ist eine empirisch offene Frage. Es ist nicht zu erwarten, dass das hohe Engagement der Pioniere der Energiewende auch beim Gros der Stromkunden zu finden ist. Allerdings können Dienstleister quasi stellvertretend die Rolle des Prosumenten übernehmen und beispielsweise das Optimum des Eigenverbrauchs in Abhängigkeit zur Erzeugungskapazität und zur Speichergröße ermitteln und unterstützende Softwarelösungen anbieten.

Fehlende Flexibilität

Das bisherige Marktdesign und die bisherigen Abschreibungsregeln passen nicht zu den schwankend einspeisenden erneuerbaren Energien. Sie sind ebenso wenig förderlich für die Konsolidierung der verschiedenen Flexibilitätsoptionen. Die Möglichkeiten, insgesamt zu mehr Flexibilität im Energiesystem zu kommen, sind vielfältig: Neben wirtschaftlich angereizten Verschiebungen der Nachfrage (demand side management), sind es vor allem die Speichervarianten, die dazu beitragen können – und werden. In allen Zukunftsprojektionen spielen Speicher eine zentrale Rolle: sowohl Kurzzeitspeicher in ihrer Funktion als Netz- und Spannungsstabilisatoren als auch mittel- und langfristige Speicher in tage-, wochen- und sogar monatelangen "Dunkelflauten". Während bei den Kurzzeitspeichern nicht zuletzt wegen des Aufbaus erheblicher zusätzlicher Produktionskapazitäten in den USA und in Asien schon in nächster Zeit mit erheblichen Kostenrückgängen zu rechnen ist, ist die Entwicklung von Langzeitspeichertechniken schwer einzuschätzen. Das gilt weniger für bekannte Techniken wie Wasser- und Druckluftspeicher, wo neben kritischen Auslastungsschwellen vor allem die Verfügbarkeit und Akzeptanz von Standorten Probleme sind. Unsicherer sind die Kosten und die Skalierbarkeit von künftigen Verfahren der Wasserstoffherstellung aus den erneuerbaren Energien. Es bedarf einer verstärkten Forschung und Forschungsförderung, um hier bei den Fragen der Elektrolyse, der Speicherung und des Transports von grünem Wasserstoff Antworten zu erhalten.

Erst in jüngster Zeit gerät – verstärkt durch den schleppenden Netzausbau – die Relevanz von Speichern für die Optimierung der Netze in den Fokus der energiepolitischen Diskussion. Dabei wird zurecht angemahnt, dass die Netzentgelte zeitlich und vor allem lastbezogen viel dynamischer sein müssen, um eine Anreizwirkung auf Anbieter der skizzierten Flexibilitätsoptionen ausüben zu können. Das gilt genauso für die anderen Preisbestandteile, die staatlich induziert sind – wie etwa die EEG-Umlage, die Stromsteuer und die sonstigen Umlagen. Zusammen machen sie annähernd 75 Prozent des Strompreises aus. Hier könnten Preissignale eingebaut werden, die verschiedene Flexibilitätsoptionen begünstigen. Der mögliche Vorteil liegt auf der Hand: Würden verschiedene Anpassungen von den Nutzern und den Netzbetreibern kombiniert, darunter eben der netzdienliche Eigenverbrauch, das gesteuerte Laden von E-Fahrzeugen oder auch die Integration von Regelleistung mithilfe von stationären Speichern, ließen sich signifikante "Netzreserven" mobilisieren.

Am Problem der fehlenden Anreize für Flexibilitätsoptionen wird das "Dilemma der Ungleichzeitigkeit" deutlich. Die Energiewende kann diesem offenbar nicht entkommen. Das gilt nicht nur für die fehlenden oder verspäteten Anpassungen der regulativen Rahmenbedingungen. Es gilt ebenso für das neue Verhältnis von Investitions- und Betriebskosten, das sich aus der Besonderheit der Erneuerbaren ergibt. Bei der Nutzung der Wind- und Sonnenenergie treten keine Kosten für Energieträger auf, und die Betriebskosten beschränken sich auf Wartung, Reinigung und Überwachung der Erzeugungsanlagen. Die traditionelle betriebswirtschaftliche Kostenstruktur und die bewährten Abschreibungsregeln sind gleichsam auf den Kopf gestellt. Auch volkswirtschaftlich sind die lange gültigen Relationen zwischen den verschiedenen Kostenbestandteilen obsolet. Kurz- bis mittelfristigen Investitionen stehen mittel- und langfristige Nutzen in Form von vermiedenen Folgekosten, reduzierten Importen, regionaler Wertschöpfung und neuen Arbeitsplätzen gegenüber.

Dieses Ungleichzeitigkeitsproblem wird absehbar gemildert, weil die Kosten für die Gewinnung von Strom (Gestehungskosten) aus Windenergie- und Photovoltaikanlagen in den vergangenen Jahren stark gesunken sind und aller Voraussicht nach weiter sinken werden. Das ändert aber nichts daran, dass infolge der zeitweisen Überförderung insbesondere der Photovoltaik in den Boomjahren 2010 bis 2012 ein "Förderrucksack" als fixer Bestandteil der EEG-Umlage mitgeschleppt werden muss. Die Vergütungsgarantien des EEG gelten für 20 Jahre und blähen somit die Umlage noch bis in die 2030er Jahre hinein auf – sie sind offenbar nur schwer loszuwerden. Als Ausweg aus dieser Förder-Ungleichzeitigkeit liegt seit einiger Zeit der Vorschlag auf dem Tisch, den Rucksack als Sondervermögen in einen staatlichen Fonds auszugliedern und damit nicht mehr den Stromverbrauchern aufzubürden. Ernsthaft verfolgt wird er jedoch nicht.

Schließlich besteht eine weitere Ungleichzeitigkeit hinsichtlich von Arbeitsplätzen und Beschäftigung. Zwar fallen infolge der Energiewende Arbeitsplätze in den alten Branchen weg, aber es entstehen auch neue Jobs in der Produktion und Installation von EE-Anlagen. Dienstleistungen rund um die Erneuerbaren erfordern qualifizierte Arbeitskräfte, die die Steuerung und Vermarktung grüner Energie übernehmen. Energieeinsparung als Geschäftsmodell sichert oder erhöht sogar die Beschäftigung im Handwerk. Selbst das Prosuming und die noch gar nicht begonnene Sektorkopplung brauchen innovative Dienstleister, nicht zuletzt Softwareentwickler und Ingenieure. Aber diese Umbrüche in der Beschäftigung passieren an verschiedenen Orten, sie sind mit unterschiedlichen Qualifikationen verbunden, und sie gehen auch mit gewandelten Arbeits- und Unternehmensformen einher. Viele Jobs in der EE-Branche sind schlecht bezahlt und weniger gut tariflich abgesichert. Der Anteil der selbstständigen Dienstleister ist hoch, die Fluktuation in vielen Betrieben höher als es viele Jahre in der hoch regulierten Energiebranche üblich war. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad ist schwächer, und außerdem droht die Digitalisierung, das Erfahrungswissen von Beschäftigten zu ersetzen und Betriebsabläufe zunehmend zu automatisieren. Kurzum: Es gibt auch und nicht zuletzt bei den Arbeitsplätzen Verlierer und Gewinner der Energiewende.

Mit Unsicherheit leben

Das Dilemma der Ungleichzeitigkeit verschränkt sich mit der insgesamt nach wie vor hohen generellen Akzeptanz und Unterstützung der Energiewende durch die Bürgerinnen und Bürger. Generell ist die Zustimmung hoch – je näher aber konkrete Energieprojekte in das eigene Umfeld rücken, desto wahrscheinlicher wird die Ablehnung ("not in my backyard"). In vielen Regionen ist in den nächsten Jahrzehnten eine stabile Akzeptanz jedoch eine notwendige Voraussetzung für einen weiteren Aus- und Neubau von EE-Projekten und für den teilweisen nicht zu vermeidenden Netzausbau. Das trifft vor allem auf die Onshore-Windenergieanlagen zu. Denn es werden zwar alte Anlagen im Zuge des Repowerings durch leistungsfähige neue Anlagen ersetzt, aber zugleich müssen zusätzliche Windturbinen installiert werden – und zwar in einer Größenordnung, die ein Mehrfaches der bereits installierten Leistung von etwa 45 Gigawatt darstellt. Diese Anlagen werden dann in der Regel so hoch sein wie der Kölner Dom; je höher der Wind "geerntet" werden kann, desto mehr lohnt sich die Investition. Auf Dauer werden die Menschen, die in der Nähe dieser Windparks leben, davon etwas haben müssen. Günstiger Strombezug für die Anrainer und nennenswerte Steuereinnahmen in den betroffenen Gemeinden sind das Mindeste. Sie werden eine frühe und umfassende Beteiligung in der Projektplanung und auch die Chance auf eine materielle Beteiligung an den Gewinnen der Energieanlagen erwarten.

Vor diesem Hintergrund einer nicht selbstverständlichen, aber unverzichtbaren breiten Akzeptanz wird die Frage nach den Akteuren der Energiewende dringlich. Da gibt es zum einen die Kommunen, die dabei in verschiedenen Rollen agieren. Viele Kommunen beschließen ehrgeizige Klimaschutzpläne und treiben damit die Energiewende aktiv und dezentral voran. Sie können beispielsweise Energieeinsparungen von öffentlichen Gebäuden forcieren, den öffentlichen Personennahverkehr fördern oder durch eine Privilegierung der Elektromobilität CO2-freie Innenstädte schaffen. Das ist mit Konflikten und zudem mit Investitionen verbunden. Zugleich sind die wirtschaftlichen Chancen für Kommunen gerade in der dezentralen Energiewende groß: Neben einer direkten Wertschöpfung und zusätzlichen Arbeitsplätzen, die beispielsweise durch neue Unternehmen im Bereich der erneuerbaren Energien entstehen, können auch indirekte Wertschöpfungseffekte generiert werden.

Die Früchte einer auf dezentralen erneuerbaren Quellen beruhenden Energieversorgung können vor Ort geerntet werden, wenn diese eben auch vor Ort organisiert und bewirtschaftet wird. Örtliche Stadtwerke sind daher im Grunde die geborenen Promotoren der dezentralen Energiewende. Sie brauchen aber das nötige Know-how, genügend unternehmerische Freiheit und eine ambitionierte Führung.

Das zeigen die erfolgreichen Beispiele wie Schwäbisch Hall, Wolfhagen oder Steinfurt. In Schwäbisch Hall wurde bereits vor 20 Jahren auf Kraft-Wärme-Kopplung und erneuerbare Energien gesetzt; damit waren die dortigen Stadtwerke im wörtlichen Sinne Pioniere unter den kommunalen Energieunternehmen. Ebenfalls ein Vorreiter ist die nordhesssische Gemeinde Wolfhagen, wo sich die Bürgerenergiegenossenschaft mit 25 Prozent an den örtlichen Stadtwerken beteiligt hat. Die Stadtwerke ihrerseits erzeugen bereits seit Jahren – bezogen auf die Jahresbilanz – mehr erneuerbaren Strom als ihre Kunden verbrauchen. Im Landkreis Steinfurt bemühen sich ebenfalls Bürgerenergiegenossenschaften, die Stadtwerke und nicht zuletzt die Landkreisverwaltung bereits um eine regionale Umsetzung der sogenannten Sektorkopplung.

Zum anderen ist die Zivilgesellschaft in vielen Regionen, in denen die Transformation des Energiesystems schon große Fortschritte gemacht hat, ein wichtiger Akteur. Oft sind es Bürgerenergiegenossenschaften, die EE-Anlagen betreiben und sich mit anderen wichtigen Energiethemen wie der Bewirtschaftung des Verteilnetzes oder potenziellen Speichern beschäftigen. Manchmal arbeiten Energiegenossenschaften auch mit den örtlichen Stadtwerken zusammen.

Im günstigen Fall, mit viel Engagement von Bürgerinnen und Bürgern und unter Einsatz kluger Kommunalpolitik, können viele von der dezentralen Energiewende profitieren. Dennoch wird sie immer mit Unsicherheit verbunden sein. Die volatile Eigenart der erneuerbaren Energien, die Vielfalt der Beteiligten und die Komplexität von Prosuming, die Sektorkopplung und damit die Kombination mehrerer Flexibilitätsoptionen bedeuten einen gehörigen Rest an Unkalkulierbarkeit. Das ist der Preis der dezentralen Freiheit und Unabhängigkeit. Da helfen nur Gelassenheit und Experimentierfreude.

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ist habilitierter Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Seit 2013 ist er zudem Sprecher des Leibniz-Forschungsverbundes Energiewende. E-Mail Link: weert.canzler@wzb.eu