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Verklärte Weltordnung | Internationale Sicherheit | bpb.de

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Verklärte Weltordnung

Ali Wyne

/ 9 Minuten zu lesen

Lange vor der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016 sorgten sich viele bereits um die liberale Weltordnung. Die Rezession von 2008/09 hatte das Vertrauen in die Kompetenz der USA als gesamtwirtschaftliche Führungskraft und in ihren "Gesundheitszustand" als demokratisches Gemeinwesen untergraben, und es galt als geradezu selbstverständlich, dass ein staatszentriertes, auf die Verhinderung eines Dritten Weltkrieges ausgerichtetes internationales Institutionengefüge immer weniger geeignet war, kollektives Handeln angesichts überstaatlicher Probleme zu kanalisieren und dabei auch nichtstaatliche Akteure einzubeziehen. Im Wesentlichen konzentrierte sich die Diskussion jedoch auf die Verschiebungen in den globalen Kräfteverhältnissen – wie neue Machtzentren stärker eingebunden werden könnten; wie sich die Attraktivität westlicher Werte und Institutionen aufrechterhalten ließe; wie man Rahmenbedingungen schaffen könnte, die stärker auf flexible Bündnisse zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren bauen, um drängende Tagesfragen anzugehen; und dergleichen mehr.

Kaum ein Beobachter ging davon aus, dass die größte Zerreißprobe der Weltordnung von ihrem Hauptarchitekten, den Vereinigten Staaten, verursacht werden könnte – schließlich stoßen in Washington wenige Mahnungen auf eine so breite Zustimmung wie die, dass die liberale Weltordnung aufrechterhalten werden muss. Je einleuchtender eine These scheint, desto weniger Zeit wird investiert, um für sie zu werben und auf Kritik zu reagieren – und diese gab es auch in den USA schon vor Trumps Amtsantritt.

So wurde und wird etwa häufig kritisiert, der Begriff "liberale Weltordnung" sei nicht klar definiert. Blickt man auf seine einzelnen Bestandteile, so dämmert tatsächlich rasch: Diese Ordnung hat nicht ausschließlich aufklärerisch gewirkt im Sinne einer globalen Entfaltung von Demokratie beziehungsweise von fairen, weltweit geltenden Spielregeln. Oft genug verbargen sich zynische, eigennützige Überlegungen hinter dem Handeln der Führungsmächte. Auch einheitlich und allumfassend war die "Welt"-Ordnung nie. Zwar hat sie globale Auswirkungen, doch ist ihre Struktur insofern begrenzt, als sie für die Durchsetzung der Interessen westlicher Mächte konzipiert wurde, allen voran der USA. So ist sie letzten Endes eher als die US-geführte Nachkriegsordnung zu verstehen. Und schließlich war die "Ordnung" nicht immer stabil und berechenbar. Zwar ließ das Gleichgewicht des Schreckens während des Kalten Krieges diesen Eindruck entstehen, tatsächlich aber prägten Gewalt, Dekolonisationsbewegungen und ideologischer Wettstreit die Welt in diesen 45 Jahren.

Ein häufiger Einwand ist auch, dass sich das Engagement der USA in der Welt vom wirtschaftlichen Wohlstand einer wachsenden Gruppe von Amerikanern abgekoppelt habe. In der Tat geht die Schere zwischen Arm und Reich in den USA immer weiter auseinander: Während 1970 noch 68 Prozent des Einkommens auf die ärmeren 90 Prozent der Bevölkerung entfielen, ist dieser Anteil bis 2012 auf 49 Prozent zurückgegangen. "Während der Zeit, in der die Sowjetunion als Schreckgespenst fungierte, stellten US-Wähler den Entscheidungsträgern einen Blankoscheck für die nationale Sicherheit aus, der durch das Wachstum in der Nachkriegszeit finanziert wurde. Doch diese Phase ist zu Ende, und heute hat keine diplomatische Lösung oder strategische Initiative Aussicht auf Erfolg, wenn ihr Kernziel sich nicht an den Folgen ausrichtet, die sie für gewöhnliche Amerikaner haben wird." Befürworter der Nachkriegsordnung können nicht mehr "das verbreitete und berechtigte Gefühl ignorieren, dass sich der Internationalismus für gewöhnliche Amerikaner nicht auszahlt".

Ein weiterer Kritikpunkt lautet, der vielleicht sichtbarste Ausdruck US-amerikanischen Engagements im Ausland, nämlich der Einsatz militärischer Gewalt im Zeichen der liberalen Weltordnung, habe im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte dürftige Ergebnisse geliefert. Tatsächlich währt der Krieg in Afghanistan nun bald 17 Jahre, ohne dass ein Ende in Sicht wäre; die Taliban haben so viel Territorium unter ihrer Kontrolle wie seit 2001 nicht mehr. Derweil jährte sich der Krieg im Irak 2018 zum 15. Mal, aus dem der sogenannte Islamische Staat (IS) hervorgegangen ist, der im gesamten Mittleren Osten und zunehmend auch außerhalb der Region Chaos verursacht. Etwa sieben Jahre nach dem von den USA geförderten Sturz Muammar al-Gaddafis ist Libyen zu einer Brutstätte sowohl für den IS als auch für al-Qaida geworden. Daher überrascht es nicht, dass jüngere Amerikaner "den Einsatz militärischer Gewalt, Verteidigungsausgaben sowie andere Formen von militantem Internationalismus signifikant weniger befürworten".

Im Lichte allein dieser ausgewählten Kritikpunkte zu behaupten, Donald Trumps Politik verursache die Erosion der Nachkriegsordnung, hieße sowohl den Grad ihrer früheren Einheit überzubewerten als auch die Faktoren zu unterschätzen, die sie bereits vor seinem Amtsantritt schwächten.

Washingtons Entscheidung

Allerdings ist zugleich nicht zu unterschätzen, inwiefern Trumps Handeln die Schwächung der Nachkriegsordnung beschleunigt, sei es durch den Rückzug aus zentralen multilateralen Vereinbarungen wie der Transpazifischen Partnerschaft, dem Pariser Klimaabkommen oder dem Atomabkommen mit Iran, sei es durch Belegung traditioneller Verbündeter mit Strafzöllen, sei es durch Nachlassen im US-amerikanischen Engagement für die NATO, die EU und im weiteren Sinne für das transatlantische Projekt.

Zwar wirft Trump wichtige Fragen mit Blick auf die Rolle der USA in der Nachkriegsordnung auf. Doch statt einer umsichtigen Neukalibrierung bewirkt seine Außenpolitik offenkundig eher ihre beschleunigte Erosion – "Wut und Verblendung können in einer halben Stunde mehr niederreißen, als Klugheit, Überlegung und weise Voraussicht in hundert Jahren aufzubauen imstande sind", mahnte schon der Philosoph Edmund Burke. Sorglosigkeit angesichts der derzeitigen Lage ist also ebenso unangebracht wie eine Verklärung der liberalen Weltordnung.

Daher gilt es, "eine Außenpolitik der Zukunft auszuarbeiten, die eine Verbesserung dessen darstellt, was Herrn Trumps Wahl vorausging, sowie Amerikas Interessen nicht einer abstrakten ‚Ordnung‘ zu opfern". Denn nicht zuletzt angesichts der besorgniserregenden finanzpolitischen Aussichten werden die Vereinigten Staaten das derzeit herrschende globale Gleichgewicht nicht ewig bewahren können. Sie werden strenger unterscheiden müssen zwischen "Herzstück" und "Peripherie" der Weltordnung, denn wenn in jedes Einsatzgebiet investiert werden und jede Krise mit dem gleichen Nachdruck angegangen werden soll, ist eine strategische Außenpolitik unmöglich. Sie werden aufstrebenden Mächten den Raum für ernsthaftere Anpassungen gewähren und dabei entscheiden müssen, ob sie ihrem zentralen Einfluss innerhalb der gegenwärtigen Ordnung oder aber der konsequenten Modernisierung eben dieser Ordnung größere Priorität einräumen, und gleichzeitig sicherstellen, dass das US-Engagement in der Welt wieder den materiellen Wohlstand eines Großteils der Amerikaner befördert.

Drohkulisse "neuer Kalter Krieg"

Steuert die Welt also zurück in die Zwischenkriegszeit, als revisionistische Bestrebungen Länder wie Japan und Deutschland militärisch und ideologisch prägten? Dieser Schluss wäre verfrüht. Denn "im Gegensatz zu den 1930er Jahren gibt es immerhin noch eine Weltordnung zu verteidigen". Zudem haben die vergangenen 70 Jahre eine Reihe an multilateralen Institutionen und Wertschöpfungsketten hervorgebracht, die das Schicksal von Ländern weit enger miteinander verknüpfen als je zuvor.

Ist die Welt angesichts des sich verschärfenden Wettstreits zwischen den Großmächten also eher in einen neuen Kalten Krieg eingetreten? Auch dieser Schluss ist unzutreffend. Denn zwischen der Zeit der Blockkonfrontation zwischen USA und Sowjetunion und der gegenwärtigen Weltpolitik bestehen erhebliche Unterschiede.

Erstens hatten die USA in dieser Zeit mit der Sowjetunion einen einzigen übergeordneten Kontrahenten. Heute haben es die Vereinigten Staaten in China mit einem Respekt einflößenden langfristigen Konkurrenten zu tun, in Russland mit einem geschickten, kurzfristigen Spielverderber, zudem mit einer sich weiter entwickelnden terroristischen Bedrohung und einem zunehmend bedrohlichen Nordkorea. Dennoch eignet sich, anders als die Blockkonfrontation, keine dieser Herausforderungen dazu, für ein gemeinsames nationales Ziel zu mobilisieren.

Zweitens stuften die USA die Sowjetunion als Gegner ein und betrieben eine Eindämmungspolitik, die acht präsidiale Amtszeiten prägte. Heute ist unklar, wo die USA China auf dem Kontinuum zwischen Verbündetem und Gegner verorten und welche Politik sie gegenüber ihrem mutmaßlichen Nachfolger als Supermacht einschlagen sollen.

Drittens beherrschten während des Ost-West-Konflikts die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion jeweils einen Block ideologisch in Linie gebrachter Länder. Gegenwärtig gibt es wenn überhaupt wenige solcher Blöcke. Stattdessen taktieren kleinere Länder zunehmend, um vom Wettstreit der Großmächte zu profitieren.

Viertens stellte der Kalte Krieg einen Wettstreit zwischen zwei klar definierten Ideologien dar. Obschon der Liberalismus heute einiges von seinem Glanz verloren hat, zeichnet sich kein eindeutiges konkurrenzfähiges Modell ab.

Fünftens bestimmten der ideologische Konflikt und Rüstungswettläufe Merkmale der Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion. Heute gründen sich die Beziehungen zwischen den USA und China weit stärker auf wirtschaftlichen Wettbewerb und technologische Innovation.

Sechstens lieferte die Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion ein Prisma, durch das sich fast ein halbes Jahrhundert lang das Weltgeschehen betrachten ließ. Ein vergleichbares Gefüge gibt es heute nicht, wie angesichts der fortschreitenden Erosion der Nachkriegsordnung immer offensichtlicher wird.

Siebtens war der Kalte Krieg seiner scheinbaren Stabilität zum Trotz eine außerordentlich brutale Phase der Menschheitsgeschichte: Mehrere zehn Millionen Menschen starben im Zuge von kriegsbezogener Gewalt. Anders als die aktuell zunehmende Un-Ordnung vermuten lässt, ist die Welt heute weit weniger gewalttätig.

Gerade der letzte Punkt ist einer der zentralen Gründe, die jegliche Nostalgie mit Blick auf die Zeit des Kalten Krieges unangebracht erscheinen lassen: "Die Zahl bewaffnet ausgetragener politischer Konflikte hat bis 2014 über Jahrzehnte hinweg abgenommen, bei zwischenstaatlichen Kriegen seit Ende der 1960er Jahre, bei innerstaatlichen Konflikten seit Mitte der 1990er Jahre." Dafür gibt es von wachsender "Kriegsaversion" bis zu grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Verflechtungen eine Reihe von Erklärungsansätzen. Doch sind diese Tendenzen möglicherweise weniger ein Selbstläufer als eine glückliche Ausnahme. Wie die Historikerin Margaret MacMillan mahnt, ist menschliche Torheit eine dauerhafte Erscheinung. Daher sei es unangebracht, zu unterstellen, "die friedlichen Regionen der Welt seien besonders tugendhaft oder stünden für einen klaren Trend, dass die Menschheit vom Krieg abrücke. Wir bekämpfen einander schon seit sehr langer Zeit – soweit bekannt schon von dem Moment an, als wir begannen uns zu organisieren und als Ackerbau Treibende sesshaft zu werden."

In der Tat deutet vieles darauf hin, dass auf der Welt immer zerstörerischere Waffen hergestellt werden und auch in Zukunft in ihre Entwicklung investiert wird. So ist zwar die Anzahl der Nuklearsprengköpfe weltweit seit 1986 um 80 Prozent zurückgegangen. Aber "der überwältigende Teil dieser Reduzierung fand in den 1990er Jahren statt. Zudem (…) sind die heutigen Arsenale weitaus leistungsfähiger. Das Tempo der Abrüstung hat sich signifikant verlangsamt. Statt atomare Abrüstung zu planen, haben die über Nuklearwaffen verfügenden Staaten vor, auf unbestimmte Zeit große Nuklearwaffenarsenale beizubehalten." Derweil gerät auch das "Gleichgewicht des Schreckens", das die nuklearen Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion fast ein halbes Jahrhundert lang geprägt hat, unter Druck. "Neu entstehende militärische Möglichkeiten – Cyber, Weltraum, Raketenabwehr, Langstreckenwaffensysteme und (alles durchdringende) autonome Systeme – verstärken die mit strategischer Stabilität verbundenen Ungewissheiten und führen möglicherweise dazu, dass sich die Rüstungsspirale wieder dreht."

Fazit

Die Erosion der Nachkriegsordnung setzt sich fort, ohne dass sich eine klare Alternative abzeichnet. Der Reflex, Vergleiche anzustellen, wenn wir mit Ungewissheit konfrontiert werden, ist fest in uns verankert. Die gegenwärtige Un-Ordnung aber durch die Brille des Kalten Krieges betrachten zu wollen, ist unangebracht: Eine Strategie, die darauf ausgelegt war, einem einzelnen Widersacher entgegenzuwirken, dürfte von nur geringem Wert sein, wenn es darum geht, ein Spektrum geografisch und thematisch diffuser Herausforderungen anzugehen, vor allem angesichts der bedeutenden Rolle nichtstaatlicher Akteure und von Informationstechnologien bei der Festlegung politischer Prioritäten. Kein Geringerer als George Kennan, Architekt der Eindämmungspolitik, warnte 1994 in der "New York Times", die US-Außenpolitik nach dem Kalten Krieg gerate auf Abwege, wenn sie darauf ziele, eine "in hohem Maße unstete und instabile Welt" mithilfe eines Nachfolgemodells ihrer "Fixierung auf die Sowjetunion" zu erfassen.

Die unbequeme Wahrheit ist, dass es wenig Rat für das Navigieren durch das derzeit unsichere Fahrwasser gibt. In der Geschichte hat es häufig umwälzender Ereignisse bedurft, um neue Epochen geopolitischer Ordnung einzuleiten – der Dreißigjährige Krieg, die Französischen Revolutions- und Napoleonischen Kriege sowie die beiden Weltkriege. Bleibt zu hoffen, dass die Nachkriegsordnung stattdessen durch weitblickende Staatskunst mit neuem Leben erfüllt wird.

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Peter Beyer, Bonn.

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ist Politikanalytiker bei der Denkfabrik RAND Corporation. E-Mail Link: awyne@rand.org