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Internationale Sicherheit Editorial Weltordnung vor dem Zerfall? Ende der Gewissheiten Verklärte Weltordnung UN ohne Ordnung. Vereinte Nationen und globale Sicherheit Schwieriges Selbstständigwerden. Zum Wandel der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen und den Konsequenzen für Europa "Von Freunden umzingelt" war gestern. Deutschlands schwindende Sicherheit ABC-waffenfreie Welt? Stand und Perspektiven von Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung Sanktionen in den internationalen Beziehungen. Werdegang, Wirkung, Wirksamkeit und Wissensstand Wo sind sie geblieben? Zur heutigen Relevanz der Theorien der internationalen Beziehungen

"Von Freunden umzingelt" war gestern Deutschlands schwindende Sicherheit

Gunther Hellmann

/ 15 Minuten zu lesen

Deutschlands Sicherheit wurde seit 2014 als Folge der Erschütterung dreier Stützpfeiler deutscher Außenpolitik entscheidend geschwächt. Offensichtliche Auswege über eine Stärkung der EU als Sicherheitsakteur unter deutscher Mit-Führung sind jedoch heikel.

"Deutschland war noch nie so wohlhabend, so sicher und so frei wie heute." Mit diesem Satz begann 2013 eine Studie zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die Politikempfehlungen "für eine Welt im Umbruch" einschloss. Fünf Jahre später mag der Wohlstand der Deutschen im europäischen und internationalen Vergleich nach wie vor herausragen, und auch ihr Maß an Freiheit mag sich noch immer auf einem historisch beneidenswerten Niveau befinden. Sicher wie nie zuvor fühlen sich die Deutschen im Sommer 2018 allerdings gewiss nicht. Im Gegenteil, Deutschlands Sicherheit ist heute so prekär wie seit Langem nicht, die Hochphasen des Ost-West-Konflikts eingeschlossen. Die ironische Lagebeschreibung von Verteidigungsminister Volker Rühe aus den 1990er Jahren, dass Deutschland "von Freunden umzingelt" sei, käme der gegenwärtigen Amtsinhaberin Ursula von der Leyen gewiss nicht mehr über die Lippen.

Im Folgenden werde ich argumentieren, dass der anhaltende weltpolitische "Umbruch" der vergangenen Jahre Deutschland sogar mehr erschüttert als viele andere Staaten – und zwar auch deshalb, weil Deutschland von der sich nach 1990 zunächst herausbildenden "neuen Weltordnung" weit mehr profitiert hat als andere. Umso einschneidender erscheint die Zäsur, die im Zeitraum zwischen der Annexion der Krim durch Russland im März 2014 und dem jüngsten Besuch von US-Präsident Donald Trump in Europa im Juli 2018 die Grundpfeiler bundesdeutscher Außen- und Sicherheitspolitik ins Wanken brachte: die "Westbindung" mit europäischer Integration und NATO-Mitgliedschaft sowie die auf Entspannung mit der Sowjetunion beziehungsweise Russland setzende "Ostpolitik". In der Folge sieht sich Deutschland derzeit mit höchst widersprüchlichen Rollenzuschreibungen und Erwartungen konfrontiert.

Ob und wenn ja wie sich diese Spannungen aufheben lassen, ist derzeit schwer absehbar, weil zu viele Parameter im Fluss sind. Sicher erscheint allerdings, dass in den kommenden Jahren Anpassungen deutscher Sicherheitspolitik im Sinne eines "Kurswechsels" erforderlich sein werden, die mit den strategischen Weichenstellungen deutscher Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar sind. Eine neuartige Erfahrung wird dabei sein, dass sich die Bundesrepublik nicht mehr automatisch auf die institutionellen Fixpunkte NATO und EU oder die Führungsleistungen zentraler Verbündeter wie die USA oder Frankreich verlassen kann, die der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in den vergangenen Jahrzehnten Orientierung und Entlastung lieferten. Vielmehr wird europäische Sicherheit mehr denn je davon abhängen, wie Deutschland selbst seine sicherheitspolitische Rolle definiert. Die dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger zugeschriebene Aussage, dass Deutschland "zu groß für Europa und zu klein für die Welt" sei, gewinnt vor diesem Hintergrund auch deshalb neue Aktualität, weil mehr denn je ungewiss ist, wie der vom Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger gewiesene "Ausweg" – "Nur mit Europa sind wir groß genug für die Welt und gleichzeitig nicht mehr zu groß für Europa" – konkret gehbar ist.

Da die deutsche Geschichte instruktive Beispiele unterschiedlicher sicherheitspolitischer Rollen Deutschlands liefert, lohnt es, diese in Erinnerung zu rufen, um den Blick für die Probleme zu schärfen, die sich Deutschland gegenwärtig stellen. Denn diese Beispiele lassen die Anforderungen an eine reflexive deutsche Sicherheitspolitik, die die Sicherheit anderer Staaten mitdenkt, klarer hervortreten.

SICHERHEITSPOLITISCHE ROLLEN DEUTSCHLANDS IM 20. JAHRHUNDERT

Im Vorfeld und während der beiden Weltkriege war die deutsche Sicherheitspolitik durch ein Streben nach dominanten kontinentalen Vormacht- oder gar Hegemonialrollen gekennzeichnet. Dies ergab sich aus den Zwängen vorherrschender kompetitiver Sicherheitskulturen und einer unvorteilhaften geopolitischen Lage Deutschlands einerseits sowie aggressiver sicherheitspolitischer Ziele der jeweiligen deutschen Regierungen andererseits. Wenig überraschend war, dass dieses Vormachtstreben Gegenmachtbildungstendenzen anderer Großmächte nach sich zog und die Deutschen anschließend als Verlierer zweier zerstörerischer Kriege rigiden Kontrollregimes der Siegermächte unterworfen wurden.

Die jeweiligen Nachkriegsordnungen unterschieden sich allerdings deutlich – und dies hatte auch grundverschiedene Konsequenzen für Deutschlands sicherheitspolitische Rollen. Die europäische Sicherheitskultur nach dem Ersten Weltkrieg war weiterhin durch konkurrierende Großmächte und Allianzen sowie Dominanzstreben und Revanchegelüste geprägt. Entsprechend blieb die daraus resultierende Sicherheitsordnung auf das Austarieren eines prekären Machtgleichgewichts angewiesen. Da die Regierungen der Weimarer Republik sich dem "Diktatfrieden" von Versailles nur widerstrebend fügten und Hitler von Beginn an auf eine Zerschlagung der bestehenden Ordnung bedacht war, trug deutsche Sicherheitspolitik nach dem Ersten Weltkrieg nicht unwesentlich zur Stabilisierung beziehungsweise Verschärfung einer durch Freund-Feind-Denken geprägten Sicherheitskultur bei.

Dass die "totale Niederlage" nach Hitlers "totalem Krieg" 1945 nicht zu einer erneuten Isolierung und Unterwerfung Deutschlands unter ein demütigendes Reparationsregime führte wie nach dem Ersten Weltkrieg, war zum einen Folge der Einsicht der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges in die kontraproduktive Wirkung des Versailler Friedens wie auch die Realisierbarkeit eines attraktiven Projekts europäischer Integration. Zum anderen war der westdeutsche Teilstaat aber auch ein wichtiger Verbündeter des Westens im beginnenden "Kalten Krieg". Bundesrepublikanische Sicherheitspolitik war unter diesen Bedingungen gekennzeichnet durch die Bereitschaft, das "Feindstaat"-Brandzeichen der UN-Charta durch bereitwillige Einbindung in Schutz-, Kontroll- und Mitspracheregime im Rahmen des NATO-Verteidigungsbündnisses und der westeuropäischen Integration sukzessive unkenntlich zu machen.

Kurzum, von den Anfangsjahren des Kaiserreichs bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 war deutsche Sicherheitspolitik ein Oszillieren zwischen geradezu zwanghaftem Vormachtstreben einerseits – sei es als Folge von Einkreisungsängsten wie im Vorfeld des Ersten Weltkrieges oder rassistischer Expansionsideologie wie unter Hitler – oder der Fügung in mehr oder weniger rücksichtsvolle Kontrollregime der jeweiligen Siegermächte andererseits. Von einer reflexiven Sicherheitspolitik, die die Sicherheitsinteressen anderer Staaten in Rechnung stellt, konnte man nur selten sprechen – sei es, weil diese aggressiv übergangen wurden oder weil es aufgrund sicherheitspolitischer Unmündigkeit kaum auf sie ankam.

Die deutsche Vereinigung 1990 stellte sicherheitspolitisch in mindestens dreierlei Hinsicht einen markanten Einschnitt dar: Erstens wurden noch bestehende Beschränkungen im Kontext des sogenannten Viermächte-Kontrollregimes aufgehoben. Zweitens wurde Deutschlands Sicherheit durch den Abzug der "Roten Armee" aus Ostdeutschland, die Auflösung des Warschauer Paktes und die sukzessive Ausdehnung seiner eigenen westlichen Einbindungsstrukturen, also NATO und EU, nach Osten in einem Maße gestärkt wie nie zuvor in der Geschichte des deutschen Nationalstaates. Drittens verbanden sich mit der Auflösung des Ost-West-Konflikts allerdings auch völlig neue Erwartungen der Verbündeten, dass Deutschland sich nunmehr auch an den militärischen Operationen von NATO und Vereinten Nationen beteiligen würde.

Die je nach politischem Standpunkt als "Normalisierung" oder "Re-Militarisierung" charakterisierte neue sicherheitspolitische Ausrichtung trug den Erwartungen der Verbündeten weitgehend Rechnung. Dass die deutsche Öffentlichkeit diese Neuausrichtung zunächst nur zögerlich mitging, war angesichts tief verwurzelter Skepsis über den Nutzen des Einsatzes militärischer Macht wenig überraschend. Die Rolle des "bündnisfähigen" und verlässlichen Partners, der nunmehr auch auf pazifistische "Sonderwege" verzichtete, schien dieser Ausrichtung aber eine gewisse Unausweichlichkeit zu verleihen.

Von wenigen irritierenden "Alleingängen" wie 1991 bei der Anerkennung Kroatiens oder 2011 bei der Libyen-Enthaltung im UN-Sicherheitsrat abgesehen, entsprach die Anpassung deutscher Sicherheitspolitik insofern weitgehend den Erwartungen der Verbündeten. Bis in die jüngere Vergangenheit war es deutschen Bundesregierungen allerdings auch vergleichsweise leicht gefallen, solchen Rollenerwartungen zu entsprechen, weil die Verbündeten in NATO und EU wie auch wichtige andere Partner (etwa Russland) entweder ähnliche Erwartungen formulierten oder diese zumindest hinreichend kompatibel waren. Dies hat sich im Gefolge der skizzierten Entwicklungen der vergangenen vier Jahre gravierend verändert, weil nunmehr sicherheitspolitische Erwartungen an Deutschland herangetragen werden, die es schon deshalb schwerlich alle gleichzeitig erfüllen kann, weil sie in unterschiedliche Richtungen weisen und zudem beträchtliche Risiken bergen, unheilvolle Geschichte zu wiederholen.

KRISE SICHERHEITSPOLITISCHER FÜHRUNG UND GEFOLGSCHAFT

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 hielt der damalige Bundespräsident Joachim Gauck eine programmatische Rede über "Deutschlands Rolle in der Welt", die für Schlagzeilen sorgte. Beträchtliche Aufmerksamkeit weckte dabei zunächst die Zuschreibung einer neuen deutschen Rolle "in den Krisen ferner Weltregionen" und "bei der Prävention von Konflikten", die in der allgemeinen Empfehlung gipfelte, dass "die Bundesrepublik (…) sich als guter Partner früher, entschiedener und substanzieller einbringen" sollte – eine Formulierung, die vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier in seiner eigenen Rede fast wortwörtlich wiederholt wurde. Damit war erstmalig auch ein sicherheitspolitischer Führungsanspruch Deutschlands formuliert worden, der sich markant von jener "Kultur der Zurückhaltung" abhob, die die politische Klasse Deutschlands noch in den 1990er Jahren als Kernbestandteil der sicherheitspolitischen Identität des Landes definiert hatte.

Problematisch war, dass dieser Führungsanspruch just zu einem Zeitpunkt formuliert wurde, als die zentralen Stützpfeiler deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, die noch in der Phase unmittelbar nach der deutschen Vereinigung einen solchen Anspruch hätten untermauern können, nacheinander ins Wanken gerieten. Sicherheitspolitisch im engeren (militärischen) Sinne waren sowohl die Annexion der Krim und der nachfolgende Krieg in der Ukraine als auch zwei Jahre später das Brexit-Votum noch zu verkraften, weil die für Deutschland grundlegenderen sicherheitspolitischen Garantien der NATO Bestand hatten und der Zusammenhalt des Westens in der koordinierten Verabschiedung von Sanktionen gegenüber Russland auch wirksamen Ausdruck fanden.

Mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten änderte sich dies allerdings grundlegend. Der mächtigste Mann an der Spitze des wichtigsten Verbündeten der Deutschen weckte nicht nur frühzeitig generelle Zweifel an der Verlässlichkeit der NATO-Garantiemacht USA, sondern erklärte Deutschland – noch vor China und Russland – zu seinem Lieblingsgegner: zum unausstehlichsten Verbündeten in Amerikas Allianzen und zum lästigsten Konkurrenten in den für ihn fast noch wichtigeren Handelsfragen. Für Deutschlands Sicherheit markierte dies den einschneidendsten Schock der vergangenen Jahrzehnte, weil damit – allen Rückversicherungsversuchen anderer Repräsentanten der außen- und sicherheitspolitischen Elite in Washington zum Trotz – die grundlegendste Sicherheitsgarantie des wichtigsten Verbündeten durch dessen "Commander in Chief" infrage gestellt wurde.

EXISTENZIELLE VERUNSICHERUNG

Auch wenn sich die mittelfristigen Auswirkungen der gerade geschilderten Entwicklungen derzeit nur in Umrissen abschätzen lassen, ist heute bereits erkennbar, dass das Sicherheitsempfinden der Deutschen in den vergangenen vier Jahren beträchtlich gelitten hat. Neben den Erschütterungen der Eckpfeiler deutscher Außenpolitik haben hierzu auch die Eurokrise, die Migrationskrise und die Renaissance populistischer beziehungsweise autoritärer Herrschaft im regionalen Umfeld beigetragen.

Wenn man Sicherheit als "Bestand von Werthaftem in der Zeit" begreift, summieren sich diese Schocks und Krisen zu einem Bündel existenzieller Verunsicherung, die im sicherheitspolitischen Fachdiskurs der Internationalen Beziehungen in Analogie zur Herausbildung eines stabilen "Selbst" im Zuge individueller Sozialisation als "existenzielle Angst" im Kontext staatlichen Strebens nach "ontologischer Sicherheit" bezeichnet wird. "Ontologisch sicher" zu sein, bedeutet für einen Staat in diesem Zusammenhang, dass "‚Antworten‘ auf fundamentale existenzielle Fragen" verfügbar sind, die einen "Sinn von Kontinuität und Ordnung im Gang der Ereignisse" vermitteln.

Genau dieser "Sinn" für geordnete sicherheitspolitische Kontinuität ist den Deutschen in der krisenhaften Verschärfung der jüngeren Zeit abhandengekommen. Da Deutschland bei der Stabilisierung seines sicherheitspolitischen "Selbst" auf die Responsivität signifikanter Partner und Konkurrenten angewiesen ist, ist zudem nicht leicht auszumachen, wie eine solche Stabilisierung auf absehbare Zeit zu bewerkstelligen ist. Dass der Anker dieses Selbst noch mehr als bereits in den vergangenen Jahrzehnten in der Europäischen Union festgemacht werden muss, liegt auf der Hand. Wie dies allerdings gelingen kann, erscheint ungewisser denn je.

DILEMMATA DEUTSCHER SICHERHEITSPOLITIK

Wenn "Sicherheit" den Bestand von Werthaftem in der Zeit beschreibt, dann bezieht sich Sicherheitspolitik auf all jene Maßnahmen, die Staaten ergreifen, um Güter zu bewahren, die zugleich sichernswert, sicherungsfähig und bedroht sind. Wichtig ist dabei, dass solche Güter oder Werte nur dann zu einem Gegenstand von Sicherheitspolitik werden, wenn alle drei Bedingungen zugleich gegeben sind. Wenn sie bereits gesichert, also nicht bedroht erscheinen, sind sicherheitspolitische Maßnahmen überflüssig; wenn sie demgegenüber in einem Maße bedroht sind, dass keine Maßnahme zu ihrer Sicherung führen würde, ist Sicherheitspolitik aussichtslos. Sicherheitspolitik ist daher immer eine Gratwanderung: Sie muss in glaubwürdiger Weise vermitteln, dass Unsicherheit besteht, durch bestimmte Maßnahmen aber Sicherheit hergestellt werden kann.

Das Kernproblem deutscher Sicherheitspolitik besteht heute darin, dass vergleichsweise klar ist, welche Güter als sichernswert, aber bedroht gelten müssen, die Sicherungsfähigkeit allerdings prekär erscheint, weil die Macht Deutschlands offensichtlich nicht ausreicht, die Sicherung durch einseitige Maßnahmen zu gewährleisten. Zudem ist mehr denn je unklar, ob sich die Kooperationspartner finden, die zu ihrer Sicherung notwendig sind. An zwei dilemmatischen Problemstellungen lässt sich diese Herausforderung illustrieren: zum einen an der globalen Schwächung des Multilateralismus als einer fundamentalen Erfolgsbedingung deutscher Außenpolitik und zum anderen an den Risiken einer sicherheitspolitischen Führungsrolle Deutschlands.

Globale Schwächung des Multilateralismus

Die sich seit Jahren abzeichnende, mit Donald Trump als US-Präsident aber rapide beschleunigende Schwächung des Multilateralismus trifft deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ins Mark, weil Deutschlands Sicherheit mehr als bei jedem anderen Staat von der Funktionsfähigkeit regelbasierter multilateraler Vernetzung abhängig ist. Deren Schwächung ist für Deutschland existenziell sicherheitsrelevant, denn mit der Rückkehr des Bilateralismus als idealtypischer Widerpart des Multilateralismus als "institutioneller Form" werden nicht nur die Berechenbarkeit und die wechselseitiges Vertrauen stiftenden Wirkungen des Multilateralismus konterkariert, sondern auch der Willkür mächtiger Staaten Tür und Tor geöffnet. Dass Russland mit der Annexion der Krim und dem unerklärten Krieg in der östlichen Ukraine auf die Regeln des Völkerrechts pfeift, war für deutsche Sicherheitspolitiker solange verkraftbar, wie die westlichen Anker des globalen Multilateralismus hielten. Da diese sich nunmehr aber selbst im EU- und NATO-Kontext zu lösen beginnen, verstärken sich auch in Berlin die Neigungen, den Sirenengesängen machtvoller Interessendurchsetzung nachzugeben.

Wenn prominente deutsche Politiker wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder "die Zeit des geordneten Multilateralismus" in "Europa und der Welt" für beendet erklären und meinen, aus "Respekt vor Deutschland" darauf bestehen zu müssen, "dass wir auch in der Lage sind, unsere Interessen selbst wahrzunehmen," dann ist dies nicht zuletzt deshalb besorgniserregend, weil diese Auffassung zu Trends in der öffentlichen Meinung in Deutschland passt: Neuere Umfragen zeigen, dass "eine Sehnsucht nach starken, durchsetzungsfähigen Politikern" um sich greift, immerhin knapp zwei Drittel der Auffassung zuneigen, dass Deutschland zu sehr auf Kompromisse setzt und konsequenter auf die Durchsetzung nationaler Interessen drängen sollte. Diese Entwicklung ist existenziell gefährlich, weil eine von deutscher Seite betriebene Unterminierung langfristig angelegter, regelbasierter multilateraler Arrangements dem Wohlstand und der Sicherheit der Deutschen das Fundament entziehen würde. Die Sicherungsfähigkeit zumindest des EU-Multilateralismus ist ohnehin schwierig genug, weil östlich von Deutschland (Polen, Ungarn), südlich (Österreich, Italien) und westlich (Großbritannien) EU-Partnerstaaten von Regierungen geführt werden, die großen Gefallen an einer Adaption von Donald Trumps Politik eines "America First" für ihre eigene Außenpolitik finden.

Deutsche Führung?

Dilemmatisch ist zudem der von außen an Deutschland herangetragene, zunehmend aber auch innenpolitisch vernehmbare Ruf nach deutscher Führung in sicherheitspolitischen Fragen. Zwar ist dies Ausdruck eines gewissen Vertrauens darauf, dass Deutschland seine über Jahre erfolgreich praktizierte, auf Ausgleich gerichtete Rolle gerade dann auch in einer Führungsposition zum Wohle aller ausüben würde, wenn mit Großbritannien die neben Frankreich wichtigste europäische Macht aus dem engsten Kreis der EU ausscheidet. Solange ein enger Schulterschluss mit Frankreich und die Einbettung sicherheitspolitischer Initiativen im Rahmen der EU gegeben ist, wie etwa im Falle des wichtigen sicherheitspolitischen PESCO-Projekts, ist eine sichtbarere militärische Rolle Deutschlands auch verdaulich. Zudem ist naheliegend, dass das bevölkerungsreichste, wirtschaftlich stärkste und im geopolitischen Zentrum gelegene Mitglied der EU einen höheren Anteil der Verteidigungslasten übernimmt – und entsprechend mehr Mitsprache erwartet. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der die USA als zumindest deklaratorische Garantiemacht europäischer Sicherheit größere eigene Anstrengungen von ihren Verbündeten verlangen – und dies mit deutlichen Worten auch jenseits der Trump-Administration.

Eine sicherheitspolitische Führungsrolle Deutschlands würde aber auch höchst ambivalente, wenn nicht sogar kontraproduktive Effekte zeitigen. Dass europäische Sicherheit entscheidend von deutscher Führung, geschweige denn deutscher Aufrüstung abhängt, drängt sich angesichts der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert nicht als Lösung auf. Diesen Eindruck könnte ein Laie jedoch aus der Anklage Deutschlands durch US-Präsident Trump auf dem NATO-Gipfeltreffen in Brüssel im Juli 2018 ableiten, dass die Deutschen viel zu wenig zur gemeinsamen Verteidigung beitrügen.

Wenn allerdings die "Verteidigungsinvestitionsverpflichtung" des NATO-Gipfeltreffens 2014 in Wales auch nur annähernd umgesetzt würde – Deutschland also wie geplant bis 2024 den Anteil seiner Verteidigungsausgaben von derzeit 1,2 Prozent auf 1,5 Prozent des BIP erhöhte und damit seiner politischen Selbstverpflichtung nachkäme, die Verteidigungsausgaben "an zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes anzunähern" –, müsste man, wie die Bundeskanzlerin jüngst formulierte, auch "ein bisschen aufpassen", dass diese Entwicklung "nicht womöglich als eine Militarisierung Deutschlands interpretiert wird". Denn auch mit dieser begrenzten Aufstockung rückt Deutschland unter den NATO-Partnern mit den höchsten Verteidigungsausgaben weiter nach oben. Bei strikter Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels müsste Deutschland seine Ausgaben jedes Jahr sogar um 6,8 Milliarden Euro steigern – und würde 2024 etwa 85 Milliarden Euro für Verteidigung ausgeben. Das entspräche im Vergleich zum Verteidigungshaushalt 2017 von etwa 37 Milliarden Euro einer Steigerung von rund 129 Prozent. In einem solchen Szenario würde Deutschland 2024 die verbündeten europäischen Nuklearmächte überholen und 27 Milliarden Euro mehr ausgeben als Frankreich und 30 Milliarden Euro mehr als Großbritannien. Es braucht nicht allzu viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass eine solche Machtverschiebung in Europa nicht nur vertrauensbildend wäre.

Hinzu kommt, dass sich deutsche Führungsansprüche, die zwischen 2014 und 2016 noch unter anderen Rahmenbedingungen formuliert wurden, angesichts wachsender Zweifel am Bündnispartner USA heute anders darstellen. Denn dadurch, dass die USA sich von ihrer Rolle als westliche Führungsmacht verabschieden, entfallen auch die bislang damit einhergehenden Rückversicherungsgarantien gegenüber Deutschlands Nachbarn. Diese konnten sich bislang auf die doppelte Sicherung eines an Selbsteinbindung interessierten Deutschland und auf die Einhegung deutscher Macht durch eine gekoppelte europäisch-amerikanische Kontrolle verlassen. In dem Maße, in dem die EU als "starker" und "in Loyalität verbundener Pol" auch gegenüber den USA in Erscheinung treten soll, wachsen allerdings die Anforderungen an verantwortliche deutsche Führung, weil die Erträglichkeit dieser Führung mehr denn je davon abhängen wird, dass wachsende deutsche Leistungsbereitschaft nicht automatisch in ein Mehr an deutschem Einfluss übersetzt wird. Politikempfehlungen, die Deutschland in der EU eine "Doppelrolle als ‚Zahlmeister‘ und ‚Zuchtmeister‘" antragen, gehen über die Komplikationen, die sich in einer solchen Rolle stellen können, allzu schnell hinweg, zumal wenn explizit eingeräumt wird, dass Deutschland "darauf achten muss (…) nicht allein" dazustehen "oder auch nur in eine Minderheitenposition" zu geraten.

SCHLUSS

Vor etwas mehr als zwanzig Jahren stellte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl die zeitgenössische außenpolitische Lage Deutschlands in einen großen historischen Kontext. Das vereinigte Deutschland befinde sich "in einer Situation wie nie zuvor in diesem Jahrhundert. Wir haben sehr gute, herzliche und freundschaftliche Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien und Russland. Wann hat es das je so in der deutschen Geschichte gegeben?" Dass sich diese Einschätzung heute nicht wiederholen lässt, liegt, wenn überhaupt, nur zu einem geringen Teil an den Deutschen. Dies allein kann bereits als ein wichtiger sicherheitspolitischer Beitrag Deutschlands gelten. In den kommenden zwanzig Jahren wird die Bundesrepublik allerdings weit mehr gefordert sein, aktiv zum Bestand von Werthaftem über deutsche Grenzen hinaus beizutragen.

Dieser Beitrag ist Helga Haftendorn zum 85. Geburtstag gewidmet. Für konstruktive Kritik danke ich Christian Tuschhoff.

ist Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. g.hellmann@soz.uni-frankfurt.de