"Von Freunden umzingelt" war gestern
Deutschlands schwindende Sicherheit
"Deutschland war noch nie so wohlhabend, so sicher und so frei wie heute." Mit diesem Satz begann 2013 eine Studie zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die Politikempfehlungen "für eine Welt im Umbruch" einschloss.[1] Fünf Jahre später mag der Wohlstand der Deutschen im europäischen und internationalen Vergleich nach wie vor herausragen, und auch ihr Maß an Freiheit mag sich noch immer auf einem historisch beneidenswerten Niveau befinden. Sicher wie nie zuvor fühlen sich die Deutschen im Sommer 2018 allerdings gewiss nicht. Im Gegenteil, Deutschlands Sicherheit ist heute so prekär wie seit Langem nicht, die Hochphasen des Ost-West-Konflikts eingeschlossen. Die ironische Lagebeschreibung von Verteidigungsminister Volker Rühe aus den 1990er Jahren, dass Deutschland "von Freunden umzingelt" sei,[2] käme der gegenwärtigen Amtsinhaberin Ursula von der Leyen gewiss nicht mehr über die Lippen.Im Folgenden werde ich argumentieren, dass der anhaltende weltpolitische "Umbruch" der vergangenen Jahre Deutschland sogar mehr erschüttert als viele andere Staaten – und zwar auch deshalb, weil Deutschland von der sich nach 1990 zunächst herausbildenden "neuen Weltordnung" weit mehr profitiert hat als andere. Umso einschneidender erscheint die Zäsur, die im Zeitraum zwischen der Annexion der Krim durch Russland im März 2014 und dem jüngsten Besuch von US-Präsident Donald Trump in Europa im Juli 2018 die Grundpfeiler bundesdeutscher Außen- und Sicherheitspolitik ins Wanken brachte: die "Westbindung" mit europäischer Integration und NATO-Mitgliedschaft sowie die auf Entspannung mit der Sowjetunion beziehungsweise Russland setzende "Ostpolitik".[3] In der Folge sieht sich Deutschland derzeit mit höchst widersprüchlichen Rollenzuschreibungen und Erwartungen konfrontiert.
Ob und wenn ja wie sich diese Spannungen aufheben lassen, ist derzeit schwer absehbar, weil zu viele Parameter im Fluss sind. Sicher erscheint allerdings, dass in den kommenden Jahren Anpassungen deutscher Sicherheitspolitik im Sinne eines "Kurswechsels" erforderlich sein werden,[4] die mit den strategischen Weichenstellungen deutscher Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar sind. Eine neuartige Erfahrung wird dabei sein, dass sich die Bundesrepublik nicht mehr automatisch auf die institutionellen Fixpunkte NATO und EU oder die Führungsleistungen zentraler Verbündeter wie die USA oder Frankreich verlassen kann, die der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in den vergangenen Jahrzehnten Orientierung und Entlastung lieferten. Vielmehr wird europäische Sicherheit mehr denn je davon abhängen, wie Deutschland selbst seine sicherheitspolitische Rolle definiert. Die dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger zugeschriebene Aussage, dass Deutschland "zu groß für Europa und zu klein für die Welt" sei, gewinnt vor diesem Hintergrund auch deshalb neue Aktualität, weil mehr denn je ungewiss ist, wie der vom Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger gewiesene "Ausweg" – "Nur mit Europa sind wir groß genug für die Welt und gleichzeitig nicht mehr zu groß für Europa"[5] – konkret gehbar ist.
Da die deutsche Geschichte instruktive Beispiele unterschiedlicher sicherheitspolitischer Rollen Deutschlands liefert, lohnt es, diese in Erinnerung zu rufen, um den Blick für die Probleme zu schärfen, die sich Deutschland gegenwärtig stellen. Denn diese Beispiele lassen die Anforderungen an eine reflexive deutsche Sicherheitspolitik,[6] die die Sicherheit anderer Staaten mitdenkt, klarer hervortreten.