Eine Geschichte der Obdachlosigkeit im 19. und 20. Jahrhundert
Obdachlose, hier definiert als Menschen, die im Freien schlafen oder zeitweise in Obdachloseneinrichtungen unterkommen müssen, gab es schon immer. Wie aber ihr Alltag aussah und wie die Gesellschaft mit ihnen umging, unterschied sich je nach historischem Kontext. In diesem Beitrag betrachte ich mit dem späten 19. und dem 20. Jahrhundert einen Zeitraum in Deutschland, in dem der Sozialstaat expandierte und zahlreiche Einrichtungen für obdachlose Menschen initiiert wurden, Obdachlosigkeit aber dennoch weiterbestand. Zugleich kamen in der Hilfe für Obdachlose häufig stigmatisierende Vorstellungen zum Ausdruck, die in der Mehrheitsgesellschaft vorhanden oder erst in Fürsorgeeinrichtungen entstanden waren. Exkludierende Praktiken waren oftmals die Folge – zugespitzt in der Zeit des Nationalsozialismus, in der eine große Zahl von Obdachlosen zwangssterilisiert sowie in Konzentrationslager gebracht wurde und dort starb.[1]Dennoch wäre es zu kurz gedacht, eine Geschichte der Obdachlosigkeit im Zeitalter des Wohlfahrtsstaates als eine alleinige Ausgrenzungsgeschichte zu schreiben. Eine solche Erzählung würde mindestens zwei zentrale Aspekte übersehen: zum einen die mögliche Integration von Obdachlosen in die Gesellschaft,[2] zum anderen die Handlungen der Betroffenen selbst. Ich berücksichtige aber auch Machtverhältnisse, in denen Obdachlose sehr begrenzte Handlungsspielräume hatten, ebenso wie soziale Entwicklungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Wandel und Kontinuitäten in der Geschichte der Obdachlosen werde ich jeweils aus fünf Blickwinkeln untersuchen: erstens, wer und wie viele Menschen obdachlos gewesen sind; zweitens, welche Ursachen Obdachlosigkeit hatte, um die gesellschaftlichen Kontexte und damit die zeitspezifische Problemlage der Obdachlosen herauszuarbeiten; drittens, mit welchen Bezeichnungen obdachlose Menschen belegt wurden, da sie Aufschluss über gesellschaftliche Vorstellungen von Obdachlosigkeit geben; viertens, wie sich das Wechselspiel von Regulierung, Repression und Angeboten mit teilweise inkludierendem Charakter gestaltete und fünftens, wie Obdachlose handelten, eher Hilfe annehmend oder widerständig.
Obdachlosigkeit im Kaiserreich
Im späten 19. Jahrhundert avancierte Obdachlosigkeit zum Massenphänomen. Davon besonders betroffen waren exmittierte, das heißt aus ihren Wohnungen ausgesetzte Familien in größeren Städten, mittel- und arbeitslose Männer aus ländlichen wie städtischen Regionen sowie aus ihren Stellungen entlassene Dienstmädchen. Die Anzahl obdachloser Menschen lag zeitweise höher als unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.[3]Woran lag das? Sozioökonomische Entwicklungen waren hier ebenso prägend wie einschneidende Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt. Mit der Durchsetzung der Lohnarbeit ohne soziale Absicherung erhöhte sich die Anzahl der Obdachlosen im Vergleich zu der Zeit vor der Industrialisierung. Viele Menschen zogen auf der Suche nach Erwerbstätigkeit vom Land in die industriellen Ballungszentren, wo es ihnen aber nicht immer gelang, Arbeit und eine finanzierbare Unterkunft zu finden.[4] Konjunkturschwankungen, intensiviert durch die Gründerkrise, erschwerten die Arbeitssuche zusätzlich. Bereits zur Zeit der Reichsgründung wiesen große und mittlere Städte zudem einen Mangel an Kleinwohnungen auf, der sich in weiteren Hochphasen der Wohnungsnot in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre sowie um die Jahrhundertwende immer wieder verschärfte.[5]
Obgleich die von Obdachlosigkeit betroffenen Gruppen im Kaiserreich äußerst heterogen waren, existierten Differenzierungen. Alleinstehende männliche Obdachlose wurden häufig als "arbeitsscheue" "Vagabunden", "Wanderer", "Stromer" oder "Landstreicher" bezeichnet, während man alleinstehende obdachlose Frauen und Mädchen mit dem Adjektiv "gefallen" versah, womit die Unterstellung einherging, sie würden als Prostituierte arbeiten. Beide Begriffsgruppen verband die Verknüpfung mit Arbeit im negativen Sinne. Unterstellten Fürsorgeverantwortliche und mit ihnen eine breite Öffentlichkeit den Frauen und Mädchen, eine normabweichende Arbeit auszuüben, setzten sich alleinstehende Männer dem Vorwurf aus, Arbeit zu verweigern und stattdessen zu betteln. Die Erziehung zur Arbeit stellte von daher ebenso ein strukturbildendes Element der Einrichtungen für Obdachlose dar, wie auch die verschiedenen Bezeichnungen die Angebote gliederten.
Wer über keine finanziellen Mittel verfügte, war auf den Polizeigewahrsam oder das Arbeitshaus angewiesen. An beide Institutionen konnten sich Obdachlose entweder freiwillig wenden, was in Phasen der Wohnungsnot auch mehrheitlich der Fall war, oder aber sie wurden dorthin zwangsüberwiesen. Obdachlosigkeit und Landstreicherei galten als Straftatbestände und konnten mit Gefängnis und/oder Arbeitshauseinweisung geahndet werden.[6] Während der Polizeigewahrsam nur für eine Nacht Unterkunft auf einer Holzbank ohne Lehne in einem Raum mit vielen anderen Menschen gewährte,[7] bot das Arbeitshaus für eine längere Zeit Unterkunft, allerdings gepaart mit schwerer und streng überwachter Arbeit, schmaler Kost sowie ohne eigene Entscheidungsmöglichkeit über den Austritt aus der Einrichtung.[8]