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Improvisierend durch die Krise: Der New Deal | bpb.de

Improvisierend durch die Krise: Der New Deal

Kiran Klaus Patel

/ 16 Minuten zu lesen

Mit dem New Deal gelang es, die Doppelkrise von Kapitalismus und Demokratie in den USA der 1930er Jahre zu bewältigen. Heute berufen sich weltweit Bewegungen und Regierungen auf ihn.

Einmal mehr ist der New Deal in aller Munde. Mit vielen Maßnahmen bezieht sich die US-Regierung unter Joe Biden gegenwärtig auf die Reformpolitik seines demokratischen Vorgängers Franklin D. Roosevelt aus den 1930er Jahren. Aber auch die EU hat sich einem Green Deal verschrieben; darüber hinaus macht dieses Stichwort in Großbritannien, Australien, aber zum Beispiel auch in Südkorea die Runde. Offensichtlich entspricht es dem heutigen Zeitgeist, eine der symbolkräftigsten politischen Phasen des 20. Jahrhunderts als mobilisierende Kraft für Gegenwart und Zukunft heraufzubeschwören.

Was aber war der New Deal? Im Wesentlichen verbirgt sich dahinter eine Reihe von wirtschafts- und sozialpolitischen Reformmaßnahmen im ersten Jahrfünft der Präsidentschaft Roosevelts, der die USA insgesamt von 1933 bis 1945 regierte. Von seinem Amtsantritt bis ungefähr 1937/38 versuchte Roosevelt unter dem Stichwort des "New Deal" mit seiner Entourage, jene Doppelkrise von Kapitalismus und Demokratie in den Griff zu bekommen, welche die USA damals tief erschütterte.

Ein Land am Abgrund

Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise hatte in den Vereinigten Staaten nicht nur ihren Ausgangspunkt; sie traf das Land auch mit besonderer Wucht: 1932 war rund ein Viertel aller Erwerbsfähigen arbeitslos; zwischen 1929 und Ende 1932 verloren die im Dow-Jones-Index gelisteten Aktien knapp 90 Prozent ihres Wertes. In den Tagen vor Roosevelts Amtsantritt im März 1933 stand außerdem das Bankensystem kurz vor der Kernschmelze. Viele hielten den Kapitalismus für gescheitert – die wenige Jahre zuvor ausgerufene Phase der Prosperität kam den Menschen wie eine entfernte Vergangenheit vor.

Gleichzeitig schien das politische System unfähig, angemessen auf die Krise zu reagieren. Das Hauptrezept bestand darin, auf die "Selbstheilungskräfte des Marktes" zu setzen und dem Staat einen Sparkurs zu verordnen. Im Ergebnis verschlechterte sich die Lage dadurch nur noch. Wie auch in anderen Teilen der Welt fragten sich deswegen viele Menschen in Amerika, ob nicht die radikalen Alternativen am rechten und am linken Rand des politischen Spektrums der Demokratie überlegen seien – immerhin schienen Gesellschaften wie die Sowjetunion oder bald auch das nationalsozialistische Deutschland die Krise besser zu meistern. So stellte etwa der amerikanische Ökonom Stuart Chase in einer Mischung aus Resignation über die eigene Lage und Bewunderung globaler Trends die Frage: "Warum sollte man den Russen den ganzen Spaß dabei überlassen, die Welt zu verändern?" Die Forschung hat jedes positive Bild von der angeblichen Überlegenheit der Diktaturen längst widerlegt; zeitgenössisch hatte es durchaus Strahlkraft.

Ein Symbol für die Trägheit der politischen Ordnung in Amerika war die verordnete Übergangszeit zwischen der Präsidentschaftswahl im November 1932 und Roosevelts Amtsantritt im März des Folgejahrs: Im Zeitalter der Postkutsche, aus dem die Regelung stammte, war es sinnvoll gewesen, eine mehrmonatige Transitionsphase bei einem Amtswechsel einzubauen. Dadurch erhielt ein künftiger Präsident Zeit, seine Geschäfte zu Hause abzuschließen und in die Hauptstadt überzusiedeln, selbst wenn er aus einem entfernten Teil des Landes kam. Im Krisenwinter 1932/33, als Eisenbahnen, Autos und ansatzweise sogar Flugzeuge längst für ein höheres Lebenstempo gesorgt hatten, versinnbildlichte die Bestimmung dagegen nur, wie viel sich schnellstens ändern musste.

Die Krise der bisherigen Ordnung zeigte sich bereits am Wahlabend. Denn als Roosevelt in jenem Herbst einen Erdrutschwahlsieg für die Demokraten sicherte, war dies vor allem eines: eine krachende Absage an den bisherigen Präsidenten Herbert Hoover von den Republikanern. Der demokratische Herausforderer war mit keinem klaren Programm in den Wahlkampf gezogen. Während er sich in jenen Monaten eindeutig zur Demokratie bekannte, ließ er eindeutige Antworten in Bezug auf die Art, wie er die drängenden ökonomischen Probleme bekämpfen wollte, vermissen. Roosevelt widersprach sich sogar gelegentlich selbst – plädierte er in der einen Rede für mehr staatliche Eingriffe, warf er in einer anderen dem bisherigen Amtsinhaber Hoover vor, zu viel bundesstaatliche Kontrolle eingeführt zu haben. Der Staat sollte aktiver werden, zugleich aber sparen. Für den einflussreichen Journalisten Walter Lippmann stand fest, dass Roosevelt eine "überaus beeinflussbare Person" sei, "ohne klares Verständnis der öffentlichen Angelegenheiten und ohne besonders starke Überzeugungen".

Selbst der Begriff "New Deal" war im Wesentlichen ein Produkt des Zufalls. In der Rede, mit der Roosevelt im Juli 1932 seine Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten annahm, versprach er, die Karten für das amerikanische Volk neu zu mischen – "a new deal for the American people". Er selbst und sein Team maßen dieser Formulierung keine große Bedeutung bei. Es war die Presse, die auf der Suche nach einer Schlagzeile die Formel aufgriff und sie mit Roosevelt und seinem Programm verband. Bald darauf machte sich das Wahlkampfteam den Begriff zu eigen. Dennoch war damals mitnichten abzusehen, dass sich noch rund ein Jahrhundert später Menschen auf der ganzen Welt auf den New Deal beziehen würden.

Unorthodoxe Improvisation

Trotz – und teilweise gerade wegen – dieser Unbestimmtheit veränderte der New Deal die USA grundsätzlich. Als Präsident betonte Roosevelt immer wieder, keine vorgefertigten Antworten bereit zu haben. Bereits in einer Wahlkampfrede im Mai 1932 hatte er unterstrichen, dass es ihm vor allem um mutige Experimente zur Überwindung der Krise ginge; dass er sich nicht an bisherige Glaubenssätze halten wolle. Trotz gewisser Ambivalenzen trat er letztlich für eine aktive Rolle des Staates ein, wiewohl die damalige wirtschaftspolitische Mehrheitsmeinung diesen Ansatz als kostspielig, ungerecht und krisenverschärfend kritisierte. Von solchen Orthodoxien ließ Roosevelt sich nicht allzu sehr beeindrucken; Pragmatismus und Tempo standen fortan im Vordergrund. In seiner Antrittserklärung sprach er davon, dass man nichts als die Furcht selbst zu fürchten habe, und legendär wurden bald jene Sitzungen, in denen er Mitglieder seines Teams mit eigentlich unvereinbaren Positionen so lange tagen ließ, bis sie sich zumindest auf einen Formelkompromiss geeinigt hatten.

Angesichts der tiefen Krise konnten die New Dealer mit diesem Ansatz ein umfangreiches Paket von Reformen in die Welt setzen. Bereits die ersten 100 Tage im Amt – seit der Zeit Roosevelts sind die "first hundred days" ein geflügelter Begriff und Gradmesser für Erfolg in der amerikanischen Politik – brachten eine Fülle von Maßnahmen mit sich. Die erste Initiative der New Dealer, mit der sie der Bankenpanik im März 1933 Einhalt gebieten wollten, schrieb sogar Parlamentsgeschichte. Fünf Tage nach Roosevelts Amtsantritt wurde das einzige Exemplar, das es von der entsprechenden Gesetzesvorlage gab, im Kongress verlesen. Die Debatte darüber war auf 40 Minuten beschränkt, woraufhin das Repräsentantenhaus das Gesetz einstimmig verabschiedete. Rund vier Stunden danach ging der Senat denselben Schritt und noch am selben Tag unterschrieb Roosevelt das Gesetz, das der Bundesebene weitreichende Kompetenzen übertrug, die unter anderem die Rolle des Staates in der Bankenregulierung stärkten. Tatsächlich gelang es so, die akute Bankenkrise zu überwinden und das Vertrauen in das amerikanische Finanzsystem zumindest ansatzweise wiederherzustellen.

Karte der Tennessee Valley Authority (TVA) zur Planung von Staudämmen zur Flutkontrolle, Energieerzeugung und Landbewässerung im Tennessee-Tal, ca. 1940. (© picture-alliance, Everett Collection)

Viele weitere wichtige Vorhaben folgten in atemberaubendem Tempo, etwa ein weitgefasstes Gesetz zur Stabilisierung der Landwirtschaft und umfangreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die Erwerbslosen eine neue Perspektive boten. Die Tennessee Valley Authority (TVA) war ein riesiges Regionalprojekt im bitterarmen Süden des Landes, das unter anderem der Stromerzeugung diente. Die mächtigen Staudämme der TVA sollten das Land aber nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial entwickeln und der massiven sozialen Ungleichheit in der Region entgegenwirken. Direkt nach Abschluss der ersten 100 Tage im Amt folgte mit dem National Industrial Recovery Act ein weiteres Großprojekt, das zusätzliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Infrastrukturbereich ebenso beinhaltete wie staatliche Eingriffe in die gewerbliche Wirtschaft.

Auch die Folgejahre sahen wichtige Initiativen, unter anderem den Social Security Act von 1935, der erstmals ein Sozialversicherungssystem auf nationaler Ebene schuf. Während damals die Alters- und die Arbeitslosenversicherung im Vordergrund standen, scheiterte das Projekt einer öffentlich-rechtlichen Krankenversicherung – eine klaffende Lücke, die erst 2010 unter Präsident Barack Obama weitgehend geschlossen wurde, aber weiterhin höchst umstritten ist.

Nicht alles am frühen New Deal war neu. Über viele dieser Vorhaben hatte man auf der Ebene von Einzelstaaten oder dem Bund bereits seit Langem diskutiert; ab 1933 ergab sich durch den Problemdruck und den Regierungswechsel ein Zeitfenster, um sie zu verwirklichen. Einem verbindlichen wirtschaftspolitischen Ansatz zeigten sich die verschiedenen Projekte jedoch nicht verpflichtet.

Intervention und Abschirmung

Überblickt man die vielen Dutzend Programme und Behörden, die neu geschaffen wurden, schält sich dennoch eine Richtung heraus: Im Zentrum stand die Absicht, die amerikanische Bevölkerung stärker als bisher vor den Unwägbarkeiten der modernen Welt zu schützen. Dazu setzten die New Dealer auf eine Vielzahl teilweise widersprüchlicher Instrumente. Auf übergreifender Ebene bauten sie jedoch vor allem auf zweierlei: Staatsinterventionismus und die Abschirmung vor globalen Risiken.

Demonstrationsacker der TVA zur Förderung von chemischen Düngemitteln in der Landwirtschaft. Links eine verödete Brache, versehen mit dem Schild "Ohne Pflanzennahrung verhungert"; rechts ein sprießendes Feld, versehen mit dem Schild "Durch Calciumphosphat wohlgenährt". (© picture-alliance, Everett Collection)

Staatsinterventionismus meinte, dass über eine Vielzahl von Programmen der Staat eine größere Verantwortung übernahm. Durch den New Deal wurden im föderalen System der USA zwar auch die Einzelstaaten gestärkt; vor allem aber gewann die Bundesebene neue Kompetenzen hinzu. Vor dem New Deal waren nationale Instanzen, zumindest in Friedenszeiten, im Leben der meisten Amerikanerinnen und Amerikaner fast nur in Form des Postamts präsent gewesen; davon abgesehen blieb "Washington" bis 1933 weitgehend unwichtig. Das änderte sich nun grundlegend. Wer 1934 sein Feierabendbier im Freundeskreis in der Kneipe trank oder sich in der Nachbarschaft oder der Familie traf, kam kaum umhin, über eines der zahllosen neuen Programme zu sprechen – über die Blaue-Adler-Kampagne von Roosevelts Industriepolitik, die unter anderem Mindestlöhne durchsetzte; über die vielen neu gebauten Straßen; über die Siedlungsprojekte oder die Expertinnen und Experten, die nun Landwirte in den entlegensten Ecken des Landes mit besseren Anbautechniken vertraut machen sollten. Der Staat und seine Maßnahmen drangen so ganz in die Fläche der USA vor. Während in den meisten europäischen Gesellschaften Staat und Verwaltung bereits lange zuvor eine große Rolle im Alltag gespielt hatten, änderte dies für die Vereinigten Staaten erst der New Deal.

Roosevelts Reformpolitik gab den Menschen so das Gefühl, dass "die da oben" sich um sie kümmerten; dass man nicht hilflos der Wirtschaftskrise ausgesetzt war. Statt Resignation herrschte vielerorts bald Aufbruchstimmung. Dabei kamen keineswegs alle Maßnahmen einfach aus Washington oder von einer anderen staatlichen Instanz. Der New Deal zielte zum Beispiel auch darauf, die Gewerkschaften zu stärken und die Gesellschaft als Ganzes zu mobilisieren. Diese Aktivierung zivilgesellschaftlicher Kräfte verlieh dem New Deal zusätzliche Schubkraft und hilft zu erklären, warum das Wertegefüge jener Jahre und die sogenannte New Deal Order dem Land für Jahrzehnte ihren Stempel aufsetzen konnten.

Die zweite Dimension, die Abschirmung, war eine Reaktion auf Globalisierungskrisen. Denn der New Deal fiel in eine Zeit, in der die Welt bereits stark vernetzt war und ökonomische und andere Krisen leicht von einem Land ins nächste übersprangen. Wenngleich der Ausgangspunkt der Weltwirtschaftskrise in Amerika selbst gelegen hatte, setzte die Bundesadministration unter Roosevelt nun darauf, das Land unabhängiger von globalen Kräften zu machen. Der aktive Staat des New Deal förderte deswegen nicht die internationale Kooperation, sondern stellte die eigene Nation an die vorderste Stelle. Das wog umso schwerer, da sich die USA damals bereits zur führenden westlichen Industriemacht entwickelt hatten. Wenn sie nicht auf multilaterale Zusammenarbeit bauten, dann hatte das Folgen für die ganze Welt. Die ohnehin harschen Einwanderungsgesetze wurden weiter verschärft. Die Währungspolitik, die damals aufgrund des sogenannten Goldstandards einen wichtigen Hebel internationaler Kooperation hätte bilden können, wurde ganz an nationalen Prioritäten ausgerichtet. Symbolträchtig erteilte Roosevelt im Sommer 1933 auf einer großen Wirtschaftskonferenz in London der länderübergreifenden Zusammenarbeit eine Absage. Grundsätzlich fühlte sich Roosevelt durchaus dem Internationalismus verpflichtet; angesichts der Weltwirtschaftskrise setzte er jedoch darauf, zunächst die Probleme im eigenen Land zu lösen.

Der Ansatz unilateraler Abschirmung, der den New Deal prägte, ist heute in der Erinnerung an das Amerika der Zwischenkriegszeit in den Hintergrund getreten. Er wird überlagert von dem internationalistisch-multilateralen Kurs, den Roosevelt allerdings erst in den Kriegsjahren einschlug und der in den Aufbau von Organisationen wie den Vereinten Nationen mündete. Auf dieser Ebene verschwimmen heute die Geschichtsbilder – und genau dies lässt den New Deal in umso hellerem Licht erstrahlen.

Sicherheit durch Abschirmung übersetzte sich in dieser Zeit zugleich nicht in einen drastischen Ausbau der militärischen Kapazitäten. Vielmehr blieb der Staat des New Deal auffallend zivil und unterschied sich grundsätzlich von jenem gewaltigen Waffenarsenal und den riesigen Streitkräften, welche die USA wenige Jahre später im Zweiten Weltkrieg mobilisierten und die das Gesicht des Landes seitdem prägen.

Der New Deal stand jedoch nicht nur für neue Inhalte, sondern auch für einen anderen Politikstil und eine neue politische Kultur. Roosevelt und sein Team setzten die einzelnen Programme sorgfältig als Neuanfang in Szene. Das begann schon mit seinem Amtsantritt: Sein Vorgänger Hoover hatte dem künftigen Präsidenten in der Übergangszeit die Zusammenarbeit angeboten. Roosevelt lehnte dies ab, um seinen Einstieg als radikalen Bruch inszenieren zu können. Oder, als weiteres Beispiel: Im Amt nutzte er das damals noch junge Radio als Mittel, um in neuartiger Weise direkt mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Wenn der Mann aus der Ostküsten-Oberschicht mit gebildetem Akzent in seinen berühmt gewordenen Radiobotschaften auf einen bewusst einfachen Wortschatz setzte und seine Zuhörerschaft als "my fellow Americans" oder als "meine Freunde" ansprach, versuchte er, ein neues Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. Die vielen Zuschriften, die das Weiße Haus als Reaktion erreichten, verdeutlichen den Erfolg dieser Bemühungen. Paraden, Symbole und vieles mehr sollten ebenfalls Aufbruch und nationales Selbstvertrauen vermitteln.

Kritik am New Deal

Trotz des neuen Gefühls von Optimismus und Gemeinschaft, für das der New Deal steht, war Roosevelts Politik schon zu seiner Zeit hoch kontrovers. Politisch konnte er zwar stets auf solide Mehrheiten bauen. Rund 40 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner lehnten jedoch die Politik des New Deal mit ihren Versprechungen ab. In die 1930er Jahre fallen die Anfänge einer marktliberalen Rechten, die sich in Opposition zum New Deal formierte und in späteren Jahrzehnten den Kurs von Ronald Reagan und anderen Spitzenpolitikerinnen und -politikern prägen sollte. Allgemein nahm die politische Polarisierung spürbar zu; das jeweilige politische Gegenlager sah sich häufig als "Ratten" oder "Ungeziefer" verunglimpft. Vorwürfe an Roosevelts Regierung, sie sei faschistisch oder sozialistisch – oder beides zugleich – machten in Kreisen des Establishments die Runde. Besonders in seinen ersten Amtsjahren befeuerte auch der Präsident selbst die Spaltung der Gesellschaft. Er spickte seine Reden mit einer Mischung aus alttestamentarischem Grimm und antikapitalistischer Rhetorik, die Wirtschaftskreise verschrecken musste. Seine Worte entsprachen jedoch nicht seinen Taten; im Ergebnis rettete seine Politik das kapitalistische Wirtschaftssystem und zielte keineswegs auf dessen Überwindung.

Zudem mussten die New Dealer eine ganze Reihe von Niederlagen einstecken. Die Hauptsäulen des frühen New Deal kassierte der Supreme Court als Oberstes Gericht der USA in spektakulären Urteilen im Mai 1935 und im Januar 1936. Die Agrar- und die Industriepolitik des New Deal ermöglichten umfangreiche (bundes-)staatliche Eingriffe in die beiden Sektoren und wurden aus diesem Grund vom Obersten Gericht als verfassungswidrig erklärt. Noch berühmter ist Roosevelts Scheitern bei dem Versuch, den Einfluss des Supreme Court spürbar zu beschneiden. 1937 schlug er vor, die Zahl der Bundesrichter zu erhöhen – was ihm erlaubt hätte, die seiner Politik gegenüber kritische Mehrheit zu kippen. Dieses Projekt wurde von dem fraglichen Gericht als verfassungswidrig eingestuft. So sehr es dem New Deal gelang, die gesellschaftspolitische und ökonomische Ordnung auf eine neue Basis zu stellen, sollte man die Grenzen der Veränderungen nicht übersehen. Das erklärt auch, warum der Reformimpuls ab 1937/38 deutlich nachließ.

Kritisch lässt sich zudem anmerken, dass die Effekte des New Deal ungleich wirkten. Am meisten profitierten von ihm weiße, männliche Industriearbeiter und die weiße Mittelschicht. Teilweise spiegelten sich darin die Prioritäten von Roosevelt und seinem Beraterstab wider; teilweise war diese Unwucht der Wählerbasis geschuldet und insbesondere den Konzessionen, die die New Dealer an einflussreiche rassistische Politiker in den Südstaaten machen mussten, um ihre Reformen durch den Kongress zu bekommen.

Trotz der Bevorzugung gewisser Gruppen sollte man nicht übersehen, dass sich zum Beispiel auch die Lage der afroamerikanischen und anderer Minderheiten verbesserte. Ihnen standen etwa viele der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Arbeitslose offen, und die Programme verpflichteten sich darauf, niemanden aufgrund der Hautfarbe zu diskriminieren. Da die Umsetzung oft in lokaler Hand lag, blieben solche Formulierungen allerdings gerade in den Südstaaten oft leere Buchstaben. Allerdings gab es nun zumindest gewisse Hilfen, und die Gesetze boten zusätzliche Ansatzpunkte, um gegen rassistische Praktiken vorzugehen. Für Frauen ergaben sich ebenfalls neue Perspektiven. Erstmals saß mit Frances Perkins eine Frau am Kabinettstisch, die zudem zu Roosevelts engstem Kreis gehörte und als Arbeitsministerin eine der wichtigsten Positionen in der Bundesadministration bekleidete. Auch Roosevelts Frau Eleanor setzte dem New Deal ihren Stempel auf und kämpfte – mehr noch als ihr Mann – für die Rechte von Minderheiten. Sie bezeichnete Mary McLeod Bethume, eine afroamerikanische Bürgerrechtsaktivistin, als ihre engste Freundin in ihrer Altersgruppe; gemeinsam kämpften sie gegen den nicht nur in den Südstaaten grassierenden Rassismus. Insgesamt brachte der New Deal für die männliche Mehrheitsbevölkerung, aber auch für Frauen und Angehörige von Minderheiten, gewisse Verbesserungen; Roosevelts Regierung hinterließ zugleich jedoch viele ungelöste Probleme. Am Anspruch einer inklusiven Gesellschaft scheiterte der New Deal. Das entsprach aber letztlich seinem Ansatz, der immer der schrittweisen Veränderung viel stärker verpflichtet blieb als der Radikalreform.

Die USA, wie wir sie kennen

Für den New Deal charakteristisch war auch sein Blick auf die ihn umgebende Welt. Sein Ausgangspunkt war eher defensiv und nicht von einer amerikanischen Mission für die Welt getragen. Der Ansatz nach 1933 bestand darin, eigene Defizite auszugleichen und zu anderen Gesellschaften aufzuschließen. Barbara Nachtrieb Armstrong, eine der führenden Expertinnen für soziale Sicherungssysteme, beklagte zum Beispiel 1932 die "Rückständigkeit der Vereinigten Staaten" in diesem Bereich und unterstrich, dass viele Gesellschaften sehr viel fortschrittlicher seien. Nicht nur bei der Alters- und Arbeitslosenversorgung übersetzte sich die Diagnose eines Defizits schnell in ein Handlungspostulat: Auch in Amerika sollte sich etwas ändern. Armstrong, eine der ersten Professorinnen an der Universität von Kalifornien in Berkeley, arbeitete zeitweise direkt für die Regierung in Washington, und allgemein strömten nunmehr viele der brillantesten Köpfe in die Hauptstadt oder begannen andernorts für den Staat zu arbeiten. In einem Land, in dem Wirtschaft und Zivilgesellschaft normalerweise den Takt vorgaben, war diese Entwicklung durchaus bemerkenswert.

Bei dem Ansatz, vor allem über den Bundesstaat und eine Vielzahl neu geschaffener Behörden das Land auf einen neuen Kurs zu bringen, richtete nicht nur Armstrong den Blick über nationale Grenzen hinaus. Im New Deal spielte die Dimension, sich von der Erfahrung anderer Gesellschaften inspirieren zu lassen, eine größere Rolle als in fast allen Phasen in der Geschichte der USA. Amerikanische Expertinnen und Experten untersuchten den sozialen Wohnungsbau in England, das Genossenschaftswesen in Schweden und den Arbeitsdienst in der Schweiz. Außerdem luden Roosevelt und die New Dealer einige der führenden Köpfe der Welt zu sich ein, um von ihnen zu lernen: Der britische Ökonom John Maynard Keynes und der französische Sozialpolitiker Adrien Tixier sind lediglich zwei von vielen Beispielen. Selbst die Agrarpolitik der Sowjetunion, der Korporatismus im faschistischen Italien und die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Deutschland studierten die New Dealer eingehend. Dabei ging es nie darum, diktatorische Maßnahmen zu übernehmen; auf einer technischen Ebene glaubte man jedoch sehr wohl, von der Politik anderer Staaten lernen zu können.

Durch seine vielen Reformmaßnahmen gelang es dem New Deal nicht, die Wirtschaftskrise gänzlich zu überwinden – dies schafften die USA erst einige Jahre später durch die rüstungsbedingte Sonderkonjunktur während des Zweiten Weltkriegs. Die verschiedenen Initiativen reichten jedoch aus, um das politische und das ökonomische System zu stabilisieren: So schuf der New Deal einen Nationalstaat, der trotz aller Rückschläge und Defizite Riesiges leistete. In einer Zeit, in der die Demokratie weltweit in die schwerste Krise ihrer Geschichte geraten war, bewiesen die Vereinigten Staaten unter Roosevelts Führung ihre Reformfähigkeit und förderten die enormen ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Potenziale, die demokratische Ordnungen entfesseln können. Paradoxerweise entstand so gerade durch den intensiven Austausch mit Wissensbeständen, Praktiken und Personen aus anderen Weltgegenden eine spezifisch amerikanische Antwort auf die globale Doppelkrise von Demokratie und Kapitalismus. Der New Deal legte dem Kapitalismus Zügel an und rettete ihn just dadurch. Roosevelts Politik steht dafür, sich aus einer tiefen Krise durch Mut, Optimismus und Zusammenarbeit zu befreien. In einer Zeit, in der die Sowjetunion sowie rechtsautoritäre und faschistische Regime global das Geschehen zu beherrschen schienen, war es vor allem der New Deal, der das Ansehen demokratischer Ordnungen wiederherzustellen half. Statt sich weiterhin auf die Suche nach erfolgreichen Ansätzen andernorts zu begeben, sah man sich selbst bereits am Ende der Dekade als Vorbild, von dem andere Länder lernen könnten. Der New Deal schuf so einen wesentlichen Teil der gesellschaftlichen und innenpolitischen Voraussetzungen, aufgrund derer sich die Vereinigten Staaten in den 1940er Jahren zur globalen Supermacht aufschwangen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. aus der Fülle der vorhandenen Literatur Eric Rauchway, Why the New Deal Matters, New Haven 2021; Jason Scott Smith, A Concise History of the New Deal, Cambridge 2014; William D. Pederson (Hrsg.), A Companion to Franklin D. Roosevelt, Malden 2011.

  2. Vgl. z.B. John Kenneth Galbraith, The Great Crash 1929, Boston 1997.

  3. Stuart Chase, A New Deal, New York 1932, S. 252.

  4. Walter Lippmann, Interpretations, 1931–1932, New York 1932, S. 261.

  5. Franklin D. Roosevelt, Acceptance Address, in: Samuel I. Rosenman (Hrsg.), Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, Bd. 1, New York 1938, S. 659.

  6. Vgl. Roosevelt, Address at Oglethrope University, in: Rosenman (Anm. 5), S. 646.

  7. Vgl. Roosevelt, First Inaugural Address, in: Rosenman (Anm. 5), S. 11–16.

  8. Vgl. dazu Kiran Klaus Patel, The New Deal. A Global History, Princeton 2016.

  9. Vgl. etwa Gary Gerstle, Liberty and Coercion. The Paradox of American Government from the Founding to the Present, Princeton 2015.

  10. Vgl. dazu zuletzt Gary Gerstle/Nelson Lichtenstein/Alice O’Connor (Hrsg.), Beyond the New Deal Order. U.S. Politics from the Great Depression to the Great Recession, Philadelphia 2019.

  11. Vgl. Patricia Clavin, The Failure of Economic Diplomacy: Britain, Germany, France and the United States, 1931–36, New York 1996.

  12. Vgl. Patel (Anm. 8), S. 121–189.

  13. Vgl. Maury Klein, A Call to Arms. Mobilizing America for World War II, New York 2013; James T. Sparrow, Warfare State. World War II Americans and the Age of Big Government, Oxford 2011.

  14. Vgl. Lawrence W. Levine/Cornelia R. Levine, The Fireside Conversations. America Responds to FDR During the Great Depression, Berkeley 2010.

  15. Vgl. Kiran Klaus Patel, America as an Alternative to European Radicalism? The United States and the Transnational Rise of the Right, in: Marco Bresciani (Hrsg.), Conservatives and Right Radicals in Interwar Europe, London 2021, S. 300–316.

  16. Vgl. Ronald Isetti, The Moneychangers of the Temple. FDR, American Civil Religion, and the New Deal, in: Presidential Studies Quarterly 26/1996, S. 678–693.

  17. Vgl. Alan Brinkley, The End of Reform. New Deal Liberalism in Recession and War, New York 1995.

  18. Vgl. v.a. Ira Katznelson, Fear Itself. The New Deal and the Origins of Our Time, New York 2013.

  19. Vgl. etwa Kirstin Downey, The Woman Behind the New Deal. The Life and Legacy of Frances Perkins, New York 2009.

  20. Vgl. etwa Jill Watts, The Black Cabinett. The Untold Story of African Americans and Politics During the Age of Roosevelt, New York 2020.

  21. Vgl. Barbara Nachtrieb Armstrong, Insuring the Essentials. Minimal Wage, Plus Social Insurance – A Living Wage Program, New York 1932, S. XIV.

  22. Vgl. Patel (Anm. 8).

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ist Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
E-Mail Link: patel@lmu.de